Samstag, 16. Juli 2022

Ein Segen sein

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juli 2022, über Gen 12,1-4:

Deutsche Emigranten gehen an Bord eines in die USA fahrenden Dampfers (um 1850)


Gott sprach zu Abram:

Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft

und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.

Und ich will dich zum großen Volk machen

und will dich segnen und dir einen großen Namen machen,

und du sollst ein Segen sein.

Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen;

und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.

Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte.



Liebe Schwestern und Brüder,


„geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft

und aus deines Vaters Haus.”

Warum lässt jemand alles hinter sich

und zieht in die Fremde, ins Ungewisse?

Niemand gibt freiwillig seine Komfortzone auf,

sein Elternhaus, seine vertraute Umgebung,

seine Heimat, seine Muttersprache,

wenn er oder sie nicht unbedingt muss.

Die Heimat verlässt man nur gezwungenermaßen.

Wie im Märchen die Bremer Stadtmusikanten.


Die Bremer Stadtmusikanten würden auf die Frage

nach dem Warum antworten:

„Etwas Besseres als den Tod findest du überall.”

Esel, Hund, Katze und Hahn aus dem Märchen hatten gehofft,

bei ihren Herrinnen und Herren das Gnadenbrot zu erhalten.

Aber die wollten ihnen ans Leben.

Also nahmen sie Reißaus,

denn etwas Besseres als den Tod findest du überall.


So flohen gestern noch Menschen aus Syrien,

fliehen heute Menschen aus der Ukraine.

Morgen werden vielleicht Menschen aus der Sahelzone fliehen,

weil es besser ist, die Heimat aufzugeben,

als im Krieg oder vor Hunger zu sterben.


Abram aber muss nicht fort.

Elternhaus, Verwandtschaft, Heimat verlässt er ohne Not.

Was treibt ihn dazu?


Mit Abram, der später Abraham heißen wird,

beginnt der Glaube.

Abraham verlässt seine Heimat aufgrund der Hoffnung,

dass Gott ihn in ein Land bringt,

wo er der Stammvater eines großen Volkes werden wird.

Anhand dieses Verhaltens Abrams

beschreibt der Hebräerbrief den Glauben als

„eine feste Zuversicht auf das, was man hofft,

und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht” (Hebr 11,1).

Glaube vertraut auf etwas, das erst noch kommen muss.

Und, davon ist der Glaube überzeugt, auch kommen wird.

Abram ist der erste Glaubende.

Er ist der Vorläufer aller Gläubigen.


Das Land, das Gott Abram verspricht, ist das Land Israel.

Das Land der Verheißung.

Das Gelobte Land hat zu allen Zeiten Menschen angelockt.

Im 19. Jahrhundert waren die Vereinigten Staaten so ein Gelobtes Land.

Auswanderer aus Mecklenburg und vielen anderen Teilen Deutschlands

wollten dort ihr Glück machen.

Die meisten waren, was man heute „Wirtschaftsflüchtlinge” nennt:

Unzufriedene, die in der alten Heimat keine Zukunft für sich sahen.

In der Fremde wollten sie ein besseres Leben führen,

auf eigener Scholle ihre eigenen Herren sein.


Auf diese Hoffnung hin gaben sie ihr ganzes Erspartes

für eine Schiffspassage im untersten Deck.

Ohne einen Pfennig in der Tasche

zogen sie in ein Land, das sie nicht kannten

und dessen Sprache sie nicht beherrschten.

Wie stark muss die Hoffnung sein,

wenn sie zu einem so endgültigen Schritt beflügelt!

Wie groß das Leiden an den Verhältnissen in der Heimat,

wenn man alles aufgibt,

denn etwas Besseres als den Tod findest du überall.


Wie aber kommt es dazu,

dass der Glaube einen Menschen wie Abram dazu bringt,

die Komfortzone zu verlassen,

das Gewohnte, Bequeme, Vertraute

und alle Sicherheiten aufzugeben?

Abram tut es ja ohne Not - im Gegenteil:

Abram verzichtet auf die Sicherheiten,

die ihm sein Elternhaus, seine Verwandtschaft

und seine vertraute Heimat bieten.

Er verzichtet auf eine Zukunft, die für ihn bereit liegt:

In die Fußtapfen seines Vaters zu treten,

den Betrieb von ihm zu übernehmen

und eines Tages an seine Kinder weiterzugeben.

Offenbar muss der Glaube ihm etwas bieten,

das besser ist als diese Sicherheiten,

besser als eine gemachte Zukunft.


Wie kommt man überhaupt zum Glauben?

Glauben ist offensichtlich etwas,

was alle Menschen in sich haben,

was allen Menschen möglich ist.

Aber nur wenige tun es.


Man könnte einwenden:

Auch die Auswanderer, die Flüchtlinge glauben.

Sie sind zuversichtlich, dass sie eine bessere Zukunft erwartet.

Und sie zweifeln nicht daran, dass diese bessere Zukunft

in einem fremden Land zu finden ist.


Der Unterschied dieser Erwartungen der Auswanderer

zum Glauben Abrams besteht darin,

dass der Glaube nicht etwas mit Händen zu Greifendes,

nichts Materielles erhofft, sondern den Segen.

Segen ist nichts, was man in die Tasche stecken

oder zu Geld machen könnte.

Segen lässt sich auch nicht beschreiben.

Höchstens umschreiben,

wie es der aaronitische Segen am Schluss des Gottesdienstes tut:


„Gott segne dich und behüte dich.”

Behüten ist, was Eltern für ihre Kinder tun.

Es ist mehr als Aufpassen, dass ihnen nichts passiert.

Es ist ein wohlwollendes Begleiten,

das das Beste für das Kind will und erhofft,

das sich über Erfolge des Kindes freut

und sie ihm von Herzen gönnt.


„Gott lasse leuchten sein Angesicht über dir

und sei dir gnädig.”

Das leuchtende Angesicht sahen wir zum ersten Mal,

als unsere Eltern sich über unser Kinderbettchen beugten.

Das leuchtende Angesicht sagt:

Ich freue mich über dich. Ich bin stolz auf dich.

Du bist schön, du bist wunderbar.

Ich habe dich lieb.

Dieses leuchtende Angesicht ist Gnade.

Denn wenn man Fehler macht,

wenn man jemanden verletzt,

etwas Falsches oder Unrechtes tut,

glaubt man nicht, dass andere sich noch über eine:n freuen können,

dass man noch Liebe verdient.

Mit seinem Segen sagt Gott aber genau das:

Ich habe dich trotzdem lieb.


„Gott erhebe sein Angesicht auf dich

und gebe dir Frieden.”

Solange etwas nicht fertig,

solange die Zukunft ungewiss,

solange ein Streit nicht beigelegt ist,

findet man keinen Frieden.

Wenn Gott auf uns schaut, indem er sein Angesicht erhebt,

also seinen Blick auf uns richtet,

ist er wie eine Mutter oder ein Vater,

die ihrem Kind das Vertrauen geben:

Du schaffst das. Ich vertraue dir. Ich glaube an dich.


Der Segen, den der Glaube erwartet und erfährt,

ist also kein Ziel wie das Gelobte Land,

wie die Erfüllung eines Traumes,

wie ein Beruf oder eine Berufung, für die man sich entscheidet.

Der Segen ist der Weg zu diesem Ziel.

Er ist die Kraft,

die uns das Leben bestehen lässt.


Jetzt wird erkennbar, wie man zum Glauben kommt:

Wenn diese Kraft, das Leben zu bestehen, fehlt,

oder geschwächt ist.

Weil kein Angesicht leuchtet, wenn man anderen begegnet.

Oder man es nicht bemerkt,

weil man den Kopf gesenkt hält

aus einem Gefühl der Scham, der Schuld, der Minderwertigkeit.

Weil man kein Vertrauen spürt

oder kein Selbstvertrauen.

Weil man sich schutzlos fühlt.

Dann ist der Glaube besser als alles, was man hat.

Er ist das Beste, was einem passieren kann.


Wer sich auf den Glauben einlässt,

erfährt den Segen

und kann ihn, wenn es gut geht, auch annehmen.

Wer Gottes Segen erfährt und annehmen kann,

wird dadurch verändert.

Entdeckt mit einem Mal,

dass jemand Trost bräuchte oder Ermutigung.

Dass jemand hören müsste, dass er oder sie schön ist;

spüren müsste, dass man ihr oder ihm vertraut;

Dankbarkeit erfahren müsste

für das, was er oder sie getan hat -

oder einfach dafür, dass es diesen Menschen gibt.

So wird man für andere ein Segen.


Abram wurde, wie Gott ihm versprach,

Vater eines großen Volkes.

Aus Abram wurde Abraham,

Vorläufer aller, die glauben.


Wir sind viele.

Unser Angesicht leuchtet,

wenn wir Gottes liebevollen Blick auf uns spüren.

Mit diesem Leuchten geben wir Gottes Segen weiter.

Machen anderen Mut, die gewohnten Sicherheiten aufzugeben;

sich einzulassen auf den Glauben,

der Gottes Segen erfahren lässt,

sodass man für andere ein Segen wird.


Amen.

Sonntag, 10. Juli 2022

Kann denn Liebe Sünde sein?

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juli 2022, über Johannes 8,3-11


Liebe Schwestern und Brüder,


die Geschichte von der Ehebrecherin klingt wie ein Kriminalfall -

wenn auch kein besonders spannender.

Weder ist das Delikt, der Ehebruch, außergewöhnlich,

noch gibt der Tathergang Rätsel auf.

Die Frau wurde schließlich auf frischer Tat ertappt.

Ich möchte trotzdem mit Ihnen den Fall noch einmal durchgehen.

Es gibt da nämlich einige Details, die nicht stimmen

und diesen Fall nicht so eindeutig machen,

wie er auf den ersten Blick erscheint.


Die erste Ungereimtheit, die einen geradezu anspringt:

Wenn die Frau auf frischer Tat beim Ehebruch ertappt wurde,

wo ist dann ihr Liebhaber?

Er war am Ehebruch beteiligt,

er muss noch da gewesen sein, als die Frau verhaftet wurde,

aber nur sie wird vorgeführt.

Dabei müsste auch er in der Mitte stehen.

Denn das Gebot, auf das sich die Ankläger berufen, lautet:


„Wenn jemand dabei ergriffen wird,

dass er bei einer Frau schläft, die einen Ehemann hat,

so sollen sie beide sterben,

der Mann und die Frau, bei der er geschlafen hat” (5.Mose 22,22).


Hier wird sogar der Mann an erster Stelle genannt.

Aber keine Spur von ihm;

vom Liebhaber ist nicht einmal die Rede.

Dabei kann man eine Ehe nicht allein brechen.


Die zweite Ungereimtheit folgt aus der ersten:

Wo ist der Ehemann?

Er ist der einzige, der überhaupt Anklage erheben könnte,

denn er ist, wenn man so will, der Geschädigte.

Der Ehemann taucht aber nicht auf,

von ihm ist mit keinem Wort die Rede.

Statt seiner haben andere die Anklage übernommen.

In dieser Geschichte werden sie Jesus als Gegner gegenübergestellt.

Pharisäer und Schriftgelehrte sind die Provokateure und Ankläger.

Sie sind aber nicht so schlecht,

wie sie in dieser Geschichte dargestellt werden.

Sie vertreten nur eine andere Auffassung als Jesus.


Hier geht es gar nicht um den Ehebruch.

Nicht die Ehebrecherin wird angeklagt, sondern Jesus.

Was könnte man Jesus vorwerfen?

Seine sehr eigene Auslegung der Tora, der Gebote Gottes:

Dass er Kranke am Sabbat heilt,

seinen Jüngern erlaubt, am Sabbat Ähren zu raufen -

Arbeiten, die an Gottes Ruhetag verboten sind.

Für Jesus geht die liebevolle Hinwendung Gottes zu den Menschen

über die Gebote, die menschliches Handeln leiten sollen.


Die Pharisäer und Schriftgelehrten sind da gänzlich anderer Meinung.

Ihre Maxime lautet:

Ein gläubiger Mensch muss sich jederzeit

nach Gottes Willen richten und sein Leben daran orientieren -

auch, wenn das Mühe macht und Einschränkungen erfordert.


Allerdings gibt es unter den Pharisäern und Schriftgelehrten

Auseinandersetzungen darüber,

wie wörtlich die Gebote zu verstehen sind

und wie man sie so befolgt, dass man ihnen gerecht wird

und sie nicht durch unsinniges Handeln ad absurdum führt.

Diese unterschiedlichen Meinungen bilden den Grundstock dessen,

was dann als „Talmud” gesammelt wird.


Wie wörtlich ist ein Gebot oder Verbot zu nehmen?

Sehen wir uns dazu das Verbot des Ehebruchs an:

Hätte man dieses Verbot wörtlich genommen,

hätte man jede und jeden,

der beim Ehebruch erwischt wurde, gesteinigt,

wäre die Weltbevölkerung heute erheblich kleiner.


Ehebruch, oft als „Seitensprung” oder „Kavaliersdelikt” verharmlost,

ist eine ernste Angelegenheit -

jedenfalls für die oder den,

der der Leidtragende, der „Gehörnte” ist.

Er zerstört die Illusion,

dass man für die Partnerin oder den Partner einzigartig ist.

Er zerstört das Vertrauen, das zwischen einem Paar bestand.

Der Ehebruch ist aber nicht die Ursache,

sondern die Folge einer Krise in der Beziehung.

Ein Fall für den Familientherapeuten oder, schlimmstenfalls,

für den Scheidungsanwalt.

Kein Kapitalverbrechen, das öffentlich angeklagt werden müsste,

noch dazu von Leuten, die das gar nichts angeht.


Und schließlich ist Ehebruch so alltäglich und so allgemein verbreitet,

dass man nicht dagegen ankäme, selbst, wenn man es wollte.

Verbote helfen da gar nichts - im Gegenteil:

Je verbotener eine Sache, desto reizvoller wird sie.

Die Untreue, der Ehebruch ist eine Möglichkeit,

die in uns allen schlummert.

Wer jetzt entrüstet denkt: Aber ich doch nicht!

Ich würde so etwas niemals tun!,

hat nur noch nie vor dieser Versuchung gestanden.

Deshalb sagt Jesus:


„Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 20,14):

»Du sollst nicht ehebrechen.«

Ich aber sage euch:

Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren,

der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.” (Matthäus 5,27f)


Wenn das stimmt,

dann wäre die einzige Möglichkeit, Ehebruch zu verhindern,

die Burka für alle, Frauen und Männer.

Aber natürlich ist das keine Lösung.

Jesus will das Flirten nicht verbieten.

Es ist nicht falsch, nicht verwerflich,

sich an der Schönheit eines anderen Menschen zu erfreuen.

Im Gegenteil: Wir leben davon,

uns in den Augen anderer gespiegelt zu sehen.

Es erinnert uns daran, wie liebevoll Gott uns ansieht.


Indem Jesus die Schwelle dafür, was Ehebruch ist,

so sehr herabsenkt, will er deutlich machen:

Man kann Begehren nicht verhindern,

man kann Lust nicht verbieten.

Sie sind nicht schlimm, sie sind nicht „Sünde”,

sondern gehören zu unserem Menschsein.

Dass wir einander begehren, gerade das macht uns zu Menschen.


Das heißt nicht, dass wir jetzt alle fröhlich drauflos …

- Sie wissen schon.

Es bleibt dabei: „Du sollst nicht ehebrechen.”

Doch dieses Gebot erfüllt man nicht,

indem man so tut, als hätte man als einzige:r

in der gesamten Menschheit keinen Unterleib.


Ich denke, auch die Gegner Jesu wissen das.

Trotzdem zerren sie die Frau ins Licht der Öffentlichkeit.

Trotzdem suchen sie die Auseinandersetzung mit Jesus.

Es geht in diesem Streit um eine Verwechslung,

die immer wieder passiert, bis heute.

Manchmal unbewusst, aber meistens sehr bewusst:

Die Verwechslung von Sünde und moralischer Verfehlung.


Sünde bedeutet, das Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist zerstört.

Wer Gott Willen ignoriert oder sich bewusst dagegen entscheidet,

wendet sich von Gott ab.

Das bezeichnet die Bibel mit dem Wort „Sünde”.

Eine moralische Verfehlung dagegen

ist die Störung der Beziehung von Menschen untereinander.

Diese Beziehung kann schon gestört sein,

wenn jemand anders lebt, anders liebt als die meisten.

Denn was moralisch richtig oder falsch ist,

das fällt nicht vom Himmel, das steht auch nicht in der Bibel,

sondern es wird von denen festgelegt, die dazu die Macht haben.

Moralisch richtiges oder falsches Handeln ist immer eine Machtfrage.


Mit dem Glauben hat es nichts zu tun,

welchen Menschen man liebt,

welches Geschlecht man hat - oder ob man keins hat.

Was im Schlafzimmer passiert, ist reine Privatsache.

Aber nichts interessiert andere so sehr wie das,

was im Privaten geschieht - vor allem,

wenn der Verdacht besteht, man sei anders als die anderen.


Um angebliches sexuelles Fehlverhalten anzukreiden,

beruft man sich bis heute gern auf die Bibel.

Denn da steht es ja, schwarz auf weiß:

„Du sollst nicht ehebrechen.”

Da steht auch:

„Du sollst den Fremdling nicht bedrücken” (2.Mose 22,20).

Da steht auch:

„Du sollst deinen Nächsten nicht bedrücken noch berauben.

Es soll des Tagelöhners Lohn nicht bei dir bleiben bis zum Morgen” (3.Mose 19,13).

Aber so etwas überliest man leicht.


Und wenn Kinder im Sahel zu Dutzenden, zu Hunderten vor Hunger sterben,

ist das nicht so schlimm und verwerflich wie eine Abtreibung.

Weil diese Kinder ja nur durch Unterlassung getötet wurden -

indem man sie verhungern ließ -

und nicht vorsätzlich.

Wobei man sich schon fragen kann, ob nicht Vorsatz vorliegt.

Denn jede:r weiß, dass es im Sahel nichts zu Essen gibt,

dass Kinder und Erwachsene vor Hunger sterben,

wenn wir ihnen nicht helfen.


Warum ist es so viel spannender,

das private Verhalten anderer zu beäugen und zu verurteilen,

als Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit oder Umweltzerstörung anzuklagen?

Weil es immer um Macht geht.

Macht über andere.

Macht zu bestimmen, was richtig ist und falsch,

was man tun darf und was nicht.

Wer Unrecht beseitigt,

wer Hungernde sättigt,

wer sich gegen Unmenschlichkeit wendet,

gewinnt keine Macht, im Gegenteil:

Er, sie ermächtigt andere, sich Recht zu verschaffen,

sich zu wehren, sich ihren Teil vom Kuchen einzufordern.

Wer dagegen andere nach einem Maßstab beurteilt,

erhebt sich über sie, übt Macht über sie aus.


Das passiert auch in unserer Geschichte.

Die Ankläger zeigen ihre Macht dadurch,

dass sie die Frau ins Licht der Öffentlichkeit zerren,

sie bloßstellen und damit erniedrigen.

Jesus lässt sich auf diesen Machtkampf ein.

Er gibt eine im Grunde erschreckende Antwort:

„Wer von euch ohne Sünde ist,

der werfe den ersten Stein auf sie”.

Erschreckend, weil er damit zur Steinigung geradezu auffordert.

Die Frau in der Mitte muss in diesem Moment

alle Hoffnung verloren haben, wenn sie noch welche hatte.

Jesus hat gerade das Todesurteil über sie gesprochen.


Aber Jesus weiß, was er tut.

Denn indem er es so sagt:

„Wer von euch ohne Sünde ist”,

konfrontiert er die Ankläger damit,

dass man als Mensch eben nicht nicht sündigen kann.

Er konfrontiert die Ankläger mit ihrem besseren Wissen.

Wenn sie jetzt noch einen Stein werfen,

würden sie wider besseres Wissen handeln,

würden sie heucheln und sich nicht nur moralisch verfehlen,

sondern sich tatsächlich von Gott trennen.


Mit seiner Antwort stellt Jesus die Ankläger bloß:

Es ging ihnen gar nicht um das Gebot.

Es ging ihnen um die Macht,

andere zu ihrer Auffassung von Anstand und Recht zu zwingen.

Sie benutzten das Gebot nur, um Jesus auszutricksen.

Sie wussten, dass er Gnade vor Recht ergehen lassen

und damit Gottes Gebot übertreten würde.

Mit seiner überraschenden Antwort zeigt Jesus,

dass Gott von uns nicht Unmenschliches verlangt.

Sein Gebot ist nicht dazu da,

andere Menschen danach zu beurteilen und zu verurteilen.


Die Geschichte ist wirklich ein Krimi -

in einem anderen Sinn, als es zunächst schien:

Sie schildert einen Machtkampf zwischen Leuten,

die mit Hilfe der Gebote Macht über andere ausüben wollen,

und Jesus, der Menschen dazu ermächtigen will,

sich Gottes vergebender Liebe anzuvertrauen

und dadurch seine Gebote zu befolgen.

Ein Machtkampf, der heute immer noch ausgetragen wird.


Darum ist diese Geschichte so notwendig.

Sie erinnert uns daran,

dass Gottes Wille nicht dazu da ist,

dass wir uns zu Richter:innen über andere erheben.

Gottes Gebote wollen Leben retten und erhalten.

Deshalb steht am Ende der Geschichte der Freispruch

ohne Bedingungen und Hintertüren.

Ein Freispruch, der auch uns gilt

und uns zu einem Leben nach Gottes Willen ermutigt.

Sonntag, 3. Juli 2022

Das Recht, eine andere zu werden

Predigt am 3.Sonntag nach Trinitatis, 3.7.2022, über Ezechiel 18



„Die Väter haben saure Trauben gegessen,

aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”


Liebe Schwestern und Brüder,


in der Landwirtschaft war es seit Menschengedenken die Regel,

dass der älteste Sohn den Hof übernahm.

Damit war für diesen Sohn der Lebensweg vorgezeichnet.

Von Kindheit an war ihm bewusst:

Er würde eines Tages der Herr im Haus und auf dem Hof sein.

Und auch für seine Geschwister war der Weg vorgezeichnet:

Sie würden sich etwas anderes suchen müssen.

Die Mädchen eine „gute Partie”, wie man damals sagte;

die Jungen eine Anstellung oder eine Ausbildung,

wenn der Hof soviel abwarf.

Mein Urgroßonkel konnte sogar studieren;

meine Tante hat das Gymnasium besucht.

Mein Vater hätte das auch gern getan.

Aber er wurde auf die Landwirtschaftsschule geschickt,

denn er würde den Hof übernehmen;

dazu brauchte er weiter nichts zu lernen.


Mein Vater wäre gern etwas anderes geworden;

aber diese Wahl hatte er nicht.

„Was du ererbt von deinen Vätern,

erwirb es, um es zu besitzen.”

Der Hof, von einer Generation auf die nächste überkommen,

musste weitergeführt werden.

Im Grunde ist es noch heute so -

mit dem Unterschied, dass die Töchter

eine mehr und mehr gleichberechtigte Rolle einnehmen

und auch Hoferbin werden können.


Eltern beeinflussen die Lebensentscheidungen ihrer Kinder -

und manchmal entscheiden sie für sie, über ihre Köpfe hinweg.

Sie wollen das Beste für ihre Kinder.

Aber nicht immer ist das Beste, das die Eltern wollen,

auch das, was die Kinder als das Beste für sich ansehen.

Kinder haben manchmal ein Leben lang mit den Entscheidungen zu kämpfen,

die ihre Eltern für sie getroffen oder zu denen sie sie gedrängt haben.

Sein ganzes Leben lang war mein Vater unglücklich.

Aber der Wille seines Vaters und die Notwendigkeit,

den elterlichen Betrieb weiterzuführen, waren stärker.

Das ist nicht nur in der Landwirtschaft so;

auch Handwerks- und Industriebetriebe,

Hotels und Gaststätten müssen weitergeführt werden.

Diese Pflicht ist oft stärker als die Neigung,

einen ganz anderen Lebensweg einzuschlagen.

Hinterher sind dann manche unglücklich über ihr Schicksal

und geben ihren Eltern die Schuld daran.


Die Schuld der Eltern, besonders der Väter:

Niemals wurde sie so deutlich bewusst und nachgefragt

wie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Ende der 60er Jahre begannen in Westdeutschland

Kinder ihre Väter und Großväter zu fragen,

was sie gewusst hatten von den Gräueln und dem Massenmord,

was sie damals taten.

Und je mehr in den Folgejahren herauskam -

dass nicht nur Einzelne diese Verbrechen begangen

und davon gewusst hatten,

sondern dass alle davon gewusst

und nur die wenigsten gewagt hatten, Widerstand zu leisten -

desto größer wurde die Wut der Kinder auf ihre Väter,

wurden ihre Scham und Schuldgefühle.


„Die Väter haben saure Trauben gegessen,

aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”

Wenn man als Westdeutsche:r in die Länder des damaligen Ostblocks reiste -

nach Polen, oder in die Sowjetunion -

konnte man den Gräueltaten, die Deutsche dort verübt hatten,

nicht aus dem Wege gehen.

Die Scham und das Gefühl der Schuld waren ständige Begleiter.

Auch in westlichen Ländern, in Frankreich oder den Niederlanden -

überall dort, wo Deutsche als Besatzungsmacht gewütet hatten -

begegneten eine:m Ablehnung oder sogar offene Feindschaft.

Die Erfahrungen, die die Kinder- und Enkelgeneration der Täter machte

und bis heute machen kann,

wenn sie die Augen vor den Gräueltaten und der Schuld nicht verschließt,

bestätigt die Wahrheit dieses Sprichwortes:

„Die Väter haben saure Trauben gegessen,

aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”


Das wird auch für die Kinder und Enkel derer gelten,

die als Mitarbeiter oder Spitzel der Staatssicherheit

Freunde verraten, Lebensläufe durchkreuzt, Beziehungen zerstört haben

und in der damaligen DDR eine Atmosphäre des Misstrauens,

der Angst, der Verdächtigung schufen.

Das gilt für alle Kinder und Enkel von Vätern,

die Schuld auf sich geladen haben -

sei es im Apartheitsregime Südafrikas,

sei es im sogenannten „Islamischen Staat”

oder sei es bei den Soldaten, die am Überfall auf die Ukraine beteiligt sind.


„Die Väter haben saure Trauben gegessen,

aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.”

Diesen Zusammenhang hebt Gott auf:

„So wahr ich lebe, spricht Gott der Herr:

Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen!”

Ja, kann man denn eine Erfahrung,

die viele von uns gemacht haben oder machen,

einfach dadurch aufheben, dass man sagt:

Das soll nicht mehr so sein!?


„Man” kann es nicht. Aber Gott kann es.

Schuld existiert nicht absolut -

sonst könnte sie nicht geleugnet werden.

Sonst könnten so viele alte und neue Nazis nicht behaupten,

das sei alles nicht so gewesen.

Um Schuld festzustellen, braucht es einen Dritten,

der sich für die Opfer einsetzt und die Täter benennt.

Gott ist dieser Dritte.

Vor Gott verantworten wir unser Tun und unser Unterlassen.

Daneben gibt es den Staat mit seinen Gesetzen.

Auch er ist ein Dritter,

der die Opfer schützt und die Täter verfolgt.

Aber er kann das nur tun,

wo eine Tat angezeigt, wo ein Täter erwischt wird.

Doch in einem Unrechtsstaat,

der die Verfolgung und Ermordung von Menschen legalisiert,

Bespitzelung und Denuntiation betreibt,

gibt es keine Verfolgung von Unrecht.


Gott aber kann man nicht entkommen.

Gott ahndet die Taten nicht, wie der Staat es tut,

verhaftet niemanden, sperrt niemanden ein.

Aber das Gerichtsverfahren findet trotzdem statt. Jeden Tag.

Jeden Tag überführt uns unser Gewissen,

wenn wir schuldig geworden sind.

Unser Gewissen überführt uns, aber nur uns, niemand anderen.

Vor Gott steht jede und jeder allein.

Deshalb zählt für Gott nur, was wir getan haben.

Nicht, was unsere Eltern oder unsere Vorfahren taten.

Gott urteilt über unser Handeln;

er verurteilt uns nicht dafür, dass wir Deutsche,

dass wir die Kinder oder Enkel von Tätern sind.


Für Gott zählt auch nur, was jetzt geschieht.

Was gestern war, ist vergessen, wenn wir es bereuen.

Wenn wir Gott um Vergebung bitten,

streicht er aus, was gewesen ist, was wir getan haben.

Es soll nicht mehr über uns bestimmen.

Es soll nicht mehr bestimmen, wer wir sind.

Für Gott ist immer Heute, ist immer Jetzt.

Jetzt entscheidet sich, wer wir sind -

und wer wir sein wollen.

Und wenn es nach Gott geht, sind wir gut,

stehen wir auf der guten Seite.

Denn Gott liebt uns über alle Maßen.

Und deshalb sieht er, wer wir wirklich sind

und wer wir sein könnten.

Sieht unsere Schönheit, unsere Stärken,

unsere Hoffnungen und Träume für uns und unsere Welt,

unser gutes Herz und unseren guten Willen.


So hebt Gott nicht nur den alten Spruch auf

von den Vätern, die saure Trauben gegessen haben.

Gott hebt auch auf, was wir als Lasten unseres Elternhauses,

unserer Erziehung und Prägung mit uns herumschleppen.

Unsere Eltern, Lehrer:innen und Ausbilder:innen

haben uns zu den Menschen gemacht, die wir heute sind.

Sie haben uns viel Gutes getan, viel Gutes mitgegeben.

Und sie haben uns manches zugemutet und aufgebürdet.

Das können wir nicht mehr ändern.

Aber das, was war, muss nicht darüber bestimmen,

wer wir heute sind und morgen sein werden.

Wir sind nicht dazu verpflichtet zu bleiben, wer wir sind.

Wir haben das Recht, ein:e andere:r zu werden:

Ein Mensch nach Gottes Willen:

Frei. Glücklich. Voller Liebe und Mitgefühl

den Mitmenschen und Mitgeschöpfen zugewandt.

Wir sind frei, zu den schönen, begabten,

freundlichen und wunderbaren Menschen zu werden,

die wir in Gottes Augen schon sind.


Heute ist der Tag dazu.

Heute ist der erste Tag unseres neuen Lebens.

Amen.