Samstag, 25. Juni 2016

Paradoxa

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2016, über 1.Korinther 1,18-25:

18 Die Rede vom Kreuz erscheint den Verlorenen als Dummheit. Für uns aber, die Geretteten, als Gotteskraft.
19 Denn es steht geschrieben:
„Vernichten will ich die Weiheit der Weisen,
und das Verständnis der Verständigen zunichte machen“ 

(Jesaja 29,14).
20 Wo ist ein Weiser?
Wo ist ein Schriftkundiger?
Wo ist ein Redegwandter dieser Welt?
Hat Gott die Weisheit der Welt nicht als Torheit erwiesen?
21 Denn weil die Welt, obwohl sie von Gottes Weisheit umgeben war, Gott durch Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott, durch die Torheit der Verkündigung die zu retten, die glauben.
22 Denn die Frommen fordern Zeichen, die Skeptiker suchen Weisheit,
23 wir aber verkündigen den gekreuzigten Messias, für die Juden ein Skandal, für die Ungläubigen Blödsinn,
24 für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, ist Christus Gottes Kraft und Gottes Weisheit.
25 Denn das scheinbar Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das scheinbar Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.
(Eigene Übersetzung) 

Liebe Schwestern und Brüder,

„das scheinbar Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das scheinbar Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“.
Dieser Satz ist ein klassisches Paradox, ein Satz, der im Widerspruch zu unseren Erwartungen und Erfahrungen steht: 
Törichtes kann nicht weise sein, 
und Schwäche kann keine Stärke sein.

Vielleicht kennen Sie das verrückte Gedicht:
„Dunkel war's, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur,
als ein Wagen blitzeschnelle
langsam um die Ecke fuhr.
Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschossner Hase
auf dem Sandberg Schlittschuh lief.“
Jeder einzelne Satz dieses Gedichtes ist ein Paradox: 
Es ist dunkel, aber der Mond scheint hell;
alles ist weiß von Schnee, aber zugleich ist es grün, usw.
Solche Widersprüche sind schwer auszuhalten; man versucht, sie sich irgendwie zu erklären. Selbst, wenn sie, wie bei diesem Gedicht, ausgesprochener Blödsinn sind.

I
Ausgesprochener Blödsinn ist für viele auch „die Rede vom Kreuz“ - das, was die Evangelien über Tod und Auferstehung Jesu berichten, und was beide für uns bedeuten sollen.
Wohl jede und jeder hat sich darum gemüht oder müht sich noch, das in der Schule gelernte Wissen darüber, wie diese Welt funktioniert, mit dem in Einklang zu bringen, was die Bibel erzählt. Es geht nicht. Das, was die Geschichten des Glaubens erzählen, ist wider alle Vernunft. In unserer Welt kann niemand Tote lebendig machen, über's Wasser gehen, einen Sturm durch Worte stillen, Blinde mit Spucke sehend machen und nach drei Tagen im Grab auferstehen.

Wie bei allen Paradoxa gab es auch bei den biblischen Geschichten unzählige Versuche, sie zu erklären, sie irgendwie mit unserer Wirklichkeit zu versöhnen. Diese in bester Absicht unternommenen Versuche, die Wunder zu erklären, den Glauben mit Argumenten gegen Skeptiker und Lästerer zu verteidigen, verfehlten auf tragische Weise ihr Ziel. Die Wunder wollen nämlich garnicht erklärt werden. Sie wollen Wunder sein und als solche verstanden werden, weil der Glaube in einem wunderbar paradoxen Verhältnis zu unserer Wirklichkeit steht.

II
Im Gegensatz zu den Skeptikern, die versuchen, das Paradox zwischen Glaube und Wirklichkeit wegzuerklären, gehen die Frommen den entgegengesetzten Weg der Unterwerfung unter das Paradox: Gottes Macht und Gottes Geheimnis, sagen sie, seien zu groß, als dass wir kleinen Menschlein es ergründen und verstehen könnten - im Gegenteil: Schon der Versuch ist eine Anmaßung und ein Zeichen mangelnden Glaubens. Wir können und dürfen nicht wissen, wir sollen glauben - das zeichnet wahre Frömmigkeit aus. Früher nannte man das ein „sacrificium intellectus“, ein Opfer des Verstandes. Tatsächlich muss man, um all die Geschichten der Bibel wörtlich verstehen und glauben zu können, sein Gehirn an der Garderobe abgegeben haben.

Aber auch diese, nach eigenem Verständnis wahrhaft fromme Haltung verfehlt ihr Ziel in tragischer Weise. Denn auch das wollen die biblischen Geschichten nicht: für bare Münze genommen zu werden. Sie sind immer schon als Geschichten erzählt und gehört worden. 
Einer Geschichte kommt es nicht darauf an, genau und wahrheitsgemäß zu berichten, was passiert ist. Eine Geschichte will eine Wahrheit vermitteln, die jenseits des und über dem Erzählten liegt. Eine Wahrheit, die sich beim Hören erschließt und unmittelbar einleuchtet, wenn man sich auf die Geschichte einlassen kann.

III
Trotzdem wollen wir natürlich verstehen. 
Wenn die Paradoxa der biblischen Geschichten so sinnlos wären wie in dem Gedicht die sitzend stehenden Fahrgäste und der schlittschuhlaufende Hase, dann gäbe es keine Wahrheit zu entdecken. Wenn aber, wie wir glauben, die biblischen Geschichten nicht sinnlos sind, sondern eine Wahrheit enthalten, dann müssen wir überlegen, wie sich die Widersprüche auflösen lassen.

Dabei stellen wir fest: Die Widersprüche der biblischen Geschichten sind notwendig. 
Sie sind notwendig, weil der Glaube immer und immer schon im Widerspruch zur Welt steht. Denn die Welt befindet sich im Gegensatz zu Gott; es gehört zu ihrem und unserem Wesen, dass sie Gott widerspricht.

Es macht unser Menschsein aus, dass jede und jeder seinen eigenen Kopf und Willen hat - schon als Kind versucht man, ihn durchzusetzen. Diesen Willen darf man niemals brechen wollen - er macht uns zu denen, die wir sind. Aber er widerspricht eben immer auch dem, was Gott für uns und für seine Welt will. 
Glaube stellt den Versuch dar, diesen Widerspruch zwischen Gott und Welt zu überwinden.

Aus eigener Kraft können wir das nicht. Auch darum sind die Widersprüche in den Geschichten der Bibel notwendig: Sie wahren das Geheimnis Gottes und verhindern, dass wir über Gott verfügen. Das Paradox reißt einen garstigen Graben auf zwischen Gott und der Welt; einen Graben, den wir nicht überspringen können.

IV
Wenn hier unsere Welt und dort Gott ist, und beide vom garstigen Graben der Paradoxa getrennt sind - wie können wir dann überhaupt glauben?
Die Menschwerdung Gottes hat die Widersprüche aufgelöst.
Indem Gott einer von uns wurde, hat er von sich aus den garstigen Graben übersprungen, der uns von ihm trennt.

Hören wir noch einmal den letzten Satz des Predigttextes:
„Das scheinbar Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das scheinbar Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“.
Im Satz davon bezeichnet Paulus Jesus als „Gottes Kraft und Gottes Weisheit“.
Auch dieser Satz ist ein Paradox. Ein Mensch, der hilflos den erbärmlichen Tod am Kreuz stirbt, ist alles andere als ein Zeichen von Kraft. Und die wunderlichen Reden Jesu, dass, wer seinen Mitmenschen beschimpft, sich des Mordes schuldig macht, und wer als Mann eine Frau auch nur ansieht, schon Ehebruch begangen hat, sind alles andere als ein Zeichen von Weisheit.

Wenn Paulus aber betont, dass gerade darin Gottes Kraft und Weisheit liegen, hat er offenbar ein ganz anderes Verständnis von Kraft und Weisheit als wir.

V
Wenn Jesu Tod am Kreuz ein Zeichen von Stärke sein soll, was für eine Art Stärke kann das sein?

Als die Inder unter der Führung von Mahatma Gandhi um ihre Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren kämpften, zwang Gandhi sie zum Verzicht auf jegliche Gewalt. Sooft dieses Prinzip durchbrochen wurde, bestrafte Gandhi sich und seine Anhänger, indem er so lange fastete, bis die Demonstranten zur Gewaltlosigkeit zurückkehrten. Das kostete ihn einmal fast das Leben.
Unzählige Demonstranten wurden von britischen Soldaten brutal niedergeknüppelt, schwer verletzt, sogar getötet, aber niemand wehrte sich. Diese konsequente Gewaltlosigkeit isolierte die Briten international immer mehr, so dass sie schließlich den Indern die Unabhängigkeit gewähren mussten.

Jesus starb am Kreuz, um damit der Liebe zum Sieg zu helfen und sie, wie Gandhi die Gewaltlosigkeit, zu unserer einzigen, mächtigsten Waffe zu machen. Nach weltlichen Maßstäben ist er damit gescheitert. Doch nach den Maßstäben des Glaubens hat Jesus mit seiner Auferstehung bewiesen, dass die Liebe mächtiger ist als der Tod, und damit die stärkste Macht auf Erden. Deshalb ist das scheinbar Schwache an Gott, seine grenzenlose, unbedingte Liebe, stärker als die Menschen. Denn die Liebe, die der Gewalt, dem Hass, der Feindschaft unterliegt, überlebt und triumphiert doch am Ende über sie.
Ebenso verhält es sich mit der Torheit:
Indem die Liebe über alle Vernunft gestellt wird, erweist sich das scheinbar Törichte an Gott als weiser als die Menschen, die mit ihrem berechnenden Wesen die Welt nicht schöner und die Menschen nicht besser machen, sondern Leben und Umwelt zerstören.

VI
Es gibt noch einen Grund, warum die biblischen Geschichten unserer Wirklichkeit widersprechen: Sie verweigern sich auf diese Weise unserem berechnenden Denken.
Mit den biblischen Geschichten ist es wie mit Romanen oder Märchen, wie mit allen guten Geschichten: Man muss hineinspringen, sich von ihnen fesseln lassen, um ihre Wahrheit zu erfahren. Dazu muss man zunächst einmal die Widersprüche geduldig aushalten, bis sie sich von selbst auflösen.
Dass die Geschichten der Bibel uns ansprechen und einleuchten, kann man nicht „machen“ und nicht erzwingen. 
Man kann nur hoffen, dass wir den Schritt, den Gott über den garstigen Graben machte, als einen Schritt auf uns zu erfahren.
Amen.

Freitag, 24. Juni 2016

Buße als Lebenshaltung

Leonardo da Vinci [Public domain], via Wikimedia Commons

Liedpredigt am Johannistag, 24. Juni 2016, über EG 141 "Wir wollen singen ein Lobgesang"

Liebe Schwestern und Brüder,

die Reformation hat die Heiligenverehrung abgeschafft. 
Trotzdem feiern wir heute den Geburtstag Johannes des Täufers. Wie geht das zusammen?
Nun, wir denken an Johannes nicht als einen Heiligen. 
Wir erwarten keine Hilfe und kein Wunder von ihm, 
und wir möchten auch nicht, dass er bei Gott ein gutes Wort für uns einlegt.

Wir denken an Johannes den Täufer als einen Vorläufer und Wegbereiten. Darum feiern wir heute seinen Geburtstag: Weil er das Kommen Christi angekündigt und durch seinen Ruf zur Buße vorbereitet hat. 
So beschreibt es das Lied zum Johannistag, das ich mit Ihnen singen und bedenken möchte. 
1. Wir wollen sing'n ein' Lobgesang Christo dem Herrn zu Preis und Dank, der Sankt Johann vorausgesandt, durch ihn sein' Ankunft macht bekannt.

I
„Wir wollen sing'n ein' Lobgesang“.
Wollen wir das eigentlich wirklich?
Ist Ihnen schon aufgefallen, dass viele Gesangbuchlieder uns ohne zu fragen, heimlich, still und leise etwas unterjubeln? „Wir wollen alle fröhlich sein …“; „Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen …“; „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“, um nur einige Beispiele zu nennen. Ganz schön dreist, diese Lieder: uns einfach Worte in den Mund zu legen, ohne zu fragen, ob uns das überhaupt recht ist, ob uns überhaupt nach Fröhlichkeit ist … 

Es geht ja aber auch einfach zu schnell: 
Bevor wir darüber nachdenken können, was wir da eigentlich singen, singen wir es bereits, und dann - - - 
ja, dann passiert etwas eigenartiges: 
Wir werden fröhlich. 
Wir loben Gott aus vollem Herzen. 
Wir lieben Gott. 
Wovon die Lieder singen, passiert, wenn wir ihre Worte in den Mund nehmen und aussprechen. 
Wir singen sie uns vor, und wir singen sie uns gegenseitig zu. 
Wir singen uns Mut und Trost zu, Freude oder Glauben, - 
auch, wenn wir uns selbst gerade nicht mutig oder fröhlich fühlen, 
wenn wir selbst Trost oder Glauben suchen. 
Durch den Umweg über das Singen kommen Mut und Trost, Freude und Glaube auch zu uns.

Die Lieder legen uns Worte in den Mund, und wir sprechen sie nach - so, wie man Vokabeln vor sich hinmurmelt, um sie auswendig zu lernen. 
Eins dieser Worte, die wir uns auf diese Weise aneignen, lautet: 
Christus hat Johannes vorausgesandt.
Das ist ja nun nicht besonders toll - nichts, was man sich ins Poesiealbum schreibt; keine Lebensweisheit, die man sich merkt und beherzigt.
Christus hat Johannes vorausgesandt - das ist, ehrlich gesagt, ziemlich langweilig und bedeutungslos.

Aber in der Reformationszeit, in der dieses Lied gedichtet wurde, ließ dieser Satz keinen Zweifel aufkommen, woher der Wind weht: 
Johannes wird nicht verehrt, weil er ein „Heiliger“ ist. 
Sondern weil Jesus ihn gesandt hat, darum denken wir heute an Johannes den Täufer. 
„Solus Christus“, sagten die Reformatoren dazu, allein Christus soll der Maßstab sein. 
Wir sollen uns nicht nach den Heiligen richten - so vorbildlich ihr Leben gewesen sein mag.
Das klingt nach theologischer Spitzfindigkeit, das hat doch mit unserem Alltag nichts zu tun. 
Aber manchmal kommt es eben auf solch kleine, unscheinbare Details an: 

In der Zeit des Nationalsozialismus z.B. gab es nicht wenige Menschen, die in Adolf Hitler eine Art „Messias“ sahen, die ihm blind vertrauten und wahre Wunder von ihm erwarteten - und die hinterher erkennen mussten, dass sie einem skrupellosen Verbrecher und Massenmörder gefolgt waren. 
Hätte man sich damals daran gehalten, dass nur Christus beanspruchen kann, unser „Führer“ zu sein - solus Christus, eben -, wäre man vielleicht nicht so leicht auf den Verführer Hitler hereingefallen.

Natürlich, hinterher ist man immer schlauer. 
Zum Glück sind wir heute klüger, weil wir aus der Geschichte gelernt haben. 

Weit gefehlt! Noch heute laufen Menschen in Massen einem „Führer“ hinterher, wenn er nur überzeugend genug behauptet zu wissen, wo's langgeht - man schaue nur hinüber in die USA, wo der verrückte Demagoge Donald Trump so viele Anhänger um sich sammelt, dass ihm Chancen auf die Präsidentschaft eingeräumt werden.

Das Lied über den Täufer Johannes gibt uns schon in der ersten Strophe viel zu denken. 
Wer über seinen Text nachdenkt, den warnt es davor, den falschen Führern nachzulaufen. 
Mal sehen, was die nächste Strophe so zu bieten hat:
2. Die Buß' er predigt in der Wüst': „Euer Leben ihr bessern müsst, das Himmelreich kommt jetzt herbei, tut rechte Buß' ohn' Heuchelei!“

II
Die zweite Strophe zitiert, was die Evangelien als Botschaft Johannes des Täufers überliefern: 
„Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“
Das Wort „Buße“ umschreibt das Lied so: 
„Euer Leben ihr bessern müsst“.

„Euer Leben ihr bessern müsst“ - wenn wir uns das so zusingen, dann sagen wir uns ja eigentlich gegenseitig: 
Dein Leben ist nicht in Ordnung ist so, wie es ist. 
Da kommt man ins Grübeln: 
Haben wir das Recht, uns das gegenseitig vorzuhalten? 
Ist unser Leben etwa nicht in Ordnung?
Wenn ich mir mein Leben so ansehe: 
Als braver Bürger zahle ich meine Steuern, lasse mir nichts zuschulden kommen, fahre höchstens mal ein bisschen schneller als erlaubt. 
Was sollte an meinem Leben nicht in Ordnung sein?

Das Lied benennt es: „Tut rechte Buß' ohn' Heuchelei“.
Sollten wir etwa alle Scheinheilige sein?
Jesus kritisierte, dass einige sich und ihren Glauben für etwas Besonderes hielten; dass sie ihr Fasten oder ihre Spendenbereitschaft besonders zur Schau stellten, oder lautstark und wortreich beteten, kurz: dass sie sich in Glaubensdingen wie der portugiesische Fußballer Ronaldo verhielten.
Aber so sind wir doch nicht!? 
Uns könnte man eher vorwerfen, dass wir in Glaubensdingen zu zurückhaltend sind. Dass wir oft einen Bogen um die Kirche machen und froh sind, wenn man uns nicht ansieht, dass wir Christen sind.
Aber auch das ist ja keine Heuchelei.

Heuchelei ist es z.B., wenn unsere Regierung mit anderen Ländern Verträge schließt, damit Flüchtlinge gar nicht erst zu uns durchkommen. 
Heuchelei ist es z.B., auf's Christentum zu pochen, aber sich mit dem Nachbarn nicht versöhnen zu wollen. 
Heuchelei ist es z.B., wenn man sagt: „Ich kann ja doch nichts ändern“ und dabei denkt: Darum mache ich fröhlich weiter wie bisher - alle anderen machen's ja auch.
Heuchelei ist es z.B., wenn man gegen Kinderarbeit und Gentechnik ist, aber die Kleidung und das Gemüse schön billig sein sollen.

Diese Art Heuchelei meint Johannes, und wir müssen uns von ihm fragen lassen, ob wir uns so, wie wir leben, wirklich nichts vorzuwerfen haben. Ob es wirklich nichts gibt, was wir bedauern und ändern sollten.

3. Man fragt ihn, ob er Christus wär. „Ich bin's nicht, bald wird kommen er, der lang vor mir gewesen ist, der Welt Heiland, der wahre Christ.“
4. Er zeigt' ihn mit dem Finger an, sprach: „Siehe, das ist Gottes Lamm, das trägt die Sünd' der ganzen Welt, sein Opfer Gott allein gefällt.
5. Ich bin viel zu gering dazu, dass ich auflösen sollt' sein' Schuh'; taufen wird er mit Feu'r und Geist, wahrer Sohn Gotts er ist und heißt.“

III
In den drei Strophen, die wir gerade sangen, weist Johannes sehr nachrücklich auf Christus hin. Man kann das schön auf der Darstellung des Johannes von Leonardo da Vinci sehen, wie Johannes auf das Kreuz an der Spitze seines Stabes zeigt und unsere Blicke darauf lenkt. 

Das Kreuz ist ein Symbol für das, was Jesus für uns tat: 
Jesus hat sich stellvertretend für uns wegen einer Schuld hinrichten lassen, die er nicht beging. 
Er hat sich als Unschuldiger zum Sündenbock machen lassen, damit wir niemandem mehr die Schuld in die Schuhe schieben müssen. 
Er hat uns damit gezeigt, dass man auch ohne Schuldzuweisung und Sündenböcke leben kann.

Aber mit den Sündenböcken ist es wie mit den Führern: 
Wie wir nur allzu gern einem starken Mann folgen, so machen wir auch nur allzu gern andere verantwortlich, wenn etwas schief läuft. 
Und meistens sind es die, die „anders“ sind: 
die Schwachen, die „Unnormalen“, die Fremden, 
die zu Sündenböcken werden. 
Wer ist schuld an der Arbeitslosigkeit, an der schlechten Altersversorgung, an der unsicheren Zukunft? 
Natürlich die Ausländer! 
Früher waren es die Juden, 
heute sind es Muslime oder Flüchtlinge, 
die zuerst ins Visier geraten, wenn man nach einem Schuldigen sucht.
Auch das ist ein Grund zur Buße: Dass wir immer wieder Menschen zu Sündenböcken machen.

Johannes der Täufer zeigt auf das Kreuz, das zum Hoffnungszeichen wurde.
Jesus hat durch seinen Tod an diesem Kreuz nicht nur den Sündenbockmechanismus ausgehebelt.
Er hat auch die Mechanismen von Schuld und Sühne ausgehebelt: 
Wir sind nicht mehr „schuld“ am Elend dieser Welt, 
nicht mehr „schuld“ an unserem Verhältnis zum Nachbarn, 
zur Partnerin oder zum Partner, zu den Kindern. 
Wir sind verantwortlich dafür: 
Es liegt an uns, dieses Verhältnis zu gestalten. 
Aber dafür ist es gleichgültig, 
was wir früher taten oder nicht taten. 
Was allein zählt ist, was wir jetzt tun: 
Was machen wir in diesem Augenblick? 
Was machen wir aus diesem Augenblick? 
Ergreifen wir die Gelegenheit, oder lassen wir sie verstreichen?
Es ist nicht leicht, in solchen Momenten die richtige Entscheidung zu treffen. Vielleicht kann uns die letzte Strophe des Liedes dabei helfen:
6. Wir danken dir, Herr Jesu Christ, des' Vorläufer Johannes ist; hilf, dass wir folgen seiner Lehr', so tun wir dir die rechte Ehr'.

IV
In der letzten Strophe des Liedes bitten wir wie in einem Gebet: „Hilf, dass wir folgen seiner Lehr'“.
Was lehrte Johannes? „Tut Buße“.
Martin Luthers 95 Thesen, mit denen er den Anstoß zur Reformation gab, fragen danach, was „rechte Buße“ ist. 
So lautet die erste der 95 Thesen:
„1. Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße (Matthäus 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“
Buße kann man sich nicht erkaufen; sie muss zu einer Lebenshaltung werden: Das ganze Leben soll Buße sein. 
Nicht, weil wir alle so schlechte Menschen sind. 
Sondern weil wir nun einmal alle Menschen sind, die manchmal sehr unmenschlich sein können. 
Darum verlangt Luther:
„42. Man muss die Christen lehren: Es ist nicht die Meinung des Papstes, dass der Kauf von Ablass in irgendeiner Hinsicht den Werken der Barmherzigkeit gleichzustellen sei.
43. Man muss die Christen lehren: Dem Armen zu geben oder dem Bedürftigen zu leihen ist besser, als Ablass zu kaufen“.
Buße kann man nicht kaufen.
Es ist auch keine Buße, wenn man sich ständig schlecht und als Sünder fühlt.
Buße ist eine Lebenshaltung: 
Buße heißt, man braucht nicht mehr an sich zu denken, 
weil man nicht mehr „schuld“ ist - das Schuld sein hat Christus für uns übernommen.
Buße heißt, man braucht nicht mehr an sich zu denken, 
weil man Angst hat, zu kurz zu kommen - die Fülle des Lebens, den Sinn unseres Lebens hat Christus uns längst geschenkt.

Darum bedeutet Buße als Lebenshaltung: barmherzig sein.
Das Wort „barmherzig“ kommt von „warmherzig“.
Das warme Herz ist das Gegenteil des kalten Herzens, des steinernen Herzens.
Warum ist Barmherzigkeit Buße?

Weil man erst einmal lernen muss, mit sich selbst barmherzig zu sein:
Sich seine Fehler und Schwächen zu vergeben und sich anzunehmen, wie man nun einmal ist - mit genau dem Körper, den man hat, mit seiner Vergangenheit, mit all den Fehlern, die man machte, 
den falschen Entscheidungen und verpassten Gelegenheiten. 
Nur, wer lernt, zu sich selbst barmherzig zu sein, kann auch mit anderen barmherzig sein.
Das ist die Buße, die Johannes der Täufer predigt und die Gott gefällt.
Amen.

Samstag, 18. Juni 2016

Sünder sein!

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 12. Juni 2016, über 1.Timotheus 1,12-17:

Ich danke Christus Jesus, unserm Herrn, der mich stark gemacht hat, dass er mich für zuverlässig befand und mir das Apostelamt anvertraute.
Früher war ich ein Lästerer und Verfolger und Gewaltmensch, aber mir ist Erbarmung widerfahren, denn ich handelte unwissend, aus Unglauben.
Aber die Gnade des Herrn war überreich vorhanden mit Glaube und Liebe in Christus Jesus.
Der Satz stimmt und verdient alle Anerkennung: „Christus Jesus kam in die Welt, um die Sünder zu retten“. Ich bin der erste von ihnen.
Deshalb aber hat er sich meiner erbarmt, damit Christus Jesus an mir als erstem die ganze Langmut zeigte, ein Muster für die, die an ihn glauben werden zum ewigen Leben.
Ihm aber, dem ewigen Herrscher, dem unvergänglichen, unsichtbaren, einen Gott, sei Ehre und Ruhm von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.
(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/1_Timotheus_1)

Liebe Schwestern und Brüder,

jede Zeit hat ihre Helden.
Im Augenblick sind es die 23 Fußballer, die unser Land bei der Fußball-EM vertreten: 
Özil und Müller, Schweinsteiger und Khedira.
Im Moment sind das unsere Helden, und wie werden wir sie feiern, falls sie mit dem Pokal nach Hause kommen!

Jede Zeit hat ihre Helden.
Juri Gagarin, der erste Mensch im Weltall, galt als Held. Oder der Boxer Muhammad Ali, der Anfang Juni gestorben ist. 
Mutter Theresa galt als Heldin, oder Mahatma Gandhi, obwohl der so gar nichts Heldenhaftes hatte.

Die katholische Kirche nennt ihre Helden Heilige. 
Elisabeth von Thüringen oder Franz von Assisi werden nicht nur von Katholiken verehrt.
Die evangelische Kirche hat die Heiligen abgeschafft, aber ganz ohne geht es auch nicht. Deshalb kommt nächstes Jahr Martin Luther ganz groß raus. Neben ihm gibt es noch ein paar andere, die schon fast zu Heiligen geworden sind: Dietrich Bonhoeffer, Johann Hinrich Wichern, oder Nicolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.

I
Jede Zeit hat ihre Helden.
Auch der Predigttext stellt uns einen Helden vor, und er lässt ihn sogar selber sprechen. Dabei war Paulus lange tot, als der 1. Timotheusbrief geschrieben wurde. Ein Schüler des Paulus, oder der Schüler eines seiner Schüler, hat ihm diese Worte in den Mund gelegt. Paulus selbst hätte sich z.B. nie als „ungläubig“ bezeichnet. So oft und an so vielen Stellen betont er, dass er ein frommer, gesetzestreuer Pharisäer war - so fromm und gesetzestreu, dass er sogar die Christen verfolgte, bis Jesus ihm vor Damaskus erschien.
Diese Begegnung veränderte Paulus, und sie veränderte alles für Paulus: von einem Verfolger wurde er zu einem Verfechter des Christentums, zum ersten Theologen der jungen Kirche. Er hat unseren Glauben entscheidend gestaltet und geprägt - und das, obwohl er ihn nur aus zweiter Hand kennen gelernt hatte.
Insofern könnte man Paulus durchaus unter die Helden zählen, wären da nicht seine ärgerlichen und ungerechten Äußerungen über die Rolle der Frau in der Gemeinde.
Der Predigttext jedenfalls macht Paulus zum Helden, indem er ihn den „ersten Sünder“ nennt, der von Christus gerettet wurde, und ihn als „Muster“ für alle Gläubigen hinstellt. So, wie Paulus, so sollen auch wir sein und glauben.

II
Wenn wir für einen Moment seine frauenfeindlichen Äußerungen beseite lassen und uns auf den Versuch des Predigttextes einlassen, uns Paulus als Vorbild und Helden darzustellen, kann man schon ins Staunen geraten: 
Ich war ein Lästerer und Verfolger und Gewaltmensch“. „So“ einer soll uns ein Vorbild sein?
Oder, dass Paulus als „erster Sünder“ geradezu gepriesen wird - ist das etwas vorbildlich?
Immerhin: Martin Luther, auch ein Paulusschüler, hat den Satz geprägt: „pecca, sed pecca fortiter“ - „sündige, aber sündige tapfer“.
Wollen diese beiden, Paulus und Luther, uns etwa zu einem unmoralischen Lebenswandel verführen? (Nicht, dass das sehr schwierig wäre …)
Wollen sie alles verdrehen, das Gute schlecht und das Schlechte gut nennen?
Sicher nicht.
Aber warum ist Paulus dann als großer Sünder unser Vorbild, und nicht als großer Heiliger?
Warum rät Luther dazu, tapfer zu sündigen, und nicht dazu, jeden Tag sein Bestes zu geben und ein guter Mensch zu sein?

III
Der Glaube hat eine ganz andere Logik als die, die wir in der Schule kennen lernten. In gewisser Weise verdreht er die Dinge, oder stellt sie auf den Kopf. Z.B. wird Paulus nicht seiner Leistungen wegen zum Vorbild erklärt, sondern weil er als großer Sünder Gottes Erbarmen fand.
Überhaupt gelten Leistungen, gute Noten oder gutes Betragen dem Glauben nichts - oder nicht so viel, wie sie uns in unserem Alltag gelten. Schon Jesus hat sich nicht mit tugendhaften Menschen umgeben, mit Künstlern, Philosophen, Wohltätern. Er lud sich bei Halsabschneidern ein, verkehrte mit Prostituierten und Leuten, die aus der Gemeinde ausgeschlossen worden waren. Jesus war kein Moralapostel - die traten erst nach seinem Tod auf den Plan, als die Christen gesellschaftsfähig werden wollten. Schon Paulus verrät seine Glaubensüberzeugung, dass kein Unterschied sei zwischen Mann und Frau, Juden und Heiden, Sklaven und Freien (Galater 3,28), wenn er den Frauen rät, sich zu verschleiern und den Männern unterzuordnen, weil das in der damaligen Gesellschaft so üblich war (und heute noch nicht wesentlich anders ist). Mit diesem Verrat an seinen eigenen Überzeugungen legte Paulus den Grundstein für eine zweitausendjährige Unterdrückung der Frauen in der Kirche.
Insofern können wir das so stehen lassen, dass Paulus ein großer Sünder war. Aber warum sollen wir Sünderinnen und Sünder werden bzw. sein?

IV
Wenn Jesus kein Moralapostel war, und Paulus eigentlich auch nicht, dann ist mit „Sünde“ kein moralisches Fehlverhalten gemeint: 
Es ist keine Sünde, sein Kaugummi auf den Gehweg zu spucken oder unter den Tisch zu kleben, auch wenn es eklig ist.
Es ist keine Sünde, falsch zu parken oder zu schnell zu fahren, auch wenn man das nicht darf.
Es ist keine Sünde, Kirschen zu klauen und, wenn man erwischt wird, alles abzustreiten.
Ab wann ist Diebstahl eine Sünde?
Ab wann, zu lügen, sich gegen die Eltern aufzulehnen?
Sicher ist es eine Sünde, einen Menschen zu töten.
Aber wenn es ein Unfall war? Wenn es im Krieg geschah, oder aus Notwehr?

Jesus sagt in der Bergpredigt, dass jemand, der zornig auf eine/n andere/n ist oder gar schimpft, gegen das fünfte Gebot verstößt: du sollst nicht töten (Matthäus 5,21-26). Und wenn ein Mann eine Frau auch nur ansieht, hat er bereits gegen das sechste Gebot verstoßen: du sollst nicht ehebrechen (Matthäus 5,27-32).
Mit dieser übertriebenen Auslegung macht Jesus es unmöglich, selbst die zehn Gebote zu erfüllen. Und das ist genau seine Absicht. 
Jesus, Paulus und Luther teilen die Überzeugung, dass der Mensch nicht nicht sündigen kann. Alle drei zerstören nach Kräften unseren Glauben, wir könnten gute Menschen sein, ein anständiges, gottgefälliges Leben führen.
Sie tun das nicht aus Bosheit.
Sie tun es aus Liebe zu uns.
Denn wohin es führt, wenn man immer nur leisten muss, immer besser, schöner, klüger werden muss, das erleben und erleiden wir täglich aufs Neue.
Wir scheitern täglich daran, gut zu sein, und wir werden davon immer trauriger.
Indem Jesus, Paulus und Luther uns jede Hoffnung nehmen, aus eigener Kraft gute Menschen sein zu können, wollen sie uns gerade Hoffnung machen, indem sie uns quasi mit der Nase auf Gott stoßen: Gott macht uns zu guten Menschen. Von Gott sollen wir alles erwarten, so, wie Paulus bei seinem Erlebnis vor Damaskus die Kraft empfing, die sein ganzes Leben änderte.

V
„Christus kam in die Welt, um die Sünder zu retten“. Dass wir diesen Satz als wahr erkennen, und dass wir ihn beherzigen: das will der Predigttext erreichen. 
Dabei geht es ihm nicht darum, uns zu armen, kleinen Sünderlein zu machen, uns klein zu machen und zu demütigen. 
Vielmehr geht es ihm darum, dass wir uns für die richtige Seite entscheiden:
Stehen wir auf der Seite der Macher, der Gewinner, der Self-made-men, wie Donald Trump sie repräsentiert? Auf der Seite derer, die es geschafft, die es zu etwas gebracht haben, die alles haben und nichts brauchen?
Oder stehen wir auf der Seite der Verlierer, der Versager, derer, die nichts haben und nichts taugen?

Wenn man mich fragte: auf keiner von beiden. Muss man sich denn unbedingt für eine Seite entscheiden? Sie sind beide nicht verlockend. So ein egomaner Egoist wie Donald Trump möchte ich nicht sein. Aber ich möchte auch nicht als Versager oder Verlierer gelten, möchte nicht, dass man schlecht von mir denkt, mit dem Finger auf mich zeigt.
Gibt es denn keinen Mittelweg? Die Mitte zwischen beidem, das wäre genau das richtige: Erfolgreich, aber nicht eingebildet; wohlhabend, aber nicht geizig; es zu etwas bringen, aber ohne dabei auf die herabzusehen, die es nicht geschafft haben - geht das nicht?

Ich fürchte, diese vielbeschworene Mitte, um die die Parteien so sehr buhlen und die immer kleiner wird, je weiter die Schere zwischen Arm und Reich auseinander klafft: diese Mitte gibt es gar nicht.
Ich fürchte, wir werden uns entscheiden müssen, ob wir auf die eigene Macht und Leistung vertrauen, oder ob wir uns eingestehen, dass wir im Prinzip nicht besser sind als all die Verlierer und Verlorenen unserer Gesellschaft.

Das Wort „Sünder“ ist kein moralischer Begriff, der Menschen abstempelt in gut und böse. Er ist eine Eigenschaft wie unser aufrechter Gang oder unser großes Gehirn, eine Eigenschaft, die wir weder ablegen noch loswerden können: „Sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten“, schreibt Paulus (Römer 3,23). Wer das erkennt, der denkt nicht schlechter über andere als über sich selbst; der hält sich nicht für etwas Besseres.

VI
„Christus hat sich meiner erbarmt“. Damit wir diesen Satz einsehen, verstehen und nachsprechen können, sollen wir uns den „Sünder“ Paulus zum Vorbild nehmen. 
Erst, wenn wir erkennen und uns eingestehen, dass auch wir nur lauter arme, kleine Würstchen unter vielen andern armen, kleinen Würstchen sind - erst dann können wir begreifen, was Jesus für uns tat, als er uns zu seinen Schwestern und Brüdern machte.
Erst, wenn wir unseren Dünkel verlieren und Menschen nicht mehr nach ihrem Äußeren, nach dem, was andere über sie erzählen oder nach unseren Vorurteilen und unserer vorgefassten Meinung über sie beurteilen, erst dann erfahren und begreifen wir, was Barmherzigkeit ist. Erst dann können wir auch mit uns selbst barmherzig sein, mit unseren Fehlern und Schwächen.

Solange wir Sünde nur als moralische Verfehlung sehen und verstehen wollen und nicht als eine Eigenschaft, der wir aus eigener Kraft nicht entkommen können, so lange verschließen wir die Augen vor der Realität: dass Gott uns nur helfen kann, wenn wir uns und ihm unsere Hilflosigkeit eingestehen.

Wir sind bereits gerettet.
Aber dass wir gerettet sind, begreifen wir erst, wenn wir einsehen, wie verloren wir waren.
Deshalb ist Paulus, der Sünder, ein Vorbild für uns.
Das Vorbild, das wir brauchen.
Amen.

Donnerstag, 2. Juni 2016

Der Traum von der Aufhebung der Unterscheidungen

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 5. Juni 2016, über Epheser 2,17-22:

17 Christus ist gekommen und hat Frieden verkündigt euch, den Fernen, und Frieden den Nahen.
18 Denn durch ihn haben wir beide in einem Geist Zugang zum Vater.
19 Also seid ihr nicht mehr Fremde und Beisassen, 
sondern ihr seid Mitbürger der Heiligen und Gottes Mitbewohner,
20 erbaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, 
dessen Eckstein Christus Jesus ist,
21 durch den der ganze Bau zusammengeführt wird 
und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn,
22 durch den auch ihr zusammengebaut werdet zu einer Wohnung Gottes im Geist.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

wo Menschen zusammenwohnen, geht es nicht immer friedlich zu. Wer als Soldat in der Kaserne, als Azubi im Wohnheim oder als Studentin in einer WG gewohnt hat; wer zur Untermiete oder in einem Mietshaus wohnte oder wohnt, kennt das und kann ein Lied davon singen. Unterschiedliche Lebensgewohnheiten und -rhythmen zusammenzubringen, kann so anstrengend sein! Da übt der eine Klavier, wenn die Nachbarin von der Nachtschicht nach Hause kommt und schlafen will. Da feiert die andere eine wilde Party, doch der Nachbar hat morgen früh einen wichtigen Termin. Da muss die dritte für eine Prüfung lernen, während der Nachbar auf seinem Recht besteht, laut Musik zu hören. Und in der vierten Familie ist der kleine Schreihals nach stundenlangem Weinen endlich eingeschlafen, da wirft der Nachbar den Rasenmäher an …

Es grenzt an ein Wunder, dass das Zusammenleben unter einem Dach überhaupt funktioniert, wo es so viele Gelegenheiten gibt, sich in die Haare zu kriegen: Wer mit der Hauswoche oder dem Müll dran ist; dass der Hund sein Geschäft nicht im Garten verrichten darf; wo Fahrräder oder Kinderwagen abzustellen sind; wie man den Müll trennt; wer den Parkplatz benutzen darf.
Ohne Humor, ohne Gutmütigkeit und Geduld kann das Zusammenleben nicht funktionieren. Wo sie fehlen: Wo, statt die Dinge mit Humor zu nehmen, Haare gespalten werden; wo man über jeden Fehler Buch führt und jede Kleinigkeit aufrechnet, statt mal ein Auge zuzudrücken; wo sofort kritisiert wird, statt geduldig zu sein, kommt es schnell zum Streit, der manchmal sogar in einen Kleinkrieg ausartet.

I
Wo mehrere Parteien unter einem Dach wohnen, gibt es Krach - das ist im großen Haus Europa nicht anders als im Mietshaus. Besonders in jüngster Zeit, seit viele Flüchtlinge sich vor den Toren unseres gemeinsamen europäischen Hauses drängen und um Aufnahme und einen Platz zum Leben bitten. Viele können sich nicht vorstellen, mit diesen Fremden zusammenzuleben, manche weigern sich von vornherein, solche Leute, die anders reden, anders aussehen, sich anders kleiden als wir, zu Nachbarn zu haben. Wie vehement und brutal sie dieser Weigerung Ausdruck geben, haben wir oft in den Nachrichten sehen müssen. Dazu gehören auch Aussagen wie die, dass man den Fußballer Jerome Boateng nicht zum Nachbarn haben will. Er ist, wohlgemerkt, Deutscher. Aber er hat eine dunkle Haut, und das scheint hier den Ausschlag zu geben. Leute, die andere Menschen aufgrund eines äußeren Merkmals abwerten, wie z.B. der Hautfarbe, nennt man übrigens Rassisten. Aber es ist nicht nur die Hautfarbe, die manchen nicht passt. Andere, Männer vor allem, meinen, dass es Berufe und Ämter gibt, die Frauen nicht zustehen; solche Leute nennt man Chauvinisten. Wieder andere haben eine Abneigung gegen eine bestimmte Religion, z.B. das Judentum, das ist der Antisemitismus, oder gegen die Herkunft aus einem bestimmten Land, was man ebenfalls Chauvinismus nennt.

Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus sind die schlimmen Auswüchse einer Haltung, die niemandem von uns fremd ist: Wir machen Unterschiede.
Wir unterscheiden zwischen „uns“ und „denen“, zwischen denen, die dazugehören, den „Nahen“, und denen, die außen vor bleiben, den „Fernen“. Aber es genügt uns nicht, diesen Unterschied zu treffen. Wir müssen auch die abwerten, die wir nicht zu uns zählen.
Erst wird unterschieden, und die Menschen werden in Gruppen eingeteilt: „wir“ und „die“.
Dann wird die andere Gruppe verächtlich gemacht, abgewertet, diskriminiert, verteufelt und verfolgt.
Und dann gibt es Krieg.
Manche erinnern sich vielleicht noch an den Bürgerkrieg zwischen englischen Protestanten und irischen Katholiken in Nordirland; an das Massaker der Hutu an den Tutsi in Ruanda; an die Ermordung tausender bosnischer Muslime durch serbische Soldaten in Srebrenicza.
Am Donnerstag hat der Bundestag beschlossen, die Vernichtung der armenischen Christen durch die Türken als das zu bezeichnen, was es war: ein Völkermord. Es war nicht der erste Völkermord der jüngeren Geschichte. Der wurde 1904 von den Deutschen am Volk der Herero in Namibia begangen.

II
„Christus hat Frieden verkündigt euch, den Fernen, und Frieden den Nahen“. Vor fast 2.000 Jahren wurde dieser Satz aufgeschrieben. Seitdem sind aus dieser Unterscheidung zwischen „Fernen“ und „Nahen“ ungezählte Konflikte, Kriege, Verfolgungen und Völkermorde hervorgegangen, und es hat nicht den Anschein, als wäre ein Ende des Mordens in Sicht. Bis heute dient diese Unterscheidung als Vorwand dazu, einander zu hassen, zu vertreiben, die Köpfe einzuschlagen.

Wir stehen wie unter Zwang, wir können nicht anders, als die Menschen, mit denen wir zu tun haben, einzuteilen in Nahe und Ferne, Freunde und Feinde, Gute und Böse, Einheimische und Fremde. Die Macht, die dieser Zwang zur Unterscheidung auf uns und andere ausübt, ist so groß, dass der Frieden, den Jesus verkündigte, bis heute ungehört verhallte. Die wenigen, die das Wort Jesu vom Frieden aufnahmen und weitersagten, wurden selbst zu Opfern der Gewalt, wie Dr. Martin Luther King, der einst träumte, dass seine dunkelhäutigen Kinder eines Tages selbstverständlich mit weißen Kindern zusammen spielen würden.

Warum muss dieser Friede zwischen den Nahen und Fernen bis heute ein Traum bleiben?
Woher überhaupt der Zwang, zwischen „uns“ und „denen“ zu unterscheiden, zwischen „Nahen“ und „Fernen“?
Vielleicht handelt es sich dabei um ein Relikt aus den Zeiten, als wir noch auf den Bäumen hockten. Tiere leben in Gruppen, Rudeln oder Schwärmen. Und sie verteidigen ihr Revier, ihre Lebensgrundlagen gegen andere Artgenossen, die sie ihnen streitig machen wollen. Vielleicht ist unsere Aggression gegen die Fremden also einfach nur Futterneid: die Angst, man könne zu kurz kommen, wenn man etwas abgeben und teilen muss.

III
Wir hocken nicht mehr auf den Bäumen, zum Glück sind wir „zivilisiert“. Aber wie man an den brennenden Asylbewerberheimen und den wutverzerrten Gesichtern der PEGIDA-Demonstranten sieht, ist die Zivilsation nur ein dünner Lack. Von gewissenlosen Demagogen aufgestachelt und in der Masse Gleichgesinnter geht die Menschlichkeit verloren.

„Christus hat Frieden verkündigt euch, den Fernen, und Frieden den Nahen“. Jesu Botschaft vom Frieden ist so ganz anders als das, was man auf den Transparenten der PEGIDA-Demos lesen und was man in den Reden der AfD-Politiker hören muss. Das Evangelium wurde nicht herausgebrüllt. Die gute Nachricht diente nicht dazu, Menschen gegen andere Menschen aufzuhetzen. Und die Predigerinnen und Prediger des Evangeliums waren und sind keine Über- und Herrenmenschen, als die sich die Demagogen gern gerieren. Paulus hatte Schwächen, er war kränklich, und er war kein großer Redner.
Das Evangelium wird von Leuten verkündigt, die eher dem glimmenden Docht gleichen, der dennoch nicht verlischt, und dem geknickten Rohr, das gerade eben noch nicht zerbricht.
Auf diese Weise kann sich das Wort vom Frieden kaum Gehör verschaffen. Wie soll es sich durchsetzen, wenn es von solchen Leuten und in so leisem Ton vorgetragen wird? Man muss schon sehr gutwillig sein - humorvoll, gutmütig und geduldig -, um es überhaupt wahrzunehmen.

IV
Woher soll dieser gute Wille kommen? Oder, anders gefragt, warum soll man sich diese Mühe machen, dem Frieden Christi Gehör zu schenken, wenn uns das Trennen und Unterscheiden, das Hassen, Neiden und Ausgrenzen so viel näher sind, so viel leichter fallen? Warum strengen wir uns so an, die Menschlichkeit zu bewahren? Soll der Stärkere sich doch durchsetzen. Wer zu schwach ist, wer nicht für sich selbst sorgen, sich nicht wehren kann, der muss eben auf der Strecke bleiben …

Wer die Geschichte kennt, weiß, zu welch unmenschlichen Gräueltaten Menschen fähig sind. Aber dem Terroristen mit der Bombe, dem Hooligan mit dem Baseballschläger ist die Geschichte egal. Sie wollen unmenschlich sein, sie wollen, dass man sie fürchtet. Unsere Angst macht ihnen Freude, gibt ihnen Kraft, stachelt sie an.

Die Zivilisation ist nur ein dünner Lack. Man kann niemanden von Menschlichkeit, Barmherzigkeit oder Vergebung überzeugen, der nichts davon wissen will. Den Frieden, den Jesus verkündigt, finden nur wenige erstrebenswert, denn er bedeutet ein gemeinsames Wohnen der Fernen und Nahen unter einem Dach, ein Aufheben der Unterscheidungen und Trennungen zwischen „uns“ und „denen“. Deshalb kann man diesen Frieden nicht machen, man kann ihn nur verkündigen, daran glauben und darum beten.

An diesen Frieden zu glauben bedeutet, dass man ergriffen wird von dem Bild, das der Predigttext zeichnet: Das Bild vom heiligen Tempel des Herrn, dessen Steine wir alle miteinander sind, gebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten, verbunden durch Christus, den Eckstein.

An diesen Frieden zu glauben bedeutet, dass man von der Wahrheit und Schönheit dieses Bildes berührt wird und dass man mitbauen möchte an dieser Wohnung Gottes im Geist.

So, wie man die Schönheit einer Melodie, eines Bildes, einer Rose nicht erklären kann, sondern von ihr ergriffen wird oder nicht, so ist es auch mit diesem Bild von der Wohnung Gottes: Es ist fast schon ein Wunder und ein großes Glück, wenn es uns berührt.

Es ist fast schon ein Wunder und ein großes Glück, wenn wir einstimmen in die Worte, dass es schön und lieblich ist, wenn Geschwister einträchtig beieinander wohnen.

Es ist fast schon ein Wunder und ein großes Glück, wenn wir erkennen, dass alle Menschen Geschwister sind: Kinder des einen Vaters im Himmel, Schwestern und Brüder Jesu.

Gebe Gott, dass dieses Wunder des Glaubens unter uns geschieht. Dass wir die leise Botschaft vom Frieden hören und ihn mitträumen, den Traum vom gemeinsamen Haus - in unserem Alltag, in unserer Heimat Europa und in der Kirche.

Amen.