Freitag, 24. September 2021

Was das Leben lebenswert macht

Predigt zum Erntedank am Samstag, 25. September 2021 über 2.Korinther 9,8:

„Gott hat die Macht, euch jede Gabe im Überfluss zu schenken.
So habt ihr in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit alles, was ihr zum Leben braucht.
Und ihr habt immer noch mehr als genug, anderen reichlich Gutes zu tun.”

Liebe Schwestern und Brüder,

die Ernte eines Jahres ist eingefahren. Noch nicht ganz. Die Zuckerrübenkampagne hat gerade begonnen, und die meisten Äpfel hängen noch am Baum. Aber man kann doch schon einmal zurückblicken auf das vergangene Jahr. Wie war die Ernte dieses Jahr? Was haben wir an Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten genossen und genascht, eingefroren und eingekocht? Und was haben wir sonst noch so geerntet?
An Lob z.B. - oder an Kritik?
Welche schönen Erlebnisse hatten wir - und welche Tage möchten wir möglichst schnell vergessen?
Was haben wir erfahren, gelernt in diesem Jahr - und was haben wir verlernt, was können wir nicht mehr?
Welche Menschen sind uns begegnet, sind uns Freundin oder Freund geworden - und welche Menschen haben wir verloren?

Auch in diesem Jahr hat die Corona-Pandemie unser Leben bestimmt. Nicht mehr so sehr wie im letzten Jahr; Dank der Impfungen ist ein gewisses Maß an Normalität zurückgekehrt. Vieles war trotzdem noch nicht möglich. Manche*r hat dieses Jahr noch auf eine Urlaubsreise verzichtet. Bei Begegnungen mit anderen, besonders mit Fremden, fühlt man noch immer eine gewisse Befangenheit. Und die Masken können wir auch noch nicht zuhause lassen.

Die Corna-Pandemie fühlt sich an wie eine große Durststrecke. So vieles ging nicht, so vieles nur eingeschränkt. Das passt auf etwas bedrückende Weise zu den Trockenperioden, die wir durch den Klimawandel erleben. Dürre im Land, und Dürre in unserem Alltag - wofür soll man da dankbar sein, warum Erntedank feiern?

„Gott hat die Macht, euch jede Gabe im Überfluss zu schenken.
So habt ihr in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit alles, was ihr zum Leben braucht.
Und ihr habt immer noch mehr als genug, anderen reichlich Gutes zu tun.”

Wenn einem etwas fehlt - wenn man erkrankt ist, oder wenn man einen lieben Menschen verloren hat -, versuchen manche einen mit dem Hinweis darauf zu trösten, dass es anderen noch viel schlechter geht. Und man selbst versucht auch, sich das einzureden. Natürlich ist da etwas Wahres dran. Verglichen mit den Ärmsten der Armen - den Kindern, die im Jemen oder in der Sahelzone verhungern - ist jeder andere Mensch besser dran und kann dankbar sein. Aber das Maß können doch nicht die sein, die zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel haben. Der Maßstab muss doch vielmehr sein, was ein Mensch zu einem guten, gesunden und glücklichen Leben braucht. Das ist viel mehr als Wasser und Brot. Martin Luther zählt dazu in seiner Auslegung der Bitte um das tägliche Brot im Vaterunser folgendes auf:

„Alles, was not tut für Leib und Leben, wie Essen und Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen.”

„Und desgleichen” - die Liste ist noch lange nicht zuende. Jeder Mensch braucht darüber hinaus noch etwas, was das Leben lebenswert macht. Für die eine ist es das Reiten, für den anderen der Spaziergang mit dem Hund. Das Angeln oder die Jagd, ein gutes Buch oder schöne Musik - wie die Orgelmusik in diesem Gottesdienst.

Wenn wir auf das Jahr zurückschauen, stellen wir fest: Das alles hatten wir. Unser Leben war lebenswert, auch unter Corona-Bedingungen. Vielleicht haben die Einschränkungen, so mühsam und belastend sie waren, uns gerade das spüren lassen: Was wir trotzdem alles hatten und tun konnten. Und was von dem Vielen, was wir zu brauchen meinen, gar nicht so notwendig war, wie es uns schien. 

Und vielleicht haben wir durch Corona sogar etwas gelernt, das wir jetzt als Ertrag aus dieser Zeit mitnehmen: Den Umgang mit Videokonferenzen. Die Arbeit im Home-Office. Die Nähe zu anderen trotz räumlichem Abstand. 

„Gott hat die Macht, euch jede Gabe im Überfluss zu schenken.
So habt ihr in jeder Hinsicht und zu jeder Zeit alles, was ihr zum Leben braucht.
Und ihr habt immer noch mehr als genug, anderen reichlich Gutes zu tun.”

Wir haben viele Gaben von Gott bekommen. Damit ist nicht nur das gemeint, was wir zum Leben brauchen und was unser Leben lebenswert macht. Auch Zuhören ist eine Gabe. Sehen, was nicht in Ordnung ist, ist eine Gabe. Dinge reparieren können, Pflanzen zum Wachsen und Blühen bringen, Kinder betreuen, Kranke besuchen - auch diese Liste ließe sich lange fortsetzen mit dem, was jede und jeder von Ihnen jeweils kann.

Spätestens seit Corona haben wir gelernt, dass unsere Gaben wichtig sind, dass sie gefragt sind und  gebraucht werden. Gott hat uns so viele Gaben gegeben, damit wir aus unserem Überfluss anderen etwas abgeben können. Wiederum nicht nur unseren Besitz, Geld, oder Gegenstände. Sondern vor allem das, was wir können, womit wir anderen helfen können. Keine Gabe ist dafür zu unbedeutend, zu  gering. Niemand ist dafür zu klein, zu unwichtig, zu alt oder zu schwach. Deshalb heißt Erntedank auch: Danke sagen für die Menschen, mit denen wir zusammenleben und die uns von ihrer Zeit, ihrer Kraft, ihrem Wissen, ihren Fähigkeiten etwas abgeben - so, wie Sie es tun.

Darum möchte ich Ihnen heute ausdrücklich Danke sagen:
Danke, dass Sie Ihre Gaben in diesem Jahr geteilt haben!
Danke, dass Sie mit Ihren Gaben Ihr Gemeinwesen und diese Gemeinde gestalten und bereichern!
Und auch Gott möchte ich dafür danken, dass er Ihnen diese Gaben geschenkt hat:
Danke, Gott, dass du diese Menschen so einzigartig, so liebenswert, so besonders gemacht hast!

Amen.

Samstag, 18. September 2021

Aufstehens Schwester

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 19. September 2021, über Klagelieder 3,22f:

„Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind.
Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu
und deine Treue ist groß.”

„Als meine Mutter das Amen gesagt hatte, da drehte sie den Kopf so'n bißchen nach links rum, als wenn da wer kommen tat. Und da ist auch einer gekommen; den habe ich nicht mit meinen Augen gesehen und nicht mit meinen Ohren gehört. Der hat sie bei der Hand genommen, und da ist ihre Seele ganz leise mitgegangen, richtig so, als wenn man aus einer Stube in die andre geht. So ist sie nach Hause gegangen, als wenn ein müdes Kind abends nach Hause geht. Und nun ist sie nicht mehr in einem fremden Lande.

Ich hatte das Fenster geöffnet, daß ihre Seele hinaus konnte. Es war dunkle Nacht, und durch die Bäume ging ein harter Wind. Die Lampe wollte ausgehen. Sie hatte lange gebrannt.

Ich war noch ein ganz kleiner Junge. Da hatte ich am Pfingstmorgen mal zu lange geschlafen, was eigentlich nicht sein soll, weil man dann Pingstekarr wird. Da wachte ich plötzlich auf, denn ich fühlte was Weiches in meinem Gesicht. So stand da meine Mutter an meinem Bett. Sie bückte sich über mich und strich mir mit einem kleinen Fliederstrauß über das Gesicht. Ganz leise tat sie das. Dabei sah sie mich freundlich an. Siehe, das ist meine erste Erinnerung an meine Mutter.” 

(Johannes Gillhoff, Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer)


Liebe Schwestern und Brüder,

das ist für mich eine der schönsten und tröstlichsten Schilderungen eines Todes. Wenn man diese Zeilen liest, denkt man, dass der Tod für den, der ihn erleidet, vielleicht doch nicht so schrecklich ist. Der amerikanische Dichter Walt Whitman hat einmal geschrieben: „And to die is different from what anyone supposed, and luckier” - „Und zu sterben ist ganz anders, als man dachte, und glücklicher”. Aber woher will er das wissen?
Was wir wissen ist, dass der Tod schrecklich ist für die, die zurückbleiben, und dass wir Angst vor dem Tod haben.

Als Jürnjakob Swehn den Tod seiner Mutter beschreibt, fällt ihm ein, wie sie ihn als Kind mit einem Fliederstrauß sanft geweckt hat. Im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter denkt er ans Aufstehen. Das ist sicherlich kein Zufall. Aufstehen und Auferstehen liegen dicht beieinander. Der Tod wird auch „Schlafes Bruder” genannt. Jedes Zubettgehen hat etwas vom Sterben. Denn im Schlaf gibt man sich aus der Hand, ist bewusstlos und wehrlos. Und jedes Aufstehen hat etwas von der Auferstehung: Man geht in einen neuen Tag wie in ein neues Leben. Wenn auch die Umgebung, die Mitmenschen, die Gewohnheiten und Pflichten dieselben sind wie gestern, bin ich doch nicht derselbe. Ich bin über Nacht ein anderer geworden. Jedenfalls bin ich nicht dazu verpflichtet, dieselbe oder derselbe zu bleiben, der ich gestern war. Ich habe durch die kleine Auferstehung am Morgen die Möglichkeit und das Recht, ein anderer zu werden, eine andere zu sein, als ich gestern noch war. Ich bin nicht dazu verdammt, auf einem Fehler, einer Schuld von früher sitzen zu bleiben. Gott hat sie mir vergeben, quasi über Nacht. Ich muss auch nicht den selben Fehler machen, den ich gestern noch machte. Ich kann es anders versuchen, neue Fehler machen und es am nächsten Morgen noch einmal probieren. Gott nagelt mich nicht auf das fest, was ich tat, auf den Menschen, der ich gestern noch war. Meine Mitmenschen tun das. Wir suchen im Anderen das Bekannte und Gewohnte. Wenn wir einen Menschen zu kennen meinen, haben wir uns ein Bild von ihr oder ihm gemacht. Es irritiert uns, wenn dieser Mensch sich dann als anders erweist, anders handelt, als wir es erwarten. Wir nehmen es diesem Menschen geradezu übel, wenn er oder sie unser Schubladendenken durcheinander bringt.

Gott ist da anders. Gott sieht uns nicht auf das hin an, was wir getan haben. Gott ordnet uns nicht in Schubladen, wie wir das mit anderen tun:

interessant - langweilig,
nett - unfreundlich,
schön - hässlich
dick - dünn,
fleißig - faul,
dumm - klug usw.

Gott sieht auf das hin, was wir tun können. Gott sieht unsere Möglichkeiten. Gott kennt unser Potenzial, unsere Stärken, unsere Gaben - er selbst hat sie uns geschenkt. Gott hat Hoffnungen für uns, aber keine Erwartungen an uns. Gott freut sich, wenn wir unsere Gaben einsetzen, aber ist nicht enttäuscht, wenn wir es nicht tun. So jedenfalls verstehe ich die Worte des Predigttextes:
„Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.”

Aber was hat das mit dem Thema dieses Sonntages, mit dem Tod, zu tun?

Der Tod ist das Ende aller Möglichkeiten, deshalb haben wir vor ihm Angst: Nie wieder tun können, was wir lieben, nie wieder schmecken, riechen, fühlen, sehen und hören - eine unerträgliche Vorstellung!
Und der Tod ist das Ende aller Beziehungen, deshalb ist er für die, die zurückbleiben, so schrecklich. Wenn jemand stirbt, bricht jeder Kontakt zwischen ihm und uns ab. Keine Gespräche, keine Umarmung, kein Trost, kein Kuss mehr. Keine Möglichkeit, sich zu entschuldigen, und keine Möglichkeit, Klarheit zu erlangen - eine unerträgliche Vorstellung.

Für uns Christinnen und Christen aber ist der Tod weder das Ende aller Möglichkeiten, noch das Ende aller Beziehungen. Denn wir haben den Tod nicht vor uns, wir haben ihn bereits hinter uns. Durch die Taufe sind wir mit Christus gestorben. Jesus hat an unserer Stelle Todesangst, Einsamkeit und sogar Gottverlassenheit erlitten. Er hat das für uns auf sich genommen, und bei unserer Taufe ist uns diese Erfahrung geschenkt - oder besser: abgenommen worden. Dadurch verlieren wir selbst im Tod nicht die Beziehung zu Gott. Wir sind durch die Taufe untrennbar mit Christus verbunden, und wir bleiben mit ihm verbunden, selbst im Tod. Und wie Jesus am dritten Tage von den Toten auferstand, so haben wir in der Taufe Anteil an der Auferstehung bekommen. So bleiben uns selbst im Tod und über den Tod hinaus noch Möglichkeiten. Nicht eine große Leere, ein Nichts wartet auf uns, sondern wahres Leben, das Gott uns schenkt.

Wie der Tod des Schlafes Bruder ist, so ist das morgendliche Aufstehen eine Schwester der Auferstehung. An jedem Morgen ist uns ein neuer Anfang geschenkt, dürfen wir anders handeln, andere sein, als wir gestern noch waren und taten. Gott ist mit uns barmherzig. Gott legt uns nicht fest auf unsere Vergangenheit, sondern gibt uns Möglichkeiten für die Gegenwart, gibt uns eine Zukunft. Denn „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.”

Samstag, 11. September 2021

Vom Bäumeausreißen

Ansprache zur Goldenen Konfirmation am 15. Sonntag nach Trinitatis, 12. September 2021, über Lukas 17,5+6:


Die Apostel sprachen zum Herrn: Stärke uns den Glauben!
Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiss dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.


Liebe Goldene Konfirmandinnen und Konfirmanden,
liebe Gemeinde,

bei einem goldenen Jubiläum blickt man unweigerlich zurück. Zurück auf 50 Jahre, die vergangen sind. Wo ist die Zeit nur geblieben!? 50 Jahre sei der Konfirmation, das waren Ausbildung oder EOS und Studium, erste Liebe und erster Liebeskummer. Das waren Freundschaft, Heirat, die Geburt der Kinder. Die berufliche Laufbahn mit einem tiefen Einschnitt im Jahr 1989/90, der für viele einen völligen Neuanfang bedeutete. Jetzt nähert sich die Zeit der beruflichen Tätigkeit dem Ende oder ist schon vom Ruhestand abgelöst worden.

50 Jahre seit der Konfirmation, das waren 18.262 Tage; die meisten davon Alltage. Es waren Tage voller Glück dabei, Tage, an denen man flog, und die man nie vergisst. Und es gab Tage voller Leid, voller Sorgen, voller Trauer.

Blickt man auf 50 Jahre zurück, sieht man, was man geschafft und geschaffen hat, welche Ziele man erreichte - und welche unerreicht blieben. Welche Träume sich erfüllten - und welche man vergessen hat, oder nicht mehr zu träumen wagt. Man bemerkt die Anzeichen des Alters, die Grenzen, die das Alter oder eine Erkrankung setzen. Man hat einen Schatz von Erfahrungen, einen Sack, prall gefüllt mit Erinnerungen, mit Geschichten, die erzählt werden wollen, von denen heute sicherlich einige erzählt werden, und die doch nur einen Bruchteil dessen darstellen, was Sie erlebt haben, was Sie zu den Menschen machte, die Sie heute sind.

Als Sie vor 50 Jahren als Konfirmandinnen und Konfirmanden aufgeregt und wahrscheinlich etwas frierend in der Kirche saßen, konnte niemand ahnen, was aus Ihnen einmal werden würde. Darum ging es damals auch nicht. Damals ging es um den ersten Schritt ins Leben, den ersten Schritt Richtung Erwachsensein. Ein Schritt, den manche kaum erwarten konnten: Die erste Zigarette. Das erste Glas Sekt. Der erste Kuss. Alles aufregend, alles neu. 

Damals, vor 50 Jahren, ging es auch um den Glauben. Die Konfirmation, das war Ihr Ja zur Taufe, Ihr Ja zu einem Leben als Christin oder Christ. Im Konfirmandenunterricht wurde davon gesprochen, bei der Konfirmation wurde es Ihnen gepredigt. Neben all dem aufregend Neuen -  der gespannten Erwartung auf die Familienfeier, die Geschenke, neben dem noch ungewohnten Anzug, dem neuen Kleid, war da wohl auch ein Gefühl des Ergriffenseins: Bei der Handauflegung beim Segen, beim ersten Abendmahl spürten Sie, dass es auch um Gott ging bei Ihrer Konfirmation.

Deshalb blicken Sie heute auch auf 50 Jahre Erfahrungen mit dem Glauben zurück. Wahrscheinlich würden sich die wenigsten von Ihnen als Expertinnen oder Experten auf dem Gebiet des Glaubens bezeichnen. Für viele von Ihnen wird der Glaube keine große Rolle gespielt haben in den vergangenen 50 Jahren. Trotzdem, so behaupte ich, sind Sie alle glaubenserfahren; Sie alle sind Glaubensexperten. Darum passt der Predigttext des heutigen Sonntags so gut zu Ihrer Goldenen Konfirmation:

Die Apostel sprachen zum Herrn: Stärke uns den Glauben!
Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiss dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.

„Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn …”

Wohl jeder, der diese Worte hört, sagt sich: Oh je, wie winzig klein mein Glaube ist! Denn mit meinem Glauben reiße ich keine Bäume aus. Also ist mein Glaube nicht einmal senfkorngroß!

Zugegeben, es gibt kleinere Samenkörner. Aber den Glauben mit einem Senfkorn zu vergleichen, ist schon eine ziemliche Unverschämtheit: Wenn mein Glaube so winzig sein soll, kann man auch gleich sagen, dass ich ungläubig bin.

Jesus liebt es, zu provozieren - auch hier. Seine Jünger bitten ihn um Stärkung ihres Glaubens. Das heißt doch: Sie meinen, sie hätten zuwenig, sie hätten gerne mehr. Warum? Wären sie gern „heiliger”, frommer als die anderen? Haben sie Angst, ihr Glaube könnte nicht reichen, könnte sich als zu schwach erweisen - was er ja auch tut: Als Jesus verhaftet wird, lassen sie ihn alle im Stich. Aber nach seiner Auferstehung werden sie zu den Aposteln, die aller Welt den christlichen Glauben verkündigen. Ihr Glaube hat also doch gereicht.

Ich denke, Jesus wusste oder ahnte das, und hielt den Glauben seiner Jünger nicht für zu wenig. Dennoch gibt er diese provozierende Antwort: Wenn ihr nur ein Fitzelchen Glauben hättet, könntet ihr damit einen ganzen Baum ausreißen! Und die Jünger - und auch wir heute - müssen kleinlaut zugeben, dass unser Glaube das nicht kann.

Aber wer käme auch schon auf so eine Idee, mit dem Glauben einen Baum ausreißen zu wollen? Hat er, würde man gleich fragen, nichts Wichtigeres zu tun? Wenn einer einen solchen Glauben hätte, würde er nicht als erstes den Hunger in der Welt abschaffen, die Kriege beenden, das Coronavirus bekämpfen und den Krebs und andere Krankheiten besiegen, bevor er mit seinem Glauben einen Baum ausreißt? Auch zu Jesu Zeiten hätte man mit seinem Glauben etwas besseres anzufangen gehabt als das.

Wer also kommt auf so eine verrückte Idee, mit dem Glauben einen Baum ausreißen zu wollen?
Ich würde sagen: Konfirmanden.
Jugendliche lesen und sehen gern Geschichten von Menschen mit außergewöhnlichen, unglaublichen Fähigkeiten wie „Superman”, „X-Men” oder „Avengers”. Wäre es nicht schön, wenn man auch so eine besondere Fähigkeit hätte? Vielleicht steckt ja auch in mir eine Heldin, vielleicht habe auch ich eine Superkraft, vielleicht bin auch ich ein Genie?

Konfirmanden wären, wenn man tatsächlich einen Baum durch den Glauben ausreißen könnte, wahrscheinlich nicht einmal überrascht. Sie würden einfach ihr Smartphone zücken und es filmen. Konfirmanden wäre deshalb eine solche Glaubensprobe zuzutrauen. Sie empfinden noch keine Verantwortung. Sie kämen nicht gleich auf die Idee, dass man die Kraft des Glaubens nicht für solch sinnlose Beweise, sondern nur für etwas Sinnvolles und Gutes benutzen darf.

Mit dem Glauben einen Baum ausreißen - ein solcher Wunsch ist der eines Jugendlichen. Wenn man älter wird, hat man immer noch solche Wünsche - wie ja auch Erwachsene von den Superhelden  fasziniert sind. Aber man weiß jetzt, dass man keine Superkräfte hat, dass man kein Genie ist und auch keine Heldin. Deshalb will man auch keine Bäume mehr ausreißen. Und irgendwann kann man es nicht mehr, allein schon wegen dem Rücken.

Die provozierende Antwort, die Jesus gibt, sagt also zweierlei:
Einmal sagt sie: Ihr braucht nicht mehr Glauben. Ihr habt genug. Denn euer Glaube ist keine Fähigkeit,  die ihr aus euch selbst hervorbringt. Er ist eine Kraft, die Gott euch schenkt. Er kommt über euch wie die Liebe - alles, was ihr tun könnt, ist, sich dieser Kraft zu überlassen, sich in den Glauben fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er einen trägt, wie die Liebe. Wie bei der Liebe, kann es auch beim Glauben Enttäuschungen geben. Aber das heißt nicht, dass der Glaube zu klein war. Sondern dass man noch einmal von vorn beginnen muss.

Das andere ist: Ihr könnt tatsächlich Bäume ausreißen. Weil der Glaube von Gott kommt, ist er eine Superkraft. Jeder, der glaubt, ist ein Supermann, eine Superfrau. Denn der Glaube verleiht uns Flügel;  dazu braucht man nicht einmal Brause zu trinken. Er lässt uns fliegen, und wir sehen, dass wir immer kleiner werden, wie viele Menschen es gibt, die liebenswert sind und die unsere Zuwendung brauchen, und wie groß und wunderbar unsere Welt ist. Wir sehen, was man alles tun könnte, und wir sehen, was wir alles tun könnten - was wir immer noch tun können, trotz Rücken.

Jesus macht seinen Jüngern und uns Mut, ihrem Glauben zu vertrauen und ihn nicht gering zu schätzen. Er macht ihnen und uns Mut, auf die Kraft des Glaubens zu vertrauen, die größer ist als unsere Vernunft und unsere Vorstellungen weit übersteigt. Das bedeutet nicht, dass wir Wunder tun können. Aber vielleicht haben wir verlernt, an Wunder zu glauben und ein Wunder zu erkennen, wenn es vor unseren Augen geschieht?

Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Erfahrungen mit Ihrem Glauben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie ihm etwas zutrauen, weil er nicht zu klein, nicht zu gering ist. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich von ihm tragen und inspirieren lassen. Ich wünsche Ihnen, dass er Sie an Ihre Träume erinnert, die Sie einmal  geträumt haben.
Es ist nicht zu spät, sie Wirklichkeit werden zu lassen.

Amen.

Samstag, 4. September 2021

Elf Regeln für eine Gemeinde

Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis, 5. September 2021, über 1.Thessalonicher 5,14-24

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man als Kind zum ersten Mal in den Kindergarten geht, bekommt man viele gute Ratschläge mit auf den Weg: „Pass an der Straße auf, immer erst nach rechts und links sehen! Geh nicht mit Fremden mit!”
Dasselbe passiert, wenn man in die Schule kommt: „Pass gut im Unterricht auf! Sei höflich zu deiner Lehrerin! Trödele nicht auf dem Heimweg!”
Sogar, wenn man von zuhause auszieht, bekommt man noch Ratschläge mit auf den Weg: „Achte auf dein Geld! Pass auf, dass du nicht in schlechte Gesellschaft gerätst!”
Die Ratschläge sind eher Ausdruck der Liebe und Sorge der Eltern, als das sie ernstlich gehört würden - dazu ist man viel zu aufgeregt und mit dem Neuen beschäftigt, das vor einem liegt. Sie werden ja auch nicht zum ersten Mal gegeben. Sie waren ein Teil der Erziehung, von Haltung und Lebenseinstellung der Eltern, die sie an ihre Kinder weitergaben. Denn sie wussten: Sie gehen ihren Lebensweg, ohne dass die Eltern sie beschützen und helfen konnten. Und sie sorgten sich, ob sie ihren Kindern das Nötige mitgaben, um das Leben bestehen und die richtigen Entscheidungen treffen zu können.

Wie Eltern ihren Kindern, gibt Paulus seiner Gemeinde in Thessaloniki gute Ratschläge mit auf den Weg. Er hat diese Gemeinde gegründet, hat ihr von Jesus erzählt und ihr gezeigt, wie man als Gemeinde zusammenlebt. Er ist längst weitergezogen, die Gemeinde muss nun ohne ihn auskommen. Darum zählt er am Ende seines Briefes an die Gemeinde noch einmal auf, worauf es ihm ankommt. Und weil das, worauf es Paulus ankommt, nicht nur wichtig für seine damalige Gemeinde ist, sondern für jede Gemeinde, möchte ich es mir mit Ihnen einmal ansehen.

An den Anfang setzt Paulus vier Aufforderungen:

  1. die Zügellosen oder Trägen ermahnen;
  2. die Mutlosen ermutigen;
  3. die Hilfsbedürftigen unterstützen und
  4. mit allen Geduld haben.

Paulus möchte, dass die Gemeinde aufeinander achtet. An die Gemeinde in Korinth schreibt er ganz ähnlich (1.Kor 12,26): „Wenn ein Mitglied leidet, leiden alle Mitglieder mit, und wenn ein Mitglied geehrt wird, freuen sich alle Mitglieder mit.”
Heute haben wir das Gegenseitige Kümmern an andere abgegeben - „outgesourct”, sagt man - an Kindergärten und Schulen, an Pflegedienste und Betreuungseinrichtungen. Gut, dass es sie gibt. Sie leisten, was wir wohl so nicht schaffen könnten. Aber das entbindet uns nicht davon, aufeinander zu achten, indem wir Grenzen setzen oder an Grenzen erinnern; indem wir Menschen helfen, in die Gänge zu kommen; indem wir Menschen Mut machen, ihnen Raum und Gelegenheit geben, sich einzubringen; indem wir einander helfen und - ja, indem wir den Menschen auch manchmal auf den Wecker gehen. So zeigen wir ihnen, dass sie uns nicht egal sind.
Dieses geduldige aufeinander Achten setzt Paulus an erste Stelle. Es ist das Wichtigste, es ist das, was eine Gemeinde ausmacht. Dadurch, dass andere nach mir fragen oder sich für mich interessieren, spürt man auch, dass man zur Gemeinde gehört, dass das hier auch meine Gemeinde ist. Dabei ist Geduld sehr wichtig. Jede und jeder hat ihr eigenes Tempo, ihr eigenes Bedürfnis nach Nähe und Distanz. Die gilt es, herauszufinden und zu respektieren - und nicht davon auszugehen, dass alle anderen brauchen und gut finden, was ich brauche und gut finde.

Die nächsten drei Aufforderungen beschreiben, wie eine Gemeinde sein soll:

  1. immerzu fröhlich
  2. unablässig betend und
  3. dankbar für alles.

Fröhlichkeit kann man nicht befehlen. Wie soll man fröhlich sein, wenn man Kummer hat, Schmerzen, Sorgen oder mit dem falschen Fuß aufgestanden ist? Aber man kann fröhlich werden. Wenn die Gemeinde kein Häuflein griesgrämiger, mutloser, mürrischer Gestalten ist, sondern man sich auf die Gemeinde freuen kann. Weil man hier freundlich empfangen wird, vielleicht sogar mit einem Lächeln. Weil sich alle hier Mühe geben, dass eine herzliche Atmosphäre entsteht. Dafür braucht es nicht viel. Im Gleichnis erzählt Jesus von einem, der zur Hochzeit eingeladen war und in Alterskleidung erschien. Er wurde herausgeworfen, weil er kein Festgewand trug (Mt 22,12). Unser Festgewand, das ist unser Bemühen, dass dieser Gottesdienst für uns und andere schön wird. Dazu braucht man nichts Besonderes anzuziehen. Aber vielleicht ein Lächeln, eine freundliche Geste. Das Mitsingen und Mitsprechen, wenn man es kann. Wenn wir uns alle um die Gemeinde bemühen, kann man auch mal niedergeschlagen oder missmutig zur Kirche kommen, weil man weiß, dass die anderen einen aufrichten - so, wie man selbst mithilft, andere aufzurichten, wenn es einem besser geht.
So ist auch das Beten ohne Unterlass zu verstehen. Nicht, dass wir jede freie Minute zum Beten nutzen oder gar unablässig ein Gebet vor uns hin murmeln. Die Gemeinde als Ganze betet. Und nicht nur sie - die weltweite Christenheit, mit der wir verbunden sind, betet mit. In jedem Augenblick, an jedem Tag des Jahres wird irgendwo auf der Welt ein Gebet gesprochen (EG 266,3), das uns mit einschließt. Und auch hier wird viel miteinander und füreinander gebetet. So entsteht ein Gebetsteppich, in den jede und jeder ihren Faden mit einknüpft. Ein Gebetsteppich, der alle trägt und uns als fliegender Teppich in den Himmel hebt.
Das Dritte, die Dankbarkeit, leitet über zum Glauben. Eine gute Gemeinschaft, in der man aufeinander achtet, kann auch im Sportverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr entstehen - und wie schön, wenn das so ist! Aber dass man weiß, dass man das, was man hat und ist, nicht sich selbst, sondern Gott verdankt: das gibt es nur in der Gemeinde. Die Gemeinde entsteht auch dadurch, dass wir gemeinsam Gott danken für unser wunderbares Leben, für diese Welt, für das Geschenk des Glaubens und der Gemeinde. Dass wir uns gemeinsam auf Gott beziehen und nach Gott fragen.

Auf dieses Fragen nach Gott beziehen sich die vier Punkte, die Paulus zum Schluss aufzählt. In der Gemeinde werden auch mal Tische gerückt, Kaffee gekocht, die Kirche geputzt oder der Friedhof hergerichtet. Aber wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen, singen, beten und danken wir - und denken. Zu diesem Nachdenken stellt Paulus vier Regeln auf:

  1. den Geist nicht dämpfen;
  2. die Prophetie nicht verachten;
  3. alles kritisch prüfen und
  4. sich vom Bösen jeder Art fernhalten.

Der Geist weht, wo er will (vgl. Joh 3,8). Nachdenken über Gott und den Glauben bedeutet nicht nur, dass man die Lehren unserer Mütter und Väter im Glauben hört und versteht. Es bedeutet auch, offen zu sein für Neues, auf andere, neue Ideen zu kommen und sie zuzulassen - um sie dann kritisch zu prüfen.
Das gilt auch für die Predigt. Das, was früher die Propheten waren, sind heute die Predigerinnen und Prediger: Sie sagen Gottes Wort für unsere Welt an. Nicht immer gefällt, was sie sagen. Nicht immer ist es gut gesagt. Nicht immer ist es richtig. Aber was sie sagen, verdient die Chance, gehört und geprüft zu werden.
Diese kritische Prüfung ist Aufgabe der Gemeinde. Martin Luther hat ihr eine eigene Schrift gewidmet. Darin zeigt er, dass die Gemeinde anhand der Bibel Pastorinnen und Pastoren beurteilen kann und soll. Nicht im Sinne einer Prüfungskommission. Niemand muss sich hier examinieren lassen. Es bedeutet vielmehr, dass die Gemeinde eine theologische Kompetenz hat, mit der sie über eine Predigt und über den Glauben urteilen, nachfragen, verstehen und weiterdenken kann - und das auch tun sollte.

Auch eine Gemeinde ist kein Paradies. Wir sind nun einmal Menschen, und darum menschelt es zwischen uns. Wir mögen nicht jede, und wir können nicht jede mögen. Aber wir können unsere Streitigkeiten vor der Kirchentür lassen. Wir müssen uns, wenn wir einander schon nichts Gutes wünschen können, wenigstens nichts Schlechtes wünschen. Wir können uns um den Frieden, den wir beim Abendmahl zugesprochen bekommen, auch untereinander ernsthaft bemühen. Wir können verhindern, dass Böses mit einzieht, wenn wir in die Kirche gehen.

Elf Aufforderungen, die Paulus seiner Gemeinde und uns ins Stammbuch schreibt. Aufforderungen, keine Gebote. Paulus traut uns zu, dass wir so eine Gemeinde sein können. Paulus traut uns zu, dass wir eine Gemeinde sein können, weil Gott uns genau dazu berufen hat. Mit seiner Berufung gibt Gott uns alles, was nötig ist, um in einer Gemeinde zu sein - um heilig zu sein. Heilig sein bedeutet nämlich nicht, mit einem Leuchtreifen auf dem Kopf herumzulaufen. Heilig sein bedeutet, sich zu bemühen. Sich zu bemühen um Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit und Frieden. Sich zu bemühen, weil Gott uns das alles bereits geschenkt hat, seine Barmherzigkeit, sein freundliches Angesicht, mit dem er auf uns und unser Leben sieht, und seinen Frieden.

Als Gemeinschaft der Heiligen sind wir miteinander unterwegs im Namen und im Auftrag unseres Herrn, bis er eines Tages wiederkommt. So lange wir gemeinsam unterwegs sind, sind wir als Gemeinde unterwegs. So lange wir unterwegs sind, dürfen wir uns seiner Unterstützung sicher sein in dem Bemühen, Heilige zu sein. Denn „treu ist der, der euch berufen hat. Er wird's auch tun!”

Amen.