Samstag, 29. April 2017

Was möchtest du werden?

Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 30. April 2017, über Ezechiel 34,1-16

Liebe Schwestern und Brüder,

was möchtest du mal werden, wenn du groß bist?
Das werden Kinder von Erwachsenen gefragt.
Das wurden auch wir gefragt, als wir Kinder waren.
Was haben wir da geantwortet?

Oft vielleicht nur mit den Schultern gezuckt:
diese Frage war noch weit, so weit weg.

Oder gesagt, was Vati oder Mutti machten;
das wollten wir auch mal tun:
Traktorist oder Krankenschwester,
Verkäuferin oder Schlosser.

Oder wir nannten die Berufe,
von denen Kinder zu jeder Zeit träumen:
Lokführer und Astronautin,
Pilotin und Prinzessin.

Was möchtest du mal werden, wenn du groß bist?
Ich glaube, niemand von uns wollte Hirtin oder Hirt werden.
Schon zu meiner Kindheit war dieser Beruf so gut wie ausgestorben.
Mein Vater erzählte mir,
wie er als Kind noch die Kühe hüten musste;
wie er und die anderen Jungen sich, um die Zeit zu vertreiben,
aus Spitzwegerich "Kuckucksstühle" flochten
oder Flöten aus Weidenzweigen bauten,
die man schneiden musste, wenn der Saft in ihnen aufstieg,
damit die Rinde abging, die man vorsichtig mit dem Messerrücken losklopfte …
Damals gab es noch richtige Langeweile.
Denn was macht man den ganzen Tag,
wenn man den Kühen beim Fressen,
Wiederkäuen und Dösen zuschaut?
Das war vor 70 Jahren.

Heute sind Hirten selten geworden.
Man sieht ab und zu mal einen im Fernsehen,
oder fährt an einer Schafherde vorbei.
Trotzdem berühren diese alten Worte noch immer unser Herz:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.
Wir können die Sicherheit und Geborgenheit spüren,
die diese alten Worte vermitteln,
wir wissen, was ein Hirte tut,
auch wenn wir selbst keinen mehr kennen:
Das Schwache stärken,
das Kranke heilen,
das Verwundete verbinden,
das Verirrte zurückholen
und das Verlorene suchen 
und dafür sogar die 99 anderen Schafe zurücklassen.

Hirten sind selten geworden.
Und doch wissen wir genau,
was eine Hirtin, ein Hirte tut.
Weil wir selbst Hirtinnen und Hirten waren oder sind:
Wir waren oder sind Hirtinnen und Hirten unserer Kinder.
Und wir versuchen, gute Hirten für sie zu sein:
Wir machen sie stark für das Leben
- körperlich, aber vor allem,
indem wir ihnen so viel Liebe und Bestätigung geben wie möglich.
Wir machen uns Sorgen, wenn sie krank sind.
Wir kleben ein Pflaster auf die Wunde,
wenn sie sich das Knie aufschlagen, und pusten.
Wir ertragen, dass sie manchmal Umwege gehen,
nicht genau wissen, was sie wollen.
Und wir gehen ihnen nach, wenn wir uns gestritten haben, wir suchen die Versöhnung.
Das alles - und oft noch weit mehr - tun wir für unsere Kinder.

Manche sind solche guten Hirten auch für ihre Eltern oder Großeltern, die sie pflegen;
für Geschwister, die Probleme haben
oder nach einem Schicksalsschlag nicht wieder auf die Beine kommen;
für eine beste Freundin, einen besten Freund.

Ja, wir wissen, was ein guter Hirte ist und was er tut.
Und wir bemühen uns selbst,
gute Hirtinnen und Hirten zu sein.
Manche von uns sind sogar hauptberuflich Hirtinnen oder Hirten geworden.
Als Krankenschwester oder Pfarrer,
als Ärztin oder Erzieher,
als Politikerin, Mitarbeiter der Verwaltung oder Lehrerin sollen sie tun,
was eine gute Hirtin, ein guter Hirte tun sollte:
Das Schwache stärken,
das Kranke heilen,
das Verwundete verbinden,
das Verirrte zurückholen
und das Verlorene suchen.
Aber oft tun sie es nicht.
Die Krankenschwester hat keine Zeit,
sich den Patienten zuzuwenden;
es ist zu wenig Personal da.
Der Pfarrer wohnt nicht in der Gemeinde.
Man sieht ihn kaum, trifft ihn nicht auf der Straße.
Die Ärztin hört gar nicht richtig zu,
wenn man seine Geschichte erzählen will;
draußen warten noch so viele andere Patienten.
Die Erzieherin, der Lehrer - nehmen sie mein Kind überhaupt wahr?
Wissen sie, so wie ich, was es braucht, was ihm fehlt?
Und die Politiker - wollen die überhaupt noch etwas verändern,
oder denken sie bloß an ihre Diäten und an die nächste Wahl?

Wir sind unzufrieden mit unseren Hirten.
Sie sind manchmal weit davon entfernt, gute Hirten zu sein.
Mancherorts gibt es sogar gar keine Hirten mehr:
Landärzte werden immer weniger;
bei Fachärzten muss man ein halbes Jahr warten,
wenn man überhaupt angenommen wird.
Gemeinden werden zu Landgemeinden zusammengelegt;
jetzt sollen noch größere Verwaltungseinheiten geschaffen werden.
Pfarrstellen werden gestrichen;
die Pfarrerin wohnt jetzt drei Dörfer weiter.
Im Kindergarten, den man sich wünschte,
gibt es keinen Platz mehr.

Wenn es keine Hirten mehr gibt
- wer kümmert sich dann um uns?
Und auf wen soll man dann noch schimpfen?
Wen wundert es da, wenn Menschen sich abwenden
von der Politik, von der Gemeinde,
vom Verein, von der Kirche.
Sie sind zu oft enttäuscht worden.

Wer selber einmal Hirte war
- als Mutter oder Vater,
oder in einem Beruf, in dem man für Menschen da sein soll -,
weiß, wie schwer es ist, eine gute Hirtin, ein guter Hirte zu sein.
Man möchte sein Bestes geben,
aber man ist doch auch nur ein Mensch.
Hat Sorgen, die einen beschäftigen und ablenken,
so dass man nicht richtig zuhört, geistesabwesend ist.
Hat Ärger zuhause, auf der Arbeit,
und plötzlich bricht er aus einem heraus,
weil man den Druck nicht länger halten kann;
dann bekommt es der Patient ab, und es tut einem leid.
Man wird enttäuscht von denen, die man hütet
- dem Kind, den Patienten, den Schülern, der Gemeinde -,
weil sie so gar nicht wahrnehmen,
wie sehr man sich müht,
wie viel man investiert,
wie erschöpft man ist.

Und wenn man dann mal eine Pause macht, heißt es gleich:
Du denkst nur an dich!
Wenn man nach immer nur geben sich auch mal etwas gönnen will,
wird man beneidet.
Wenn man auch mal etwas von denen möchte, für die man so viel getan hat,
wird man im Stich gelassen.

Mit den Hirtinnen und Hirten ist es eine vertrackte Angelegenheit:
Wenn man sie braucht, sind sie oft nicht da,
oder sie enttäuschen einen.
Und man selbst ist auch nicht immer perfekt in seiner Rolle als Hirtin oder Hirt
und ist dann von sich enttäuscht.
Kann ein Hirte es seinen Schafen überhaupt jemals wirklich recht machen?
Und sind die Schafe überhaupt jemals zufrieden mit ihrem Hirten?
„Ich selbst will meine Schafe weiden,
und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der Herr.
Ich will das Verlorene wieder suchen
und das Verirrte zurückbringen
und das Verwundete verbinden
und das Schwache stärken
und, was fett und stark ist, behüten;
ich will sie weiden, wie es recht ist.“
Aus dem Hirtendilemma können wir uns selbst nicht befreien:
Als Schafe sind wir unzufrieden mit den Hirten,
und als Hirten können wir es den Schafen nicht recht machen.
Wir sind immer beides, Hirten und Schafe,
wir enttäuschen andere und werden enttäuscht.
Weil wir dieses Dilemma selbst nicht lösen können,
greift Gott ein.
Gott wird unser Hirte, wie wir es im 23. Psalm gebetet haben.
Ein Hirte, der tut, was eine gute Hirtin, ein guter Hirte tun sollte:
Das Schwache stärken,
das Kranke heilen,
das Verwundete verbinden,
das Verirrte zurückholen
und das Verlorene suchen.
Und der das richtig tut, nicht halbherzig, nicht so nebenbei,
wie wir manchmal, wenn wir müde oder erschöpft sind.
Auch nicht unwillig oder genervt,
nicht, indem er eine der anderen vorzieht,
sondern zugewandt und gerecht.

Aber woher wissen wir, dass Gott das tut?
Wann haben wir das je erlebt?
Sind es nicht bloß Worte -
tröstende, Mut machende, zu Herzen gehende Worte:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“,
aber eben bloß Worte?
Das Dilemma bleibt,
dass wir schlechte Hirten sind
und unter schlechten Hirten leiden.

Den guten Hirten gab es tatsächlich.
Deshalb ist er hier, in unserer Kirche,
auf dem Fenster zu sehen.
Wir haben es im Evangelium gehört.
Jesus sagt von sich:
„Ich bin der gute Hirte“.
Jesus hat das Hirtendilemma aufgelöst,
auf eine ziemlich einfache, aber geniale Weise:
Der gute Hirte ist zum Sündenbock geworden.
Er hat auf sich genommen,
was wir all den Hirtinnen und Hirten vorwerfen,
die uns so oft enttäuschen.
Er hat auf sich genommen,
worin wir als Hirtinnen und Hirten so oft versagen.
Er wurde der Sündenbock für uns,
damit wir aufhören können, andere Hirten zu kritisieren.
Und damit wir aufhören können,
uns selbst schuldig zu fühlen,
weil wir nicht so gute Hirtinnen und Hirten sind, wie wir sein müssten.
Jesus, der Hirte, hat sich zum Sündenbock machen lassen,
damit wir uns nicht mehr davor scheuen müssen,
an seiner statt Hirtinnen und Hirten zu sein.
Statt auf eine Hirtin, einen Hirten zu warten,
nehmen wir die Sache selbst in die Hand.
Statt zu kritisieren, machen wir es besser - oder zumindest auf unsere Art falsch.

Jesus stärkt uns, wenn wir schwach sind.
Jesus heilt uns, wenn wir krank sind.
Verbindet das Verwundete,
holt das Verirrte zurück,
sucht uns, wenn wir uns verloren haben.

Nicht auf magische Weise tut er das,
nicht mit einem Wunder.
Sondern indem er Menschen bewegt,
unsere Hirtin, unser Hirt zu werden.
In ihnen begegnet er uns.

Es geschieht in solchen Begegnungen,
das sich das Hirtendilemma auflöst:
Dass wir einer guten Hirtin, einem guten Hirten begegnen.
Dass wir gute, dankbare, glückliche Schafe sind.

Und es geschieht in Worten, die nur Worte sind,
die aber unser Herz berühren und es erfüllen und uns träumen lassen:
„Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“.
Manchmal, da ergreifen einen diese Worte.
Und dann weiß man, was man sein will:
Dann möchte man ein Hirte sein.

Amen.

Samstag, 15. April 2017

Fürchtet euch!

Predigt am Ostersonntag über Matthäus 28, 1–10

Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria von Magdala und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn der Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Gestalt war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erschraken aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern, dass er auferstanden ist von den Toten. Und siehe, er wird vor euch hingehen nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt. Und sie gingen eilends weg vom Grab mit Furcht und großer Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu verkündigen. Und siehe, da begegnete ihnen Jesus und sprach: Seid gegrüßt! Und sie traten zu ihm und umfassten seine Füße und fielen vor ihm nieder. Da sprach Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht hin und verkündigt es meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen: Dort werden sie mich sehen.


Liebe Schwestern und Brüder!

„Fürchtet euch nicht!“
Wovor sollten wir uns fürchten?
Davor, dass der verrückte Präsident der USA
einen Konflikt mit Nordkorea provoziert,
der leicht in einen Krieg ausarten könnte?
Warum sollte uns das überhaupt interessieren?
Korea ist weit, weit weg.
Und die vielen anderen Kriege in der Welt
haben uns doch bisher auch nicht gestört …

„Fürchtet euch nicht!“
Wovor sollten wir uns fürchten?
Davor, dass durch die Klimaerwärmung die Gletscher schmelzen,
die Ozeane steigen und die Küsten durch Sturmfluten bedroht werden,
das Wetter immer heftiger, extremer und unberechenbarer wird?
Ach was! Die sollen erstmal beweisen,
dass die Klimaerwärmung mit unserem Lebensstil zusammenhängt!
Außerdem ist ja gar nicht gesagt,
dass es so schlimm kommt, wie es vorhergesagt wird
- der Wetterbericht stimmt ja auch oft nicht.
Und außerdem: Bis zu uns kommt das Wasser bestimmt nicht!

„Fürchtet euch nicht!“
Wovor sollten wir uns fürchten?
Davor, dass die Fässer mit Atommüll,
die man leichtfertig im Salzbergwerk Asse bei Salzgitter versenkt hat,
durchrosten, weil Wasser in den Salzstock dringt,
und eines Tages das Grundwasser verseucht wird?
Na, wenn schon!
Es dauert Jahrhunderte, bis das bei uns ankommt.
Da leben wir doch schon alle längst nicht mehr.
Außerdem: Wo liegt überhaupt Salzgitter?

II
„Fürchtet euch nicht!“
Doch, wir fürchten uns.
Vor dem Verlust unseres Wohlstands.
Vor der Konkurrenz am Arbeitsmarkt.
Vor dem Älterwerden.
Vor dem Krebs.
Davor, dass die Rente nicht reicht.
Vor den Terroristen.
Vor den Ausländern.
Vor den Nazis.
Wir fürchten die Einsamkeit.
Wir fürchten uns vor der Dunkelheit.
Wir haben Angst, zu versagen
in der Schule,
bei der Arbeit,
im Bett.
Wir haben Angst, wenn unsere Eltern sich streiten.
Wir haben Angst um unsere Kinder.
Wir fürchten, keine Freunde zu finden.
Nicht schön zu sein.
Nicht klug zu sein.
Wir fürchten, unsere Partnerin, unseren Partner zu verlieren.
Unsere Eltern.
Wir fürchten uns vor dem Tod.
Wir fürchten uns.

Das, was uns unmittelbar betrifft,
das fürchten wir.
Da haben wir oft mehr Angst als nötig.
Da haben wir oft zuviel Angst, die uns lähmt.

Das, was weit weg ist, was uns nichts angeht,
das nehmen wir auf die leichte Schulter.

Wie ist es mit Gott?
Fürchten wir Gott?

III
„Fürchtet euch nicht!“
Die Frauen am Grab fürchten sich.
Nicht, weil sie Angst vor Zombies hätten, vor Untoten.
Nicht, weil sie Rilkes „Duineser Elegien“ gelesen hätten:
„das Schöne ist nichts
als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“
Die Frauen am Grab fürchten sich vor Gott.

Die Menschen der Bibel fürchteten Gott.
Sie bedeckten ihr Gesicht, um Gott nicht ansehen zu müssen (1.Könige 19,13),
„denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Exodus 33,20).

„Gott fürchten“, das bedeutet nicht,
in ständiger Angst vor Gott zu leben.
Von Mose wird erzählt, dass er mit Gott redete „wie mit einem Freund“ (Exodus 33,11).
Abraham widerspricht Gott (Genesis 18);
Gideon macht einen Deal mit ihm (Richter 6),
und Jona flieht vor ihm,
wird vom Meeresungeheuer verschlungen,
wieder ausgespuckt und hat dann noch die Chuzpe,
sich bei Gott zu beschweren.
Man muss keine Angst vor Gott haben.
Man kann mit Gott reden, verhandeln, streiten.
Was bedeutet dann aber „Gott fürchten“?

Es bedeutet, Respekt vor Gott zu haben.
Respekt hat man vor jemandem,
der stärker, beliebter oder mächtiger ist als man selbst.
Ein Reicher, ein Politiker, ein Industriemanager, ein Star:
Sie können sich unseres Respektes gewiss sein.
Man merkt sofort, wen man da vor sich hat,
wen man einem von ihnen begegnet,
und wird quasi automatisch einen Kopf kleiner,
macht brav einen Diener und ist froh,
dass diese hohen Damen und Herren
einen überhaupt eines Blickes gewürdigt haben.

IV
Für uns ist Gott der „liebe Gott“.
Vor einem lieben Gott braucht man keine Angst zu haben.
Vor einem lieben Gott hat man aber auch keinen Respekt.
Denn was kann ein lieber Gott uns schon tun?
Nichts!
Denn sonst wäre er ja nicht lieb.

Wenn wir so von Gott denken,
haben wir Ostern gründlich missverstanden.
Gott, der in Jesus Mensch wurde,
gab sich in die Hände der Menschen.
Und die Menschen taten,
was sie immer mit dem Wunderbaren,
dem Schönen und Einzigartigen tun:
Sie machen es kaputt.
Die Menschen konnten das Wunder, das Jesus ist,
nicht am Leben lassen.
Sie mussten es zerstören aus Rohheit, aus Bosheit und aus Neugier,
wie ein Kind etwas kaputt macht,
um herauszufinden, was es ist, wie es funktioniert.
Jesus wurde kaputt gemacht, um zu sehen,
ob er wirklich Gott ist.
Und als man mit ihm fertig war,
stand auch das Urteil fest:
Das ist ja nur ein Mensch.
Bis heute ist das das Urteil über die Religion:
da sei doch nichts dahinter.
Gott gäbe es nicht,
und all das, was die Bibel berichtet,
seien nur Märchen.
Es ist ein Urteil,
das über alles Wunderbare, Einzigartige und Schöne gefällt wird.

Jesus setzte sich bewusst diesem Missverständnis aus.
Er setzte sich dem Missverständnis aus,
dass der Verzicht auf Gewalt Schwäche bedeutet.
Denn Liebe und Gewalt gehen nicht zusammen.
Jesus aber war die Liebe.
Und in ihm zeigte sich die Macht der Liebe.
Die Liebe war am Ende stärker als die Gewalt,
stärker als die Bosheit und Rohheit der Menschen,
stärker sogar als der Tod.

Die Gottesfurcht, die uns Ostern lehren will,
ist der Respekt vor der Liebe.
Das Eintreten für das Wehrlose, Zarte, Zerbrechliche.
Das Bewahren des Schönen, Wunderbaren, Einzigartigen.
Der Respekt vor der Liebe zeigt sich im behutsamen Umgang mit allem,
was schön und zerbrechlich ist - mit unserer Natur, z.B.
Im Respekt vor dem Kleinen.
Die Schnecke, den Käfer auf dem Weg zertritt man nicht.
Das Haustier quält man nicht.
Die Pflanze, die sich mühsam ihren Platz zwischen den Steinen erkämpfte, reißt man nicht aus.
Kinder behandelt man nicht von oben herab.
Man bevormundet sie nicht.
Man fährt ihnen auch nicht über den Mund,
man fällt ihnen nicht ins Wort.
Menschen beurteilt man nicht nach ihrem Äußeren.
Man sortiert sie nicht in Schubladen.
Man lernt, ihre verborgene Schönheit zu sehen,
die jeder Mensch besitzt.

V
„Fürchtet euch nicht!
Die Frauen am Grab fürchten sich,
weil sie erkennen, dass sie vor Gott stehen.
Sie fürchten nicht um ihr Leben.
Sie empfinden vielmehr „mit Furcht und großer Freude“ die Macht,
die in diesem Moment am Werk ist:
die Macht der Liebe.

Es ist eine Macht, die man nicht beherrschen kann.
Man kann sie nicht sehen,
man kann sie nicht messen.
Man kann sie mit Leichtigkeit zerstören
durch Rohheit, Bosheit und Gewalt.
Aber damit zerstört man nur die Liebe in sich selbst,
die eigene Menschlichkeit.
Die Liebe kann man damit nicht zerstören.
Sie kommt immer wieder hervor,
wie das Unkraut zwischen den Steinen,
wie die Glut in der Asche,
wie die Flamme,
die uns auf der Osterkerze vom Sieg der Liebe erzählt.
Amen.

Die christliche Verschwörung


Predigt in der Osternacht, 15. April 2017, über Jesaja 26,  13–14 (15–18) 19
Eine Homilie

HERR, unser Gott, es herrschen wohl andere Herren über uns als du, aber wir gedenken doch allein deiner und deines Namens. Tote werden nicht lebendig, Schatten stehen nicht auf; darum hast du sie heimgesucht und vertilgt und jedes Gedenken an sie zunichte gemacht. Du, HERR, mehrst das Volk, du mehrst das Volk, beweist deine Herrlichkeit und machst weit alle Grenzen des Landes. HERR, wenn Trübsal da ist, so suchen wir dich; wenn du uns züchtigst, sind wir in Angst und Bedrängnis. Gleich wie eine Schwangere, wenn sie bald gebären soll, sich ängstigt und schreit in ihren Schmerzen, so geht's uns auch, HERR, vor deinem Angesicht. Wir sind auch schwanger und uns ist bange, und wenn wir gebären, so ist's Wind. Wir können dem Lande nicht helfen, und Bewohner des Erdkreises können nicht geboren werden. Aber deine Toten werden leben, deine Leichname werden auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau, und die Erde wird die Toten herausgeben.


Liebe Schwestern und Brüder,

warum tun wir uns das an?
Warum kommen wir zu einer Zeit,
in der die meisten gemütlich auf dem dem Sofa sitzen und fernsehen,
in dieser kalten Kirche zusammen,
sitzen auf harten Bänken
und nehmen teil an einer Feier,
die den Shows im Fernsehen niemals das Wasser reichen kann?

Sind wir masochistisch veranlagt?
Haben wir es gern unbequem und ungemütlich?
Ist es so, wie manche meinen,
dass dem christlichen Glauben etwas Selbstquälerisches anhaftet,
dass Christinnen und Christen keine fröhlichen Menschen sind,
sondern mit schlechtem Gewissen und permanenten Schuldgefühl durchs Leben schleichen?

Warum sind wir nicht auch über Ostern in Urlaub gefahren?
Warum machen wir uns nicht auch einen netten Abend in der Kneipe, bei Freunden oder auf dem heimischen Sofa?

HERR, unser Gott,
es herrschen wohl andere Herren über uns als du,
aber wir gedenken doch allein deiner
und deines Namens.
Wir kommen heute Abend zusammen,
weil wir Verschwörer sind.
Das waren die Christen schon immer:
eine verschworene Gemeinschaft,
kritisch beäugt vom Staat und seinen Organen.
Weil Christen den Staat nicht als höchste Autorität anerkennen,
sind sie dem Staat suspekte Subjekte.
Deshalb treffen wir uns in kalten, ungemütlichen Kirchen.
Hier sind wir unter uns.
Hier trauen sich die anderen nicht hinein:
Der Gedanke schreckt sie ab,
sich vom bequemen Sofa zu erheben,
um stundenlang auf harten Bänken in einem unbeheizten Raum zu sitzen.
Hier stärken wir einander in der Überzeugung,
dass die sogenannten Herren dieser Welt
einen Herren über sich haben.
Und dass dieser Herr unser Herr ist,
zu dem wir gehören,
der auf unserer Seite ist.
Das macht uns fähig und ermutigt uns,
kritisch zu sein dem Staat gegenüber.
Dinge beim Namen zu nennen, die faul sind im Staate.
Ein Wort für Schwache und Benachteiligte einzulegen.
Und den sogenannten Herren deutlich zu machen,
dass sie auch nur einfache Sterbliche sind,
wie wir alle.

Tote werden nicht lebendig,
Schatten stehen nicht auf;
darum hast du sie heimgesucht und vertilgt
und jedes Gedenken an sie zunichte gemacht.
Wir kommen heute Abend zusammen,
weil wir uns keine Illusionen machen.
Wir brauchen keine Show, keine Lichteffekte, keine Stars.
Wir wagen es, den Tod beim Namen zu nennen,
über den andere ängstlich schweigen;
den sie verdrängen, so lange es irgend geht.
Und wir wissen, dass Ruhm vergänglich ist.
Standbilder der ach so Mächtigen werden gestürzt.
Portraits der Führer und großen Vorsitzenden abgehängt und in den Müll geworfen.
Wer fragt heute noch nach ihnen?

Du, HERR, mehrst das Volk,
du mehrst das Volk,
beweist deine Herrlichkeit
und machst weit alle Grenzen des Landes.
Wir kommen heute Abend zusammen,
weil wir nicht glauben, dass die Deutschen aussterben.
Wir glauben nicht an den Untergang des christlichen Abendlandes.
Wir glauben nicht, dass wir unsere Grenzen schließen müssen vor denen,
die um Asyl bei uns und um Hilfe bitten.

Gott fragt nicht danach, welchen Pass wir besitzen.
Gott fragt danach, was wir für unsere Mitmenschen tun,
unsere Schwestern und Brüder.
Nicht nur die Leiblichen Geschwister.
Auch in der Gemeinde sprechen wir uns als Schwestern und Brüder an.
Denn wir sind Geschwister Jesu, der unser Bruder wurde;
wir nennen Gott unseren Vater und sind seine Kinder.
Das gilt für alle Christen in der ganzen Welt,
nicht nur für die in unserem Land.

Du, Gott, sorgst für uns.
Du nimmst uns die Angst vor dem Fremden.
Du zeigst uns, wie wir unseren Reichtum teilen können,
so dass noch mehr als genug für uns übrig bleibt.
Wir entdecken, in wie vielen Sprachen man dich loben kann,
auf wie viele unterschiedliche Weisen.
Dass das keine Bedrohung ist für unsere Art, Gottesdienst zu feiern,
sondern eine Bereicherung.

HERR, wenn Trübsal da ist,
so suchen wir dich;
wenn du uns züchtigst,
sind wir in Angst und Bedrängnis.
Wir kommen heute Abend zusammen,
weil wir bei dir, Gott, Trost suchen.
Du kennst unseren Kummer und unsere Sorgen.
Dir können wir sie mitteilen;
mit dir können wir sie teilen.
Du trägst sie für uns ein Stückchen,
nimmst sie uns für einen Augenblick ab,
dass wir verschnaufen können.
Wenn wir dann unsere Lasten wieder schultern,
scheinen sie uns etwas leichter geworden zu sein.

Wenn wir zu dir kommen, Gott,
sehen wir aber auch, wie wir wirklich sind.
Da geht es nicht um Bauchansatz oder Orangenhaut,
nicht um die 5 in der Physikklausur
oder den Stinkefinger,
dem wir dem Drängler auf der Autobahn zeigten.

Uns wird bewusst, wo wir dir ausgewichen sind.
Wo wir dir nicht unter die Augen treten konnten oder wollten.
Uns wird bewusst, wo wir dir die Tür vor der Nase zuschlugen.
Wo wir dir unversöhnlich ein Gespräch verweigerten oder eine Gabe,
uns nicht entschuldigen wollten oder konnten.

Plötzlich denken wir:
Der Bettler, der uns seine schmutzige Hand entgegenstreckte, das warst vielleicht du.
Du warst die nervige Nachbarin,
die wir abwimmelten, weil wir uns nicht schon wieder ihr Gejammer anhören wollten.
Du warst der Punk, der uns um einen Euro anschnorrte.
Du bist uns in so vielen Menschen begegnet.
Oft haben wir die Gelegenheit verpasst,
uns dir zuzuwenden, dir etwas Gutes zu tun.

Wie eine Schwangere, wenn sie bald gebären soll,
sich ängstigt und schreit in ihren Schmerzen,
so geht's uns auch, HERR, vor deinem Angesicht.
Wir sind auch schwanger und uns ist bange,
und wenn wir gebären, so ist's Wind.
Wir können dem Lande nicht helfen,
und Bewohner des Erdkreises können nicht geboren werden.
Wir kommen heute Abend auch zusammen,
weil wir um unsere Grenzen und unsere Ohnmacht wissen.
Die Probleme der Menschheit sind zu groß
und zu sehr miteinander verknüpft,
als dass sie sich mit einem Schlag lösen ließen.
Der Terror des "Islamischen Staates" lässt sich nicht mit dem Abwurf einer Bombe stoppen,
und sei sie noch so groß.
Die Klimaerwärmung verzögert sich nicht,
wenn man die Heizung um eine Stufe herunter dreht.
Die soziale Ungerechtigkeit wird nicht dadurch abgeschafft,
dass man den Ausländern die Schuld daran gibt.

Wir wissen um die Grenzen unserer Möglichkeiten,
die Grenzen unseres Wissens.
Darum misstrauen wir den einfachen Lösungen.
Wir misstrauen auch den Versprechungen der Industrie,
sie könne unser Leben verbessern und vereinfachen und verlängern,
und die Lösung für alle Probleme der Menschheit wäre nur eine Frage der Zeit und des Geldes.

Aber deine Toten werden leben,
deine Leichname werden auferstehen.
Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde
Denn ein Tau der Lichter ist dein Tau,
und die Erde wird die Toten herausgeben.
Vor allem kommen wir heute Abend zusammen,
weil wir eine gemeinsame Hoffnung haben
und einen Traum miteinander teilen.
Die Schönheit dieser Hoffnung ergreift uns,
so dass wir sie fast nicht bemerken,
die harten Bänke und die kalte Kirche.

Wir feiern, dass dieser Traum heute Nacht wahr wird.
Wir feiern die Auferstehung Jesu:
Den Sieg der Liebe über alle Mächte des Todes
- und über den Tod selbst.

Die Liebe besiegt den Tod.
Sie wird uns helfen,
Gewalt, Krieg und Terror zu beenden.

Die Liebe sucht Gerechtigkeit für alle.
Sie wird uns helfen,
die Güter dieser Erde an alle zu verteilen.

Die Liebe erkennt den Schöpfer in jedem Geschöpf.
Sie wird uns helfen,
unsere Erde zu schützen und zu bewahren.

Jesus ist auferstanden.
Darum können wir aufstehen, jeden Tag neu.
Aufstehen nach jeder Niederlage, jeder Enttäuschung.
Aufstehen nach jedem Fehler, jeder Kränkung.
Aufstehen nach jedem Irrtum, jeder Verletzung.

Heute Abend kommen wir zusammen,
weil wir Verschwörer sind.
Wir haben uns der Liebe verschworen.
Der Liebe, die heute Nacht den Tod besiegt
und ihre wahre Macht zeigt.
Wir werden sie heute Abend mit nach Haus nehmen.
Verletzlich, wie die Flamme des Osterlichtes.
Aber so mächtig,
dass sie uns, unsere Mitmenschen und die ganze Welt verändert.
Amen.

Freitag, 14. April 2017

Hilf dir selbst!

Predigt am Karfreitag, 14. April 2017, über Lukas 23,33-49

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ein Mensch stirbt,
verstummt nicht nur der Sterbende.
Auch man selbst wird sprachlos.
Was soll man auch sagen?
Der Tod bemächtigt sich dieses Menschen.
Man kann nichts dagegen tun,
muss tatenlos zusehen, wie es geschieht.
Proteste nützen nichts gegen den Tod.
Und Mut machen kann man auch nicht mehr,
wo man selbst alle Hoffnung verloren hat.

Dabei wäre noch so viel zu sagen,
auch, wenn der Sterbende es vielleicht nicht mehr hört.
Wie lieb man ihn hat, z.B.
Das man nicht weiß, wie es ohne ihn weitergeht.
An welche schönen Momente mit ihm man sich erinnert.

Aber in der Zeit des Abschiednehmens fällt einem das meist nicht ein; man verstummt.
Es fällt einem auch deshalb nicht ein,
weil das Abschiednehmen ambivalent ist,
zu deutsch: mehrdeutig.
Da sind Gefühle der Trauer, der Verzweiflung, der Ohnmacht;
liebevolle Gefühle und Dankbarkeit dem Sterbenden gegenüber.

Aber dazwischen mischen sich auch -
und das mag man sich gar nicht eingestehen -
Gefühle der Erleichterung, auch Zorn und Wut.
Erleichterung stellt sich besonders nach einer langen und belastenden Phase der Krankheit ein,
wenn man selbst immer wieder an seine Grenzen kam,
todmüde ist und einfach froh,
dass diese Belastung jetzt vorbei ist.
Erleichterung stellt sich auch ein,
wenn das Verhältnis zum Sterbenden ambivalent war,
wenn man auch viel von ihm erleiden und erdulden musste.
Wut und Zorn empfindet man,
weil man zurückbleibt und sich alleingelassen fühlt.
Dafür kann der Sterbende nichts,
aber trotzdem ist es so.
Man bleibt zurück mit seinem Schmerz.
Mit all den Sorgen und Problemen,
die dieser Tod hinterlässt.
Auch mit den Alltagspflichten, dem Papierkram,
die bisher der Sterbende übernommen hatte,
und ist damit überfordert.

Auch das Sterben Jesu hat diese Ambivalenz,
diese Mehrdeutigkeit.
Bei seinem Sterben am Kreuz
sind die ambivalenten Gefühle auf verschiedene Personen verteilt.
Wir erleben sie mit, weil sein Sterben öffentlich ist.
Es findet nicht in der Intimität und Abgeschiedenheit eines Zimmers statt,
das Neugierige und Schadenfrohe ausschließt,
sondern unter freiem Himmel.
Jesus ist am Kreuz preisgegeben und zur Schau gestellt,
und sein Sterben ist es auch.
Alle Verzweiflung und Angst,
jede Attacke des Schmerzes, jede Qual
ist gnadenlos an seinem Gesicht ablesbar.

Auch beim Sterben Jesu verstummen alle,
die ihm in Liebe oder Freundschaft verbunden sind.
Sie sind da, nehmen von fern Anteil an seinem Leid,
aber sie finden keine Worte.
Anders seine Gegner.
Sie haben viel zu sagen.
Jeder verpasst ihm sozusagen noch einen Tritt
durch eine Kränkung, eine Beleidigung,
die er ihm hinterherruft.
Bemerkenswert ist, dass es dreimal der selbe Satz ist.
Obere, Soldaten und auch einer der mit ihm gekreuzigten Verbrecher provozieren Jesus auf dieselbe Weise.
Sie rufen: „Hilf dir selbst!“

Ein geschmackloser Scherz gegenüber einem,
der an Händen und Füßen festgenagelt ist
und sich nicht einmal jucken kann.
Als würde man einem Blinden sagen:
„Pass doch auf, wo du hintrittst!“
Kann sein, dass jemand meinte,
dass ein so geschmackloser Scherz gut zur Situation der Kreuzigung passt.
Der Satz war schon beim ersten Mal nicht komisch;
ihn dreimal hören zu müssen, geht wirklich zu weit.
Es sei denn, es hätte eine besondere Bewandtnis mit diesem Satz.

„Hilf dir selbst!“ - für die, die wissen, wer Jesus wirklich ist,
steht außer Frage, dass er es könnte.
So sagt Jesus selbst im Johannesevangelium:
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Wäre mein Reich von dieser Welt,
meine Diener würden darum kämpfen,
dass ich den Juden nicht überantwortet würde“
(Johannes 18,36).

Jesus könnte sich retten.
Er könnte sich Leid und Tod ersparen.
Aber er tut es nicht.
Warum?

Eine Antwort könnte lauten:
Weil er es nicht kann.
Dann wäre Jesus ein Aufschneider, ein Hochstapler,
der zwar einen so grausamen Tod nicht verdient hätte,
wohl aber den Spott seiner Gegner.

Aber die andere Antwort ist verstörend:
Weil er es nicht will.
Kann man sich das vorstellen?
Kann man sich vorstellen,
dass jemand freiwillig gräßliche, unerträgliche Schmerzen auf sich nimmt,
das Ausgespanntsein zwischen Himmel und Erde,
preisgegeben der Willkür, den Blicken, dem Spott?
Kein Mensch würde das freiwillig tun!

Kein Mensch nimmt freiwillig Schmerzen auf sich.
Wenn etwas weh tut, geht man zum Arzt
oder nimmt eine Tablette.
Niemand käme auf die Idee, die Schmerzen auszuhalten.
Man würde jedem einen Vogel zeigen,
der das von einem verlangte.

Und ebenso:
Wenn einen jemand schlägt,
schlägt man zurück, wenn man kann.
Wenn einen jemand kränkt oder beleidigt,
zahlt man es ihm beim Gelegenheit heim.
Wenn einen jemand bestiehlt,
zeigt man ihn an.
Man lässt sich nichts gefallen.

Jesus hilft sich nicht selbst,
und er tut es absichtlich.
Er könnte sich helfen, aber er will es nicht.
Denn er weiß:
Er kann den Teufelskreis der Vergeltung,
das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“,
nur durchbrechen, indem er auf Gegenwehr verzichtet.
Das war für seine Zeitgenossen unbegreiflich.
Es ist auch für uns noch unbegreiflich,
dass jemand so mit sich umgehen lässt
und sich nicht dagegen wehrt.
Jesus musste bis zum bitteren Ende durchhalten,
sich nicht zu wehren,
damit das schreiende Unrecht deutlich wird,
dass hier ein ganz und gar Unschuldiger,
dass hier die Liebe selbst getötet wird;
bis zur Sprachlosigkeit,
bis zum scheinbaren Sieg des Todes.

Dann, und erst dann, wird die Liebe,
wird Jesus seine tatsächliche Macht erweisen.
Die Liebe wird sich als mächtiger erweisen als der Tod.
Sie wird sich erheben über Schmerzen,
Leid, Gemeinheit, Ungerechtigkeit und Bosheit.
Nicht in der Geste des Triumphators,
der seine Feinde zerschmettert,
zerbombt, in den Staub tritt.
Sondern in der liebevollen Geste einer Mutter,
die ihrem Kind vorsichtig Schmutz und Blut
vom aufgeschlagenen Knie wischt.
Es tröstet, obwohl es gerade gemein war,
obwohl es der Mutter böse Worte gesagt
oder etwas sehr Leichtsinniges oder Dummes getan hat.

Jesus, die Liebe, geht den bitteren Weg am Kreuz bis ganz zuende
- und ist am Ende stärker als Kreuz und Leid.
Nun müssen wir angesichts des Todes nicht mehr verstummen.
Nun müssen wir nicht mehr schweigen zu Unrecht und Ungerechtigkeit.
zu Bosheit und Gemeinheit,
zu Lieblosigkeit und Unmenschlichkeit.
Nun wissen wir es besser:
Wir wissen, dass die Liebe das Unrecht nicht duldet.
Die Liebe duldet es nicht,
dass Menschen leiden müssen,
ungerecht oder lieblos behandelt werden.
Dann spannt sie ihre Muskeln,
dann erweist sie ihre ganze Macht und Stärke.

Jesus hält bis zum bitteren Ende durch,
sich nicht selbst zu helfen.
Darum sind wir in Ohnmacht und Hilflosigkeit niemals allein.
Darum können wir sogar aushalten,
das Sterben anderer mit anzusehen,
weil wir wissen, dass der Tod keine Macht mehr hat,
weil unsere Liebe stärker ist.
Darum müssen wir nicht zurückschlagen,
wenn man uns schlägt,
nicht vergelten, wenn man uns beleidigt.

„Hilf dir selbst!“
Jesus hat sich nicht geholfen,
damit er uns helfen und beistehen kann.
Selig ist, wer das versteht.
Amen.

Donnerstag, 13. April 2017

Verräter wie Judas

Predigt am Gründonnerstag, 13. April 2017, über Markus 14,17-26



Sie sitzen zu zwölft an einer langen Tafel.
Sie sitzen nicht um den Tisch herum, wie wir.
Sie haben sich alle auf einer Seite versammelt,
damit wir in ihre Gesichter sehen können.
Der Tisch, vielleicht ein paar lange Bohlen,
die über zwei Böcke gelegt wurden,
ist mit einem Damasttuch bedeckt.
Das Essen darauf wirkt nicht sehr üppig:
Kleine Brote, eher Brötchen.
Zwei Platten mit Fleisch, Schalen mit Tunke.
Kleine Gläser, halb gefüllt mit Wein.
Keine Lichter, kein Besteck, keine Deko.
Ein bescheidenes Mahl.

Aber das Essen scheint für die Zwölf,
die am Tisch sitzen, Nebensache zu sein.
Sie diskutieren aufgeregt.
Einige sind vor Erregung aufgesprungen.
Ans Essen denkt keiner von ihnen.
In Dreiergruppen stehen oder sitzen sie zusammen.
Alles dreht sich um den Dreizehnten,
der seelenruhig in ihrer Mitte sitzt.
Über ihn diskutieren sie,
an ihn wenden sie sich,
vorwurfsvoll, abwehrend, oder flehend.

Aber der in der Mitte achtet nicht auf sie.
Er ist ganz in sein Tun versunken.
Die Rechte greift nach einem Brot,
die Linke zeigt auf eines:
„Das ist mein Leib.“

Die Zwölf hören es nicht.
Sie sind zu sehr beschäftigt mit dem,
was er kurz zuvor gesagt hat:
„Wahrlich, ich sage euch:
Einer unter euch, der mit mir isst,
wird mich verraten.“

Leonardo da Vinci hat auf seinem Abendmahlsbild diesen Moment festgehalten:
Den Augenblick, in dem die Jünger begreifen,
was Jesus da gerade gesagt hat:
„Einer unter euch, der mit mir isst,
wird mich verraten.“

An den Gesten der Jünger können wir ihre Reaktion auf diese Worte erkennen.
Auf der linken Seite erhebt einer im gelben Hemd die Hände:
„Ich auf keinen Fall!“, scheint er zu sagen.
Ganz rechts diskutieren drei über das Gehörte.
Sie wirken verstört, verständnislos:
„Wie kann er nur so etwas von uns denken?“
Die Dreiergruppe rechts von Jesus reagiert am heftigsten:
Einer droht ihm mit dem Zeigefinger:
„Das lasse ich mir nicht von dir gefallen!“;
ein anderer breitet die Arme aus,
als wolle er seine Unschuld beteuern.
Ein dritter fasst sich kummervoll an die Brust:
„Du meinst doch nicht etwa mich?!“

Am interessantesten aber ist die Gruppe links von Jesus.
Da lehnt sich ein weißbärtiger Mann zu einem Jüngling hinüber, als wollte er ihm etwas zuflüstern.
Was er ihm wohl sagt?
Die Antwort darauf finden wir nicht im Markusevangelium,
sondern bei Johannes,
der die Szene der Ankündigung des Verrats ebenfals beschreibt.
Dort heißt es:
„Es war aber einer unter seinen Jüngern,
den Jesus lieb hatte.
Der lag bei Tisch an der Brust Jesu.
Dem winkte Simon Petrus, dass er fragen sollte,
wer es wäre, von dem er redete.“

Jesus aber verrät den Verräter nicht.
Seine Antwort:
„Einer von den Zwölfen,
der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht“,
stellt niemanden bloß.
Sie alle werden im Laufe das Essens ihr Brot mit ihm zusammen eintunken,
sie essen alle aus einer gemeinsamen Schüssel.
Aber wir kennen den Verräter.
Wir haben ihn längst erkannt
- daran, dass er sich im Vordergrund befindet;
- daran, dass er gleichzeitig mit Jesus nach dem Brot greift;
- daran, dass er als einziger unbeteiligt scheint;
- daran, dass sein Gesicht im Dunkeln liegt.
„Denn man sieht nur die im Lichte,
die im Dunkeln sieht man nicht.“
- Vor allem aber daran,
dass seine rechte Hand einen Beutel umklammert hält.
Judas ist es.
Judas, der Kassenwart der Jünger.
Judas hält den Beutel,
in dem sich jetzt vermutlich 30 Silberlinge befinden …

Da sitzt er, Judas, der Verräter.
Wir sehen ihn, die meistgehasste Person der ganzen Passionsgeschichte.
Geschenkt, dass Jesus sterben musste.
Dass deshalb einer nötig war, der ihn verriet.
Geschenkt, dass Judas keine Wahl hatte,
nachdem die Wahl auf ihn gefallen war.
Er hat Jesus verraten.
Und hatte Jesus nicht gesagt:
„Weh dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird!
Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre“?

Verrat. Eines der schlimmsten Verbrechen überhaupt.
Trotzdem kein Grund, dem Verrat in der Schilderung des letzten Abendmahls so viel Raum zu geben.
Gibt es nicht Wichtigeres als Judas, den Verräter?
Auch Leonardo scheint sich auf seinem Bild mit dieser Frage auseinanderzusetzen:
Während die Jünger noch diskutieren und gestikulieren,
ist Jesus längst weiter, bei den Einsetzungsworten:
„Das ist mein Leib“, scheint er gerade zu sagen.
Die Jünger aber achten gar nicht auf ihn.
Allenfalls der im grünen Hemd rechts von ihm,
der so unschuldig die Arme ausbreitet,
ist mitten in seiner Bewegung erstarrt
und blickt gebannt auf die linke Hand Jesu.
Er hat ihn gehört - und verstanden.

Warum spielt der Verrat beim letzten Abendmahl eine so große Rolle,
und warum beschäftigen wir uns heute Abend damit,
wo wir doch Abendmahl feiern wollen?

Judas ist der Kassenwart der Jünger.
Er hat den Beutel mit den Spenden, den Almosen,
aus dem er die Miete für diesen Saal bezahlt.
Er hat auch das Essen bezahlt.
Zwischen den Spenden und Almosen befinden sich die 30 Silberlinge,
die er für das Versprechen bekam,
Jesus auszuliefern.
Er wird es später, als er bereut und es zu spät ist,
denen vor die Füße werfen, die ihn bestachen,
und sie werden es „Blutgeld“ nennen.
Judas steht in diesem Bild und im Evangelium stellvertretend für --- uns,
die wir auch zwischen Geld und Gott hin- und hergerissen sind.

Wie sollten wir wie Judas sein!?!
Diese Unterstellung weisen wir ebenso empört ab wie die Jünger die Worte Jesu,
dass einer von ihnen ihn verraten würde.
Wir sind doch keine Verräter!?!

Erinnern wir uns an ein anderes Wort Jesu:
„Niemand kann zwei Herren dienen:
entweder wird er den einen hassen und den anderen lieben,
oder er wird an dem einen hängen und den anderen verachten.
Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“.

Auch wir verraten Gott, immer wieder.
Wir verraten Gott an das Geld.
Im Kleinen unseres privaten Lebens wie im Großen der Kirche.
An der Kirche wird es besonders deutlich,
wie sehr wir uns dem Geld unterworfen haben:
Fast alles, was wir tun,
richtet sich nach dem Geld,
dreht sich ums Geld,
wird vom Geld bestimmt.
Und auch im Privaten sind wir nicht so frei,
wie wir zu sein glauben:
Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes;
die Sorge um die Zukunft, um unsere Altersversorgung hat uns fest im Griff -
und damit hat das Geld, der Mammon uns fest im Griff.
Es geht nicht ohne Geld.
Wir können uns ein Leben ohne Geld nicht vorstellen.
Wir können uns nicht einmal ein Leben mit weniger Geld vorstellen.
Dadurch verraten wir Gott, jeden Tag, immer wieder.
Dadurch sind wir nicht besser als Judas:
Auch wir liefern um ein paar Silberlinge andere ans Kreuz.
Oder meinen Sie, die Menschen aus dem Süden würden die lebensgefährliche Fahrt über das Mittelmeer antreten,
wenn sie es in ihrer Heimat so gut hätten wie wir hier bei uns?
Meinen Sie, Kinder müssten noch arbeiten,
wenn wir gerechte Preise für unsere Kleidung bezahlen würden?
Meinen Sie, chinesische Arbeiter, die unsere Smartphones zusammenbauen,
würden noch zu Tode kommen,
wenn sie gerecht behandelt und bezahlt werden würden?

Wir sind alle Judasse.
Nicht die Jünger, sondern er, der Verräter,
ist unser Stellvertreter auf dem Bild und im Evangelium.
Aber anders als für Judas,
der sich aus Reue über seinen Verrat das Leben nahm,
gibt es für uns ein Happy End.
Die gute Nachricht, die schon Judas galt, lautet:
Jesus verurteilt uns nicht,
wie er Judas nicht verurteilte.
Judas, der Verräter, durfte am Abendmahl teilnehmen.
Er hatte Anteil an Jesus wie die elf anderen.
Jesus vergab ihm ebenso wie seinen anderen Jüngern.
Wie Jakobus und Johannes,
die im Garten Gethesemane einschliefen,
obwohl er sie gebeten hatte, zu wachen.
Wie Petrus, der dreimal leugnete, ihn zu kennen.

Jesus vergibt auch uns.
Er weiß, wie wir sind.
Er weiß, dass wir oft nicht anders können,
dass wir nicht aus unserer Haut können.
Er weiß, wie sehr das Geld uns im Griff hat.
Er will uns aus dieser Umklammerung des Geldes befreien.
Ein erster Schritt dazu wäre,
sich diese Abhängigkeit vom Geld einzugestehen.
Zu gestehen: „Ja, Herr. Ich bin's, der dich verrät.“

Gebe uns Gott den Mut dazu.
Amen.