Donnerstag, 30. November 2017

Eine neue Geschichte

Predigt am 1. Advent, 3.12.2017, über Apok 5,1-14:

Ich sah: In der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, war ein Buch, beschrieben von innen und von hinten, das war mit sieben Siegeln versiegelt.

Und ich sah: Ein mächtiger Engel verkündete mit gewaltiger Stimme:
- Wer ist würdig, das Buch zu öffnen und seine Siegel zu brechen?
Aber niemand im Himmel noch auf der Erde noch unter der Erde konnte das Buch öffnen oder gar hineinsehen. Da weinte ich sehr, weil sich niemand würdig fand, das Buch zu öffnen oder gar hineinzusehen.
Aber einer der Ältesten sprach zu mir:
- Weine nicht! Du weißt doch, der „Löwe aus dem Stamm Juda“, die „Wurzel Davids“ hat gesiegt und kann das Buch öffnen und seine sieben Siegel.

Und ich sah: Mitten zwischen dem Thron, den vier Tieren und den Ältesten stand ein Lamm, das sah aus wie geschächtet. Es hatte sieben Hörner und sieben Augen - das sind die sieben Geister Gottes, die er über die ganze Welt sendet. Und es kam und nahm es aus der rechten Hand dessen,  der auf dem Thron sitzt. Als es das Buch genommen hatte, fielen die vier Tiere und die vierundzwanzig Ältesten nieder vor dem Lamm. Jeder hatte eine Laute und goldene Schalen, die mit Räucherwerk gefüllt waren - das sind die Gebete der Heiligen. Und sie sangen ein neues Lied:
- Würdig bist du, das Buch zu nehmen
und seine Siegel zu brechen,
weil du geschächtet bist
und hast Gott mit deinem Blut
aus jedem Volksstamm, jeder Sprache,
jeder Nation und jeder Volksgruppe Menschen freigekauft.
Du hast sie unserem Gott zum Königtum und zu Priestern gemacht,
und sie werden über die Erde herrschen.

Und ich sah: Ich hörte die Stimme vieler Engel rings um den Thron, und die Stimmen der Tiere und der Ältesten, und ihre Zahl war Myriaden über Myriaden und Tausend mal Tausend.
Sie riefen mit gewaltiger Stimme:
- Würdig ist das Lamm, das geschächtet wurde,
an sich zu nehmen die Macht
und Reichtum und Weisheit und Stärke
und Ehre und Preis und Lob.
Und jedes Geschöpf im Himmel und auf der Erde und unter der Erde und auf dem Wasser und alles, was in ihm ist, hörte ich singen:
- Dem, der auf dem Thron sitzt und dem Lamm
sei Lob und Ehre
und Preis und Macht
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Und die vier Tiere sprachen: Amen.
Und die Ältesten fielen nieder und beteten an.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

was für eine befremdliche, ja gruselige Szenerie:
Tiere, Menschen, Engel, und mittendrin ein Lamm „wie geschächtet“,
also mit einem blutigen Schnitt am Hals.
Über allem thront jemand, der ein eigenartiges Buch in der Hand hält.
Ist das ein sneak-preview des neuen Star-Wars-Films, der diese Tage in die Kinos kommt?

Es ist eine Vision.
Der Seher Johannes „schaut“ diese Szene,
wie immer man sich das vorstellen mag -
sieht er sie vor seinem geistigen Auge?
Träumt er sie?
Befindet er sich in Ekstase?
Hat er Drogen genommen?
Jedenfalls ist er selbst mitten drin - und weint!
Der Seher Johannes weint wie jemand,
der seinen Willen nicht bekommt,
der bitter enttäuscht ist.
Er weint, weil das Buch verschlossen bleibt.

I. Wann hat man jemals so unbedingt und dringend wie der Seher Johannes ein Buch lesen wollen?
Ich erinnere mich, dass ich es kaum erwarten konnte,
bis der neueste Harry Potter erschien.
Und ich stelle mir vor, dass es manchen Eltern schwer fallen könnte,
das Tagebuch ihrer Tochter oder ihres Sohnes nicht zu lesen.
Manche wird vielleicht auch die Versuchung kennen,
mal in das Notizbuch oder den Kalender der Partnerin, des Partners zu schauen.

Ein geschlossenes Buch kann Neugier wecken.
Um so mehr, je mehr man sich von dessen Inhalt verspricht.
Ein geschlossenes Buch - ist das überhaupt ein Buch?
Es ist nur eine Hülle, ein Kokon,
aus dem die Geschichte erst schlüpfen muss.
Aber wie kommt sie heraus?
Sie wird herausgelesen.
Die Leserin erweckt die Geschichte und ihre Figuren zum Leben.
Das geschieht in ihrem Kopf, oder, wenn sie laut liest,
in den Köpfen ihrer Zuhörerinnen
- wie eben beim Lesen des Predigttextes.
Die Geschichte ist zwar nur in den Köpfen,
aber weil sie im Kopf jeder und jedes einzelnen von uns ist,
steht sie damit auch im Raum,
weil sie etwas mit uns macht
- uns verwirrt, oder verzaubert, oder verwandelt.

II. a) Das Buch, das der Seher Johannes sieht, ist sehr besonders:
Sein Inhalt quillt über, ergießt sich sogar auf die Rückseite des Buches.
Und es ist besonders sicher verschlossen, mit sieben Siegeln.
Was für eine gefährliche, explosive Geschichte muss es enthalten,
wenn sie so gut gesichert ist!
Es findet sich ja auch niemand, der dieses Buch lesen kann
- was den Seher zum Weinen bringt.
Niemand bringt die Voraussetzung mit, dieses Buch zu öffnen und zu lesen.
Was kann das nur für ein Text sein, den niemand auf der ganzen Welt lesen kann?

Das Buch erzählt vom Ende der Welt, vom Endgericht,
von dem wir im Glaubensbekenntnis sprechen:
„von dort wird er kommen,
zu richten die Lebenden und die Toten“.
Ein Ende mit Schrecken für alle, die Unrecht taten.
Das Endgericht bringt denen Gerechtigkeit,
die Unrecht erleiden mussten.
Es erfüllt die flehentlichen Bitten derer,
die verfolgt wurden, die leiden mussten,
die um einen kranken Menschen bangten.
Es macht aus Ersten Letzte und aus Letzten Erste.

b) Warum wird dieses wunderbare Buch so streng unter Verschluss gehalten?
Es ist doch genau das, was wir uns so sehr wünschen:
Gerechtigkeit auf der Welt,
und die Erfüllung unserer sehnlichsten Wünsche
nach Frieden,
nach Gesundheit,
nach einer sauberen und heilen Umwelt;
nach einem Gott, den man nicht mehr suchen muss,
sondern von dem man weiß, wo er zu finden ist.

Wir Menschen haben immer wieder versucht,
die Siegel dieses Buches mit Gewalt zu brechen.
Der Kommunismus wollte Gerechtigkeit für alle durchsetzen - und ist dabei an sich selbst gescheitert.
Der Faschismus wollte seine Art der Gerechtigkeit für die eigenen Leute erzwingen.
Er wurde besiegt, bleibt aber nach wie vor eine Versuchung für viele, die meinen, sie hätten mehr und Besseres verdient als andere.
Der Terrorismus tritt in die Fußtapfen des Faschismus, wenn er mit Gewalt Gerechtigkeit für die eigenen Leute erstreiten will.

Jeder Versuch, Gerechtigkeit mit Gewalt herbeizuführen,
hat Unrecht, Not und Elend über die Menschen gebracht.
Und selbst unsere ehrenwerten Versuche,
den Menschen in den Krisengebieten mit Soldaten beizustehen
und den Terrorismus mit Gewalt zu bekämpfen,
erzeugen wieder nur neue Opfer, neues Unrecht.

c) Das ist der Grund, warum niemand auf der Welt in der Lage ist, das Buch zu öffnen und zu lesen.
Warum aber das Lamm?
Was kann das Lamm, das niemand sonst kann?

Das Lamm, das haben Sie sich sicher schon gedacht, ist Jesus.
Jesus, von dem Johannes der Täufer sagt:
„Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt trägt“ (Johannes 1,29),
Deshalb sieht es aus „wie geschächtet“:
Es ist der Gekreuzigte, der in der Mitte des Thronsaals steht.
Weil er der Gekreuzigte ist, darf er das Buch öffnen und lesen.
Denn Jesus ist nicht am Kreuz gestorben, um Rache zu nehmen für all das Unrecht, das geschehen ist, und die Übeltäter zu bestrafen.
Er starb am Kreuz, um das Unrecht auf sich zu nehmen, auch das der Übeltäter.
Er vergab sogar denen, die ihn ermordeten.
Er hat durch seinen Tod das Schuldenkonto jedes Menschen getilgt
und so jeder und jedem die Chance für einen Neuanfang gegeben.
Die Chance, ein besserer, ein gerechterer Mensch zu sein.

III. Das Lamm wird das Buch öffnen, es wird es lesen,
und das Ende wird seinen schrecklichen Lauf nehmen.
Der Seher Johannes berichtet davon in den folgenden Kapiteln der Offenbarung.
Johannes konnte sich dieses Ende nur als ein Ende mit Schrecken vorstellen.
Er sah die Menschheit heimgesucht von den Geistern, die sie selbst gerufen und entfesselt hatte.

Ich kann mir ein solches Ende, wie Johannes es sieht, nicht vorstellen.
Das Lamm Gottes, das die Sünde der ganzen Welt trug,
schafft auch den schlimmsten Übeltätern eine Erlösung,
die ihnen die Chance zum Neuanfang gibt.
Zu einem Leben, das sie anderen nicht gönnen wollten.
Ansonsten - welche Hoffnung hätten wir?

Der Advent ist der Anfang dieses Endes,
weil wir auf die Geburt dessen zugehen, der das Lamm Gottes sein wird.
Das bedeutet, der Advent ist der Anfang eines Neuanfangs.
Jetzt, heute, kann es anders werden;
jetzt, heute, kann ich eine andere, ein anderer werden.

Der Advent ist die Zeit der Hoffnung und der Träume nach einem neuen Anfang,
nach einem neuen Himmel und einer neuen Erde.
Damit etwas Neues beginnen kann, muss Altes aufhören.
So, wie man durch die Taufe ein neuer Mensch wird und Altes hinter sich lässt;
so wie man jeden Tag neu „in die Taufe zurückkriechen“ kann, wie Martin Luther sagte,
also jeden Tag neu anfangen und Altes hinter sich lassen kann;
so wird jedes Mal, wenn wir die Geschichte vom Einzug in Jerusalem lesen und hören,
unsere Hoffnung lebendig, dass der kommn wird, der uns und diese Welt verändern kann.

IV. Eine Geschichte wird gelesen, steht im Raum, nimmt uns für sich ein …
Wenn wir eine Geschichte lesen oder hören, kann sie uns ergreifen.
Dann werden wir ein Teil von ihr, oder sie ein Teil von uns.
Sie beeinflusst die Art, wie wir die Welt sehen,
beeinflusst unsere Entscheidungen und Handlungen.
Wir werden Teil der Geschichte - wir werden selbst zu einer Geschichte.
Wir werden zu einem Buch, das andere lesen.
Andere lesen an unserem Handeln ab, wes Geistes Kinder wir sind.
Sie lesen in uns von der Liebe und Güte Gottes.
Oder sie lesen von Verbitterung, Enttäuschung, Leid, Schmerz und Hass.

Jede und jeder von uns hat Schweres erleiden und ertragen müssen,
erleidet und trägt es jetzt.
Es ist Teil unseres Lebens, unserer Geschichte.
Aber es ist die Frage, ob es auch Teil der Geschichte sein soll,
die wir von uns erzählen.
Und ob es Teil der Geschichte sein muss,
die wir andere weitergeben und in ihnen lebendig werden lassen.

V. Heute, am 1.Advent, beginnt wieder einmal eine neue Geschichte.
Wir hören sie, sie nimmt in uns Gestalt an, wir gestalten sie mit.
Was erzählen wir weiter?
Welche Geschichte verköpern wir mit unserem Handeln?
Lassen Sie uns so leben und handeln,
dass die Geschichte dieser Welt ein gutes Ende nimmt!
Amen.


Vorüberlegungen zum Predigttext und eine Gliederung der Predigt finden sich auf mitredner.wordpress.com.

Dienstag, 21. November 2017

Kein Showdon


Predigt am Buss- und Bettag, 22.11.2017, über Matthäus 12,33-37:

Jesus sprach zu den Pharisäern:
Gesetzt den Fall, ein Baum ist gut,
dann wird auch seine Frucht gut sein.
Oder gesetzt den Fall, ein Baum ist unbrauchbar,
dann wird auch seine Frucht unbrauchbar sein,
denn an der Frucht erkennt man den Baum.
Ihr Otterngezücht, wie könnt ihr Gutes reden,
da ihr doch schlecht seid?
Denn was der Mund redet,
kommt aus dem Überfluss des Herzens.
Der gute Mensch bringt aus dem Vorrat an Gutem Gutes hervor,
und der schlechte Mensch aus dem Vorrat an Schlechtem Schlechtes.
Ich versichere euch:
Jedes nutzlose Wort, das die Menschen sprechen,
werden sie rechtfertigen müssen am Tag des Gerichts.
Denn auf Grund deiner Worte wirst du gerechtfertigt,
und auf Grund deiner Worte wirst du verurteilt werden.
(eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

dabeizustehen, wenn jemand abgekanzelt wird,
ist eine zwiespältige Sache.
Wenn es jemanden trifft, den man nicht mag
und von dem man meint, er habe eine Abreibung verdient,
freut man sich innerlich
und kann sich ein Grinsen kaum verkneifen.
Wenn es aber die Freundin, den Freund trifft,
leidet man förmlich mit,
wird selbst immer kleiner mit der Schelte,
die über sie hereinbricht.

Wie steht es mit unserem Mitgefühl für die Pharisäer?

Sie haben sich die Schelte Jesu redlich verdient.
Schließlich waren sie bösartig,
unterstellten ihm, mit dem Teufel im Bunde zu sein,
wenn er die Dämonen austrieb.
Diesen gemeinen Lästermäulern geschieht es ganz recht,
wenn Jesus sie sich mal zur Brust nimmt!

Die Pharisäer kommen schlecht weg bei Matthäus
und in den anderen drei Evangelien.
Wie im klassischen Western müssen sie die Rolle der Schurken übernehmen,
die am Ende vom guten Helden besiegt werden.
Was die Evangelien vom Western unterscheidet, ist,
dass am Ende scheinbar die Schurken triumphieren.
Sie bringen den Guten am Kreuz ums Leben.
Aber dann gibt es mit der Auferstehung doch ein unverhofftes Happy End.
Dieses gute Ende der Evangelien ist wieder anders als die Western:
Die Bösen erhalten am Ende nicht ihre gerechte Strafe,
der Gute nimmt am Ende keine Rache.
Die Bösen kommen einfach nicht mehr vor.
Weil es sie nicht mehr gibt:
Gott hat ihnen vergeben.

Die Christen hielten es nicht aus,
dass Gott so barmherzig ist.
Sie wollten es denen, die sie für schuldig am Tod Jesu hielten, heimzahlen.
Dabei übersahen und vergaßen sie,
was Paul Gerhardt in seinem bekannten Passionslied bekennt:
„Nun, was du, Herr, erduldet
ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet,
was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer,
den Anblick deiner Gnad.
(EG 85,4)
Nun, es ist ja auch zu schwer, auszuhalten und durchzustehen,
wenn man als überführte Missetäterin vor dem stehen muss,
dem man das angetan hat.
Da weist man lieber mit dem Finger auf andere.

Den Christen kam die Pharisäerschelte sehr gelegen.
Da hatten sie den Sündenbock,
auf den sie abwälzen konnten,
was eigentlich sie hätten tragen müssen.
Und da die Pharisäer jüdischen Glaubens waren
- wie übrigens Jesus auch -,
machte man kurzerhand alle Menschen jüdischen Glaubens zu Sündenböcken
und zahlte ihnen mit grausamer Gewalt heim,
was man sich selbst nicht eingestehen und vergeben konnte.

Dabeizustehen, wenn jemand abgekanzelt wird,
ist eine zwiespältige Sache.
Wenn es jemanden trifft, den man nicht mag,
freut man sich innerlich
und kann sich ein Grinsen kaum verkneifen.
Zumal man Zeugin seiner Erniedrigung geworden ist.
Jetzt weiß man etwas, was diesem Menschen unangenehm ist.
Damit kann man ihn aufziehen,
kann Salz in seine Wunde reiben
und ihn immer wieder an diese Demütigung erinnern.

Wir werden Zeugen, wie Jesus die Pharisäer abkanzelt.
Er nennt sie abfällig - wie schon Johannes der Täufer vor ihm -
„Otterngezücht“.
Aber Schadenfreude will dabei so recht keine aufkommen,
auch, wenn die Pharisäer nicht unsere Freunde sind.
Wir merken, dass das, was Jesus ihnen vorwirft,
auch auf uns zutrifft.
Jesus spricht ja auch nicht mehr die Pharisäer allein an.
Er spricht alle Menschen an,
wenn er vom Vorrat an Gutem und Schlechtem spricht.

Prüfen wir uns selbst, was wir in uns tragen:

Sind es Wohlwollen, Respekt, Freundlichkeit?
Können wir uns mit anderen freuen,
auch wenn sie mehr Glück haben als wir,
erfolgreicher, beliebter, besser sind als wir?
Können wir anderen Gutes gönnen?
Können wir ein Auge zudrücken?
Sind wir in der Lage, ein falsches Wort zur falschen Zeit mit Humor zu nehmen,
guten Willen zu unterstellen, nichts nachzutragen?
Das ist der Vorrat an Gutem, über den wir verfügen.

Oder sind wir enttäuscht und verbittert?
Fühlen wir uns benachteiligt oder verkannt?
Halten wir andere für undankbar oder respektlos?
Fühlen wir uns angegriffen, kritisiert, herausgefordert?
Müssen wir uns verteidigen, rechtfertigen,
uns gegen Konkurrenten und Neider behaupten?
Fühlen wir uns ausgenutzt?
Will man uns für dumm verkaufen, uns übervorteilen?
Das ist der Vorrat an Schlechtem, über den wir verfügen.

Aus beiden Vorräten schöpfen wir.
Je nachdem, welcher Vorratsbehälter voller ist,
fällt unsere Reaktion mal freundlich, mal unfreundlich aus.

„Streit“ war das Thema der diesjährigen Friedensdekade.
Einen wichtigen Streit fechten wir in uns selbst aus:
Die Frage, ob wir immer in den Vorratsbehälter greifen,
der gerade am vollsten ist.
Denn das ist meistens der mit dem Schlechten.
Oder ob wir einen Moment zögern
und uns bewusst werden,
aus welchem Vorrat wir gerade schöpfen wollen.
Und uns überlegen,
ob wir nicht doch in den Behälter mit dem Guten greifen sollten,
obwohl der so leer ist,
dass wir mit den Fingerspitzen seinen Boden berühren.

Was wir nicht wissen können:
Dem Behälter mit dem Guten geht es wie dem Ölkrug der Witwe,
die der Prophet Elia um Brot bat (1.Könige 17):
Er wird niemals leer.
Im Gegenteil: Je öfter man hineinfässt und Gutes herausholt,
desto voller wird er,
während der Vorrat an Schlechtem,
der eben noch so groß war,
immer weniger wird.
Man schöpft aus dem Vorrat an Gutem
auf Kosten des Vorrats an Schlechtem.

Jesus streitet mit den Pharisäern.
Dieser Streit ist kein Rechtsstreit.
Jesu Worte sind - anders, als es Christen über die Jahrhunderte bis heute hören wollten - kein Urteil und keine Verurteilung.
Jesus redet den Pharisäern ins Gewissen,
weil er sie gerade nicht abgeschrieben hat.
Weil er trotz aller Meinungsverschiedenheiten und Gegnerschaft die Beziehung zu ihnen nicht abbrechen will.
Schließlich sind sie seine Glaubensbrüder.

Weil Jesus mit den Pharisäern streitet
und sie nicht verurteilt,
redet er auch uns ins Gewissen.
Wir können uns nicht zurücklehnen
und schadenfroh mit ansehen, wie er es den Pharisäern zeigt.
Wir sind mit gemeint.
Wir müssen uns fragen lassen,
ob unsere Gerechtigkeit eine bessere ist als ihre (Matthäus 5,20).

Dabeizustehen, wenn jemand abgekanzelt wird,
ist eine zwiespältige Sache.
Man leidet mit dem mit,
der das Donnerwetter über sich ergehen lassen muss.
Denn man weiß genau:
Es hätte auch mich treffen können.
Es war Zufall oder Glück, dass es ihn erwischte und nicht mich.
Darum schließt man sich mit dem anderen zusammen
in der Gemeinschaft der Sünder
und gibt ihm so das Gefühl,
die Strafpredigt nicht allein durchstehen zu müssen.

Aus der Gemeinschaft der Sünder
wird durch Gottes Barmherzigkeit die Gemeinschaft der Heiligen.
Gott vergibt uns unsere Schuld.
Besonders gern vergibt Gott,
wenn wir uns nicht aus der Gemeinschaft der Sünder ausschließen
und den anderen im Regen stehen lassen.
Sondern ihm den Arm um die Schulter legen,
uns mit ihm solidarisch zeigen
und gemeinsam durchstehen,
was auch uns treffen und gelten könnte.

Weil und wenn wir mit den Pharisäern in einer Gemeinschaft der Schuld stehen,
dürfen wir uns mit ihnen auch zur Gemeinschaft der Kinder Gottes zählen.
So, wie Jesus mit den Pharisäern streitet,
weil er sie nicht aufgibt,
so streitet er mit uns und gibt uns niemals auf.
Darum müssen wir die Worte Jesu nicht als Urteil über uns hören.
Wir dürfen sie als Zusage hören,
dass wir gute Bäume sind,
die gute Frucht tragen.
Amen.


Vor sechs Jahren predigte ich zum gleichen Text ganz anders.

Samstag, 18. November 2017

… dass ich in den Himmel komm

Predigt am Vorletzten Sonntag des Kirchenjahres, 19. November 2017, über Lukas 16,1-9:

Jesus sprach zu den Jüngern:
Es war ein reicher Mann, der hatte einen Manager. Diesen bezichtigte man bei ihm, er verschwende sein Vermögen. Er rief ihn herbei und sprach zu ihm:
- Was hat es mit dem auf sich, was ich über dich höre? Lege Rechenschaft ab über deine Buchführung, denn du kannst nicht mehr mein Manager sein.
Der Manager sagte sich:
- Was soll ich machen, wenn der Herr mir die Verwaltung wegnimmt? Mit den Händen arbeiten kann ich nicht, zu betteln schäme ich mich. Ich weiß, was ich tue, damit sie mich gastlich in ihren Häusern aufnehmen, wenn ich von der Verwaltung abgesetzt bin!
Und er bestellte jeden einzelnen Schuldner des Herrn zu sich. Zu dem erstem sprach er:
- Wieviel schuldest du meinem Herrn?
Er antwortete:
- Hundert Bat Öl.
Er sprach zu ihm:
- Nimm deinen Schuldschein, setz dich gleich hin und schreibe: Fünfzig.
Dann fragte er einen anderen:
- Du, wieviel schuldest du?
Er antwortete:
- Hundert Kor Weizen.
Sagt er zu ihm:
- Nimm deinen Schuldschein und schreibe: Achtzig.
Jesus lobte den ungerechten Manager, weil er klug gehandelt hatte:
- Die Kinder dieser Welt sind im Umgang mit ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts. Ich sage euch: Schafft euch Freunde mit dem ungerechten Besitz, damit, wenn er zu Ende ist, sie euch in die ewigen Behausungen aufnehmen.
(eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

„lieber Gott, mach mich fromm,
dass ich in den Himmel komm“.
Das ist ein Satz des Kindergebetes, das meine Mutter abends mit mir an meinem Bett sprach.
„… dass ich in den Himmel komm“:
Am Ende des Kirchenjahres werden wir an den Himmel als das Ziel unserer christlichen Existenz erinnert. Wir leben nicht nur in dieser Welt und für diese Welt. Wir sind „Kinder des Lichts“, die auf einen Himmel warten, der noch kommt.

Allerdings haben wir es nicht eilig damit, in den Himmel zu kommen. Der Himmel, der kommt, kann sich mit dem Kommen ruhig Zeit lassen. Anders als Paulus, der „Lust hatte, den Leib zu verlassen und daheim zu sein bei dem Herrn“ (2.Korinther 5,8), anders auch als unsere Vorfahren, die sangen: „Ich wollt, dass ich daheime wär und aller Welte Trost entbehr“ (EG 517,1), fühlen wir uns wohl in unserer Haut und in unserem Haus. So wohl, dass wir keine Eile haben, sie zurückzulassen, im Gegenteil: Wir erfreuen uns an dem, was wir besitzen. Und verwenden es, um unser Zuhause noch gemütlicher zu machen, unsere Haut noch sanfter und geschmeidiger.

Jesus dagegen nennt den Besitz „ungerecht“ und empfiehlt, ihn anders einzusetzen: Nicht für sich selbst, sondern für andere. Man soll sich Freunde damit schaffen, um Aufnahme zu finden in die ewigen Behausungen.

I. Jesus als Anlageberater - eine ungewöhnliche Rolle für ihn. Aber es ist ja auch eine ungewöhnliche Geschichte, die er da erzählt: Von einem Manager, dessen Misswirtschaft auffliegt, weshalb er entlassen werden soll. Und der daraufhin seinem Chef noch einmal schadet, indem er Schuldscheine zugunsten der Gläubiger seines Chefs fälscht, um sich einen letzten Vorteil zu verschaffen. So eine Geschichte kommt einem nicht unbekannt vor - solche Manager hat es ja tatsächlich hin und wieder gegeben. Was aber der Sache die Krone aufsetzt, ist, dass Jesus dieses kriminelle Verhalten des Managers nicht kritisiert, sondern ausdrücklich lobt.

Auf einen solchen Gedanken kann nur kommen, wer eine ganz und gar verkehrte Einstellung zu Geld und Besitz hat. Die zeigt Jesus ja auch, indem er ihn ungerecht nennt. Bibelstellen wie diese haben Jesus den Verdacht eingetragen, ein „Linker“ zu sein, gar ein Kommunist. Aber bevor auch wir Jesus so abstempeln, sollten wir ihm die Chance geben, sich zu erklären: Warum sollte Besitz ungerecht sein?

Unsere Gesellschaft regelt den Umgang mit Besitz sehr genau. Es gibt Regeln, wie man seinen Besitz weitergibt - das Erbrecht; wie man ihn vermehrt - das Banken- und Aktienrecht - oder ihn verliert: das Konkursrecht. Diese Regeln sollen dafür sorgen, dass in Fragen des Besitzes alles mit rechten Dingen zugeht, vor allem: Dass der Besitz den Anschein der Rechtmäßigkeit und des Rechtes hat. Das ist wichtig, denn Besitz ist ungleich verteilt. Das ruft Neider auf den Plan. Sehr wenige besitzen sehr viel, sehr viele besitzen sehr wenig, und die sogenannte „Mitte“ zwischen den beiden Extremen wird immer schmaler. Was für unser Land gilt, gilt noch mehr im globalen Maßstab. Nach diesem Maßstab sind selbst unsere Ärmsten noch reicher als die meisten Menschen auf der Welt. Das nützt ihnen nur nichts; bei uns können sie sich dafür nichts kaufen.

II. Ist es also die ungleiche Verteilung des Kapitals, die den Besitz in den Augen Jesu ungerecht macht?
Die Bibel macht sich keine Gedanken darüber, dass Besitz ungleich verteilt ist. Reichtum ist nicht an sich schlecht, gilt sogar als Zeichen dafür, von Gott besonders gesegnet zu sein. Allerdings besteht die Bibel darauf, dass Eigentum verpflichtet, Armen und Kranken zu helfen, Witwen und Waisen nicht sich selbst zu überlassen.
Jesus denkt hier nicht anders.
Und doch will er, dass seine Nachfolgerinnen sich von ihrem Besitz trennen. Es scheint, als habe Jesus eine gewisse Abneigung gegen den Besitz. Er nennt ihn abfällig „Mammon“ und scheint, wenn nicht Angst, so doch Respekt vor ihm zu haben. Denn manchmal wirkt es so, als entwickle dieser „Mammon“ ein Eigenleben. Als könne er einen Menschen besetzen wie ein Dämon und ihn vom Geld besessen machen.

Jesus hat eine unerklärliche und unverständliche Abneigung gegenüber dem Besitz. Das macht es schwer, ihm darin zu folgen. Es wäre besser, wenn es nachvollziehbare Gründe für diese Abneigung gäbe. Noch immer wissen wir nicht, was am Besitz eigentlich so unegrecht sein soll. Aber wir können Jesus leider nicht fragen. Also bleibt uns nur, Vermutungen anzustellen.
Ich vermute, die Ungerechtigkeit, die Jesus im Besitz sieht, liegt in der Ungleichheit, die er schafft.
Nicht in der oberflächlichen Ungleichheit, dass eine mehr hat als die andere.
Sondern in der Ungleichheit, die darin besteht, dass Besitz Sicherheit verschafft, während die Mittellose in Unsicherheit leben muss.

Man kann das am besten an Flüchtlingen studieren, die mit nichts kommen als dem, was sie in der Hand und auf der Haut tragen. Sie sind der Willkür und dem Wohlwollen der Besitzenden ausgeliefert. Als Habenichtse haben sie bei uns kein Zuhause - und keine Rechte. Sie kommen als Bittsteller, denen jedes einzelne Recht gewährt oder entzogen werden kann.

III. So sind die Vorfahren einer jeden von uns gewesen. Bei einigen liegt es erst ein oder zwei Generationen zurück, dass die Eltern oder Großeltern als Kriegsflüchtlinge hierher kamen. Aber auch die, die „schon immer“ hier leben, haben Ahnen, die einmal hierher gezogen sind. Nicht als Flüchtlinge vielleicht, aber als Fremde, die hier keine Heimat und keine Rechte hatten. Die um Aufnahme baten und um das Recht, zu bleiben.

Ungerecht ist, dass es Menschen gibt, die dieses Bleiberecht vergeben, und andere, die darum bitten müssen, und dass dieses Recht mit dem Besitz verbunden ist.
Wenn Jesus auffordert, auf den Besitz zu verzichten, zielt er darauf ab, dass wir dieses Recht aufgeben. Wir sollen mit dem Besitz das Recht aufgeben, dazuzugehören und über die Zugehörigkeit anderer zu entscheiden. Die Aufgabe des Besitzes bedeutet die Aufgabe der Sicherheit, die dieser Besitz vermittelt.

Aber wer sollte das wollen?
Wer würde wie ein Flüchtling leben wollen, abhängig vom Wohlwollen und den Launen seiner Mitmenschen?
Jesus hat so gelebt:
„Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester“, sagte er (Lukas 9,58), der selbst die Sicherheit eines Unterschlupfes aufgegeben hatte. Jesus überließ sich voll und ganz dem Wohlwollen und den Launen seiner Mitmenschen. Und die taten mit ihm, was sie immer mit Schwachen und Wehrlosen tun: Sie machten ihn zum Sündenbock, sie quälten ihn, sie brachten ihn um.

IV. Wir sollen nicht so sein wie Jesus.
Wir brauchen es nicht, wir können es auch gar nicht.

Jesus hat uns ein Beispiel gegeben, das wir uns vor Augen halten sollen: Das Beispiel, was mit Ohnmächtigen und Schwachen geschieht, wenn sie den Menschen in die Hände fallen.
Und was wir deshalb anders machen können und sollen:
Im Fremden, im Armen, im Gefangenen, im Kranken, im Menschen mit einem Handicap Jesus sehen. Wir können voraussehen, welches Schicksal ihnen droht, wenn wir ihnen nicht helfen. Wir können ihnen unser Herz, unsere Hand öffnen, und die Tür unserer Gemeinde.

Jesus hat uns ein Beispiel gegeben, das wir uns vor Augen halten sollen: Dass am Ende Ohnmacht und Schwäche stärker sind als Hass, Gewalt, Macht und Körperkraft. Der Ohnmächtige und Schwache steht wieder auf, steht am Ende als Sieger da über alle angeblichen Stärken.

Das ist der Himmel.
Der Himmel ist da, wo alle Menschen zuhause sind und alle die selben Rechte haben - ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Vergangenheit, ihrer Leistungen oder ihres Besitzes.
Der Himmel ist da, wo jede selbstverständlich dazugehört und niemand eine andere um etwas bitten muss.
Der Himmel ist da, wo Besitz keine Bedeutung hat, und man deshalb verschwenderisch mit ihm umgeht.

V. Der Himmel ist noch fern.
Manche warten auf ihn.
Manchmal blitzt er auf, zeigt sich für Augenblicke,
in denen Menschen teilen und abgeben von dem, was sie besitzen.
Wo Menschen großzügig, verschwenderisch sind.
Wo sie nicht nach Recht und Erlaubnis fragen, sondern Türen öffnen und einladen.
Diesen Himmel suche ich.
In diesen Himmel möchte ich gelangen,
lieber heute als morgen.
Amen.


Die Vorüberlegungen zu dieser Predigt finden sich hier.

Samstag, 11. November 2017

Kann man stärker sein als der Teufel?

Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 12. November 2017, über Lukas 11,14-23:

Jesus trieb einen Dämon aus, der war stumm.
Nachdem der Dämon ausgefahren war, redete der Stumme und die Menge staunte.
Einige von ihnen aber sagten:
- Mit Beelzebul, dem Obersten der Dämonen, treibt er die Dämonen aus.
Andere versuchten ihn, indem sie ein Zeichen vom Himmel von ihm forderten.
Jesus aber, der ihre Gedanken kannte, sprach zu ihnen:
- Jedes Königreich, das mit sich selbst uneins wird, entvölkert sich, und ein Haus stürzt auf das andere. Wenn sogar der Satan mit sich selbst uneins wird, wie kann sein Reich Bestand haben? Denn ihr behauptet ja, dass ich die Dämonen mit Beelzebul austreibe. Wenn ich aber die Dämonen mit Beelzebul austreibe, mit wem treiben eure Söhne sie aus? Darum werden sie eure Richter sein. Wenn ich aber die Dämonen mit dem Finger Gottes austreibe, so ist das Reich Gottes zu euch gekommen!
- Wenn der Starke bewaffnet seinen Hof bewacht, ist sein Besitz in Frieden. Sobald aber ein Stärkerer als er ihn überfällt und besiegt, raubt er seine Rüstung, auf die er sich verließ, und verteilt seine Beute. Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich. Wer nicht mit mir sammelt, zerstreut.
(Eigene Übersetzung)

Die Vorüberlegungen zu dieser Predigt finden sich auf mitredner.wordpress.com


Liebe Schwestern und Brüder,

auf der Wartburg kann man das Arbeitszimmer Martin Luthers besichtigen. Dort übersetzte er in sehr kurzer Zeit das Neue Testament aus dem Griechischen ins Deutsche. In diesem Arbeitszimmer befindet sich auch der berühmte Fleck an der Wand. Der Fleck von dem Tintenfass, das Luther nach dem Teufel geworfen haben soll. Luther hatte auf der Wartburg mit Dämonen zu ringen - äußeren und inneren.

Aber eine Frage lässt diese Anekdote doch zurück: Kann man den Teufel tatsächlich mit einem energisch geworfenen Tintenfass vertreiben?
Sieht man sich die Teufelsdarstellungen aus Luthers Zeit an, macht der Teufel darauf nicht den Eindruck, als ließe er sich von einem Tintenfass einschüchtern.
Und auch wir verbinden wohl mit dem Teufel eher die Vorstellung einer dunklen Macht, die sehr ungemütlich werden kann, wenn man sie reizt, als mit einem Teufelchen, das man erschrecken und mit Tinte verjagen kann.

I. Der Teufel der Bibel hat sich selbständig gemacht. Ihm ist es ergangen wie vielen anderen Gestalten der Bibel auch, z.B. den Engeln: Die menschliche Phantasie hat ihn immer weiter ausgeschmückt, bis er zu der schrecklichen Fratze wurde, als die wir ihn kennen.

Die Bibel selbst verzichtet darauf, dem Teufel Hörner, Bocksbeine oder Höllenfeuer anzudichten. In der Bibel wird der Teufel eher als Buchhalter dargestellt, als kleinlicher Beamter, der den Menschen bei einem Fehler ertappen will. Dabei scheut er nicht vor unfairen Mitteln zurück, provoziert und überredet, das Verbotene zu tun - nur, um den Menschen hinterher bei Gott anschwärzen zu können.

Man braucht sich den Teufel also nicht als bocksbeinigen, gehörnten Unhold vorzustellen. Eher ist er ein grauer Herr mit gezücktem Notizblock, immer bereit, jeden kleinsten Fehler zu notieren.
Als solcher hockt er nicht in der Hölle oder auf dem Speicher, wie einst die Spitzel von Horch & Guck.
Wir tragen ihn in uns, den grauen Herrn.
Wir tragen in uns das schlechte Gewissen, wenn wir mal wieder ein Stück Schokolade naschten, den Spaziergang oder das Jogging ausfallen ließen, die dringende Arbeit verschoben.
Wir tragen in uns den Neid auf das, was eine andere hat.
Die Empörung darüber, dass manche etwas bekommen, ohne dafür arbeiten zu müssen.
Das ist nämlich das andere Gesicht dieses grauen Herrn:
Wer so kleinlich und pingelig jeden einzelnen Fehltritt registriert, kann auch anderen gegenüber nicht großzügig sein.

II. Was - oder wer - reitet uns da bloß?
Wo kommt das her, dass man so peinlich auf jedes Gramm Körpergewicht achtet? Dass man Schwächen nicht eingestehen, Fehler nicht zugeben kann? Wie haben wir uns diesen grauen Herren nur eingefangen?

In der Geschichte von der Heilung des Stummen ist von Dämonen die Rede. Der Stumme ist von einem Dämon besessen. Er sitzt ihm in der Kehle, so dass er kein Wort herausbringt.
Wir müssen uns dabei kein haariges, kleines, schwarzes Teufelchen vorstellen - obwohl das eine gute Erklärung für das Kratzen im Hals wäre, das man manchmal empfindet.
Es gibt eine einfachere Erklärung für das Verstummen:
Ein Kind, das von einem Erwachsenen niedergebrüllt wird - verstummt.
Ein Mensch, dem immer wieder gesagt wird, er sei zu dumm, zu schlecht, nicht recht - verstummt.
Schließlich kennt manche auch die innere Stimme, die einer einredet, man habe nichts zu sagen, man werde sich blamieren, man sei nicht gut genug - die innere Stimme, die eine verstummen lässt. Da ist er wieder, der graue Herr.

Ein Dämon ist also kein haariges Teufelchen, sondern etwas, das einen lenkt und leitet. Das einem sagt, was gut ist und was schlecht - aber es ist nicht das Gewissen. Das einem sagt, ob man selbst gut ist oder schlecht.
Die alten Griechen, von denen wir das Wort „Dämon“ haben, bezeichneten damit sowohl das Unbegreifliche, Ver-rückte in einem Menschen als auch das Besondere, Außergewöhnliche. Oft liegt beides eng beieinander. Erst im Neuen Testament wurde der Dämon das, was den Menschen zum Verhängnis wird, was ihn negativ bestimmt.

III. Was passiert nun, als Jesus den Dämon des Stummen austreibt? Der Stumme kann wieder sprechen. Das, was verhinderte, dass er etwas sagen konnte - der Kloß im Hals, die Einschüchterung, das Gefühl der Wertlosigkeit - ist fort.
Wieder ist da kein haariges Teufelchen dem Stummen aus dem Hals gekrabbelt.
Vielmehr hat sich in ihm etwas verändert:
Der Buchhalter, der Erbsenzähler: der graue Herr ist verschwunden.
An seine Stelle ist jemand anderes getreten:
Der gnädige Gott.
Der Stumme wagt zu sprechen, weil Gott ihn akzeptiert, wie er ist, in seiner Stummheit; seiner Unfähigkeit, zu sprechen; seinem Anderssein; seinem Verrückt-Sein.
An die Stelle des grauen Herren, der ihm einflüsterte:
- Du bist nicht gut genug. Du kannst das nicht. Du bist schlecht. Du bist falsch
hat sich Gott gesetzt und gesagt:
- Du bist gut genug.

Aber die Leute, die Zuschauer dieser Dämonenaustreibung, können sich nicht vorstellen, dass das so leicht sein sollte.
Das, was andere über einen denken, von einem erwarten, die ungeschriebenen, aber eisernen Regeln des Miteinanders lassen sich doch nicht so einfach wegfegen! Den Teufel in Gestalt des grauen Herren kann man nur mit dem Oberteufel austreiben. Das bedeutet: Die Regeln müssen noch härter, die Einschränkungen noch größer sein als vorher. Für die kleine Sünde der genaschten Schokolade muss man eine Stunde joggen - mindestens! Alles andere wäre ungerecht.

Wie die Zuschauer damals suchen auch wir heute den Teufel im Detail, also in etwas Äußerlichem - im Stückchen Schokolade oder der Praline, oder im Anderen, Fremdartigen: im Ausländer.

Diese fiesen, kleinen Kalorien sind schuld, dass man dick wird.
Die Ausländer sind schuld, dass die Welt nicht mehr so ist, wie sie einmal war.
Der graue Herr in uns führt Buch über jeden Bissen, den wir essen, beobachtet genau, was der andere hat und bekommt, und vergleicht mit dem, was wir haben - selbst, wenn es mehr als genug ist.

IV. Jesus vertreibt die Stummheit durch Barmherzigkeit.
An die Stelle des grauen Herren - der Maßstäbe, die man ungeprüft übernimmt und an sich selbst anlegt - setzt er den gnädigen Gott, dem wir gut genug sind so, wie wir sind.

Der Teufel, der Luther auf der Wartburg heimsuchte, waren genau diese Regeln und Maßstäbe seiner Zeit. Regeln und Maßstäbe, mit denen er aufgewachsen war, die er übernommen und verinnerlicht hatte. Zum Beispiel die Unauflösbarkeit des Mönchsgelübdes, das er abgelegt hatte, und sein Inhalt: Ein Leben in Keuschheit, Armut und Gehorsam.
Gehorsam war Luther auch der katholischen Kirche schuldig. Wie sollte er ohne sie, ohne das Heil, das allein die Kirche vermittelte, selig werden?
Luther hatte diese und andere Regeln gebrochen.
Er war vogelfrei und - was für ihn weit schlimmer war -: er war nach den Maßstäben seiner Kirche verdammt, exkommuniziert, eine verlorene Seele, dem Teufel verfallen.
Kein Wunder, dass ihm der Teufel auf der Wartburg erscheint.

Kein Wunder auch, dass er den Teufel mit einem Tintenfass vertreiben kann.
Luther hatte erkannt, dass die Regeln, die ihn banden, menschliche Setzungen waren. Irgendwann hatte sie irgendjemand aufgeschrieben und für verbindlich erklärt.
Luther hatte auch erkannt, dass diese Regeln nicht unverrückbar waren. Wenn Jesus sogar die 10 Gebote außer Kraft setzen konnte, um barmherzig zu sein, wieviel mehr dann Regeln, die sich Menschen erdacht hatten!
Luther hatte gelernt, was das heißt (Hosea 6,6/ Matthäus 9,13):
„Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer“.

Trotzdem fiel es Luther nicht leicht, die Regeln und Maßstäbe, denen er bisher gefolgt war und die er für richtig erachtet hatte, einfach so über Bord zu werfen. Deshalb übersetzte er in dieser Zeit auf der Wartburg das Neue Testament. Für seinen neuen Weg suchte er nach einem festen, verlässlichen Fundament.

V. Ein Fleck an der Wand zeugt davon, wie Luther seine Dämonen vertrieben hat. Alle ist er allerdings nicht losgeworden. Das gelingt wohl niemandem. Dazu sind die Regeln und Konventionen, die wir quasi mit der Muttermilch aufnehmen, zu stark; dazu ist der Zwang der Gruppe, des Dorfes, der Gesellschaft zu groß.
Einen ganz besonders schlimmen Dämon hat Luther behalten, das war sein Antisemitismus. Er, der die Barmherzigkeit Gottes für sich entdeckte; er, der den grauen Herren hinauswerfen und den gnädigen Gott bei sich einziehen lassen konnte - ausgerechnet ihm gelang es nicht, diese Barmherzigkeit auch seinen jüdischen Mitbürgern entgegenzubringen.

Die grauen Herren schleichen sich immer wieder ein.
Sie kommen, wenn wir Gottes Barmherzigkeit vergessen, sie für uns oder andere nicht gelten lassen. Sie legen ihre bürokratischen Maßstäbe an uns an, wenn wir nicht glauben können, dass Gott uns so liebt, wie wir sind. Und wir messen andere mit diesen papiernen Maßstäben, wenn wir ihnen die Barmherzigkeit verweigern, die wir für uns in Anspruch nehmen.

Gottes Barmherzigkeit vertreibt den Teufel und besiegt die Dämonen.
Sie muss immer wieder aufs Neue gesucht, gefunden und erfahren werden.