Sonntag, 25. September 2016

Einander aufbauen

Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 25. September 2016, über Römer 14,17-19

Liebe Schwestern und Brüder,

als Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden blicken Sie heute zurück. Sie blicken zurück auf Ihre Konfirmandenzeit vor 25 Jahren, 50 Jahren, 60, 65 oder sogar 70 Jahren. Dabei blicken Sie auch zurück auf Ihr Familien- und Berufsleben; auf das, was Sie in Ihrem Leben erreicht haben:
Sie haben eine Partnerin, einen Partner. Sie haben Kinder, Enkelkinder, vielleicht sogar Urenkel.
Sie haben eine Wohnung, ein Haus. Sie haben sich etwas aufgebaut. Das war zu DDR-Zeiten nicht leicht. Nach der Wende wurde es nicht wesentlich leichter: Es gab jetzt zwar all das, was vorher nicht oder nur mit Beziehungen zu bekommen war, aber man musste es ja auch bezahlen …
Sie haben sich etwas aufgebaut, und Sie haben dafür gearbeitet. Haben mit eigener Kraft und mit der Hilfe von Familie, Freunden, Nachbarn Ihr Heim renoviert oder ein neues gebaut.
Heute blicken Sie zurück auf das Erreichte, dankbar und vielleicht auch ein bisschen stolz. Das können Sie auch sein. Sie dürfen stolz sein auf sich und auf das, was Sie geleistet und erreicht haben.

Wenn man so zurückblickt, denkt man unwillkürlich auch an die, die heute fehlen: 
Die man aus den Augen verlor. 
Die fortgegangen sind, um anderswo ihr Glück zu suchen. 
Die, von denen man sich im Streit trennte. 
Die, von denen man durch den Tod getrennt wurde. 
Die, die es nicht geschafft haben.

So ein Rückblick offenbart die Fehlstellen, auch die im eigenen Leben. Nicht jeder hat seine Träume und Ziele verwirklichen können. Nicht jeder hat es zu etwas gebracht. Nicht jeder Lebenslauf verlief kerzengerade auf das Ziel zu. Nicht jeder kann heute dankbar und zufrieden auf sein Leben zurückschauen.
In diese zwiespältige Situation des Rückblicks hinein spricht der Predigttext aus dem Römerbrief im 14. Kapitel:
17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.
18 Wer damit Christus dient, gefällt Gott und ist bei den Menschen angesehen.
19 Also wollen wir nach dem trachten, was dem Frieden dient und der gegenseitigen Erbauung.
II
„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“.
Das Reich Gottes - da war doch was‽
An vielen Stellen des Neuen Testaments ist davon die Rede. Jesus führt es ständig im Mund. Doch an keiner Stelle wird gesagt, was das eigentlich genau ist, das Reich Gottes. So wird es zu einem Sehnsuchtsort. Es gibt unseren Träumen nach einer anderen, neuen, besseren Welt einen Namen. - Träume, die auch im Sozialismus geträumt wurden, zu denen man schon in der Schule immer wieder ermutigt und angehalten wurde: Träume vom Weltfrieden. Von Gerechtigkeit für die Völker, vor allem der sog. „Dritten Welt“, von internationaler Solidarität. Träume von Lebensfreude nicht nur für die Wenigen, die viel besitzen, sondern für alle, weil allen alles gehört.

Aber gerade der real existierende Sozialismus, der diese Träume weckte und schürte, scheiterte kläglich an ihrer Verwirklichung. Scheiterte auch dadurch, dass er die Träume vorschreiben wollte: Materialistisch sollten sie sein, die Träume. Die bessere Welt, sie sollte durch Arbeit und Maschinen kommen. Da war kein Platz für Poesie. Für die kleinen und großen Verrücktheiten des Lebens. Für das aus dem Rahmen Fallen, für die Freiheiten, die man sich nimmt, weil man sie braucht - vor allem die Freiheit, anders zu sein, nicht im Gleichschritt zu marschieren.

Darum verstehen wir sofort, was Paulus meint: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken - das Reich Gottes ist nicht materialistisch. Es ist idealistisch. Friede, Gerechtigkeit und Glück kommen nicht durch Arbeit und Maschinen. Sie sind ein Geschenk, das man sich nicht verdienen kann.
Wann haben Sie zuletzt davon geträumt?
Und, wenn Sie davon träumten, war es der Weltfrieden, von dem Sie träumten, oder war es vielmehr Ihr Frieden, Gerechtigkeit für Sie selbst, Ihr kleines, stilles Glück?

III
Die Erfahrung des Lebens im real existierenden Sozialismus konnte einem das Träumen austreiben. Oder man träumte vom Westen und „machte rüber“, wenn man konnte. Aber auch im Westen waren die Träume materialistisch. Dort drehte sich alles ums Kaufen und Konsumieren - ein Traum, den man hier nach der Wende schnell nachholte, wenn man konnte.

Was ist aus den anderen Träumen geworden? Aus der früher so oft beschworenen Solidarität? Dem Weltfrieden? Der Völkerfreundschaft? Sind diese Träume, weil sie mit dem Sozialismus untergingen, falsch gewesen?

Paulus erinnert die Römer daran, dass sie über dem Streit über das Essen und Trinken - was darf man essen und was nicht, dürfen Christen Fleisch essen, wie muss man das Abendmahl feiern? - dass sie über dem Streit über so vergleichsweise äußerliche Dinge das Wesentliche vergessen: Das, was Gemeinschaft schafft. Das, was Gemeinde baut.

Diese Erinnerung des Paulus gilt auch uns. Heute streiten wir uns in der Gemeinde fast gar nicht mehr ums Essen. Wir streiten vielmehr fast gar nicht mehr. Weil wir uns nicht mehr als Gemeinde verstehen. Jede und jeder lebt sein und ihr Christsein für sich allein im stillen Kämmerlein. Essen und Trinken, Haus und Garten, die Familie sind so viel wichtiger als alle Träume von einer besseren Welt, die wir einmal träumten vor langer Zeit.

IV
Viele von Ihnen haben gebaut - das Elternhaus renoviert oder ein neues Haus gebaut. Wir alle haben geschafft und dadurch etwas erreicht für uns und unsere Familien. Darauf können wir stolz sein. Und darauf sollen wir auch stolz sein. 
Nur haben wir bei dem „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ eine andere, wichtige Baustelle völlig vergessen. Wir vergaßen, nach der „gegenseitigen Erbauung“ zu trachten, wie Paulus das nennt. Da steht tatsächlich „Erbauung“, auf Griechisch οἰκοδομή, Hausbau. Im Griechischen benutzt man dieses Wort, wenn man ein Haus oder etwas ähnliches erbaut - und wenn man davon spricht, dass einen etwas, oder jemand, aufbaut, genau wie im Deutschen. Paulus meint also, wir sollten uns gegenseitig aufbauen - so, wie wir unser Häusle bauen. Im Hinterkopf hat er dabei ein Bild von der Gemeinde, die er sich wie ein Haus vorstellt. 

Die Gemeinde, ein Haus aus vielen Menschen. 
Jede und jeder von uns ist ein Stein in diesem Haus. Deshalb darf auch niemand fehlen, sonst wackelt der Bau oder stürzt sogar zusammen. Niemand ist wichtiger als die anderen, und niemand ist unwichtig, niemand ist nur Dekoration. Alle zusammen bilden wir das Haus der Gemeinde, aufgebaut auf dem einen Stein, der Fundament und Eckstein des Baus ist: Christus.

Dieses Bild vom Haus der Gemeinde, das Paulus im Hinterkopf hat, ist auch so einer von diesen Träumen, die nicht mehr geträumt werden. Denn wenn uns Paulus heute fragte, wie wir es halten mit der gegenseitigen Erbauung - wir wüssten wohl nichts zu antworten. Statt uns gegenseitig zu ermutigen und aufzubauen, beneiden wir uns um das, was der andere hat. Statt uns mit dem anderen zu freuen, gönnen wir ihm nicht sein bisschen Glück. Statt alte Feinschaften zu beenden, bleiben wir misstrauisch, skeptisch und unversöhnlich.

V
„Wer mit Gerechtigkeit, Friede und Freude Christus dient, gefällt Gott und ist bei den Menschen angesehen“.
Wir wissen es besser als Paulus, der Träumer: Bei den Menschen zählen nicht Gerechtigkeit, Friede und Freude, im Gegenteil: wer davon spricht, wer danach strebt, macht sich eher lächerlich. Was allein zählt, ist Leistung. Sind Ergebnisse - gute, vorzeigbare Ergebnisse. Sind materielle Werte: Haus, Auto, ein gepflegter Garten, ein gepflegtes Äußeres.

Erinnern Sie sich an die Wende?
Wenn „Graf Rotze im Benz“ (Wolf Biermann, Dideldumm!) aus dem Westen herangebraust kam, wurde er bestaunt, ein wenig beneidet auch. Aber er wurde auch durchschaut als der Unsympath, der er war. Dieses ganze Wiedervereinigungsgetue war bloß Fassade. Er war nicht wegen seiner „Brüder“ und „Schwestern“ in den Osten gekommen, die er schon zu Mauerzeiten hätte besuchen können. Er war gekommen, um Schnäppchen zu machen und ein paar doofe Ossis über den Tisch zu ziehen.

Damals, zur Wende, verschaffte man sich dadurch Respekt und Ansehen, dass man nicht mitgelaufen, sondern sich selbst treu geblieben war. Dass man sich für andere eingesetzt und seine Träume und Ideale nicht aufgegeben hatte. Doch als die Stasi verjagt und die Stasiakten gesichert waren, als die D-Mark kam und mit ihr die schöne, bunte Warenwelt, wurden solche Leute nicht mehr gebraucht. Die neue, noch ungewohnte Ordnung beanspruchte nun alle Kräfte. Man konnte und man musste jetzt etwas Neues aufbauen. Da blieb keine Zeit mehr für zwischenmenschliche Wärme, keine Zeit für Träume.

VI
Viel Zeit ist seitdem vergangen.
Sie, die Silbernen Konfirmanden, blicken auf diese Zeit zurück: Es war die Ihre; Sie wurden kurz nach der Wende konfirmiert.
Sie, die Goldenen Konfirmanden, haben beides je zur Hälfte erlebt, die alte DDR und die neue BRD. Sie haben besonders die Mühen des Übergangs tragen und ertragen müssen: Die Abbrüche, Ungewissheiten, Neuanfänge und Enttäuschungen.
Sie, die noch Älteren, haben noch so viel real existierenden Sozialismus in den Knochen, dass es Ihnen für den Rest Ihres Lebens reicht. Sie können aber vielleicht auch besser als wir anderen ermessen, was gewonnen wurde - und was verloren ging.

Paulus erinnert die Gemeinde in Rom daran, dass es nicht auf das Materielle ankommt, sondern auf das, wovon Menschen zu allen Zeiten und immer wieder träumen:
Frieden - nicht nur der private Friede in den eigenen vier Wänden, in der eigenen Familie, sondern Frieden auf der ganzen Welt.
Gerechtigkeit - nicht nur, dass ich bekomme, was mir zusteht, sondern dass allen Menschen Gerechtigkeit zuteil wird; ganz besonders den Schwachen, die sich nicht wehren können, die keine Lobby haben.
Freude im Heiligen Geist. Das ist eine andere Freude als die, die man beim Fernsehen oder Computerspielen erlebt, durch Alkohol oder im Urlaub. Freude im Heiligen Geist erlebt man, wenn man anderen Menschen ohne Angst und schlechtes Gewissen begegnen kann. Wenn man sich willkommen fühlt und willkommen ist. Wenn andere sich über einen und mit einem freuen können. Freude im Heiligen Geist erlebt man, wenn es gut geht, in der Gemeinde.

VII
Sie, liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden, und wir, Sie und wir haben etwas geschafft in Ihrem und unserem Leben, und wir schaffen noch.
Lassen Sie uns bei unserem emsigen Bemühen um unsere Zukunft und die unserer Kinder die andere Baustelle nicht vergessen, auf der wir so dringend gebraucht werden: Die Gemeinde.
Lassen Sie uns nicht vergessen, dass nicht nur unser Haus, sondern auch unser Mitmensch aufgebaut werden muss.
Und lassen Sie uns die Träume nicht vergessen, die wir einmal träumten: Die Träume von Frieden, von Gerechtigkeit, von Freude für alle Menschen. 
Hier, in der Gemeinde, ist der Ort für solche Träume. 
Hier träumen wir sie gemeinsam, und hier erleben wir immer wieder, dass etwas davon Wirklichkeit wird.
Amen.

Samstag, 17. September 2016

Lippenbekenntnis

Predigt zur Jubelkonfirmation am 17. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2016, über Römer 10,9-17:

9 Wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckte, wirst du gerettet.
10 Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber bekennt man zur Rettung.
11 Denn die Schrift sagt (Jesaja 28,16):
„Keiner, der an ihn glaubt, wird zuschanden werden“.
12 Denn es gibt keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Es ist ein Herr über alle, der seinen Reichtum allen abgibt, die ihn anrufen.
13 Denn „jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden“ (Joel 3,5).
14 Wie sollen sie nun anrufen,
an den sie nicht glauben?
Wie sollen sie aber glauben,
von dem sie nichts gehört haben?
Wie sollen sie aber hören ohne Verkündigung?
15 Wie sollen sie aber verkündigen,
wenn sie nicht gesandt sind?
Wie geschrieben steht (Jesaja 52,7):
„Wie rechtzeitig haben sich die Freudenboten eingestellt, die das Gute verkündigen!“.
16 Aber nicht alle gehorchen dem Evangelium. Jesaja sagt deshalb (Jesaja 53,1): „Herr, wer wird unserer Predigt glauben?“.
17 Also kommt der Glaube aus der Predigt, die Predigt aber durch das Wort Christi.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

wie viele Predigten haben Sie wohl schon gehört in Ihrem Leben?
Sie gehören größtenteils zu den Konfirmandinnen und Konfirmanden, die noch jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen mussten. Also haben Sie allein in Ihrer Konfirmandenzeit wohl an die 100 Predigten gehört.
Und - hat es etwas genutzt?

I
„Der Glaube kommt aus der Predigt“, sagt Paulus.
Aber er verrät nicht, wie er da herauskommen soll.
Als ich Konfirmand war, hatte ich einen lieben, herzensguten Pfarrer, der leider überhaupt nicht predigen konnte. Jedenfalls gelang es mir nicht, einen Sinn oder roten Faden in seinen Worten zu entdecken.
Vielen von Ihnen wird es als Konfirmandinnen und Konfirmanden ähnlich gegangen sein:
Was der Pfarrer auf der Kanzel erzählte, wird Sie selten interessiert und noch seltener angesprochen haben.

Ich denke inzwischen, dass das Konfirmandenalter noch nicht das Alter ist, in dem man Predigten hören kann und will. Man fängt gerade erst an, eigene Schritte ins Leben zu gehen, sich aus der Obhut von Mutter und Vater zu lösen und eigene Erfahrungen und Fehler zu machen. Da will man sich doch nicht ausgerechnet vom Pfarrer etwas sagen lassen!
Und dann die Fragen, mit denen die Predigt sich befasst! Fragen wie die nach Schuld und Vergebung, nach dem Sinn des Lebens und nach dem Tod - Fragen, die Jugendliche noch nicht interessieren.
Schlimme Erlebnisse, Enttäuschungen, der Verlust eines Menschen, den man liebte, falsche Entscheidungen oder Verletzungen sind ihnen hoffentlich noch nicht begegnet und werden, wenn es gut geht, noch eine Weile auf sich warten lassen. Sie bleiben zwar niemandem erspart. Aber die Jugend ist doch meist eine Zeit, in der man unbeschwert das Leben probieren kann und sich noch keine Sorgen und Gedanken machen muss.

II
Wenn der Glaube, wie Paulus schreibt, aus der Predigt kommt, die Jugend aber eine Lebensphase ist, die sich für die Fragen des Glaubens noch nicht interessiert - was soll dann der Konfirmandenunterricht? Er fällt ja genau in die Phase der Abnabelung vom Elternhaus; er kommt zur falschen Zeit, in einer Lebensphase, in der sich niemand für den Glauben interessiert. Also ist es sinnlose, vertane Zeit.
Haben Sie Ihren Konfirmandenunterricht so erlebt?
Empfinden Sie ihn als vertane, sinnlose Zeit?

Wenn man ehemalige Konfirmandinnen und Konfirmanden fragt, welche Erfahrungen sie mit dem Konfirmandenunterricht gemacht haben, fällt den meisten als erstes das Auswendiglernen ein: Lieder aus dem Gesangbuch und das Glaubensbekenntnis, den 23. Psalm und die 10 Gebote mit Erklärungen musste man auswendig können. An zweiter Stelle stehen die Marotten und Schrullen des Pfarrers - und in neuerer Zeit auch der Pfarrerin. Und dann vielleicht die Erinnerung an einen schönen Ausflug, eine gemeinsame Fahrt, eine Konfirmandenrüste.

Alle ehemaligen Konfirmandinnen und Konfirmanden, die ich bisher fragte - mich selbst eingeschlossen - haben ihre Konfirmandenzeit in guter Erinnerung. Trotz Auswendiglernen. Trotz - oder gerade wegen - ihrer Pfarrerin oder ihres Pfarrers. Trotz langweiliger Gottesdienste.
Wie kommt das?

Vielleicht, weil der Konfirmandenunterricht, obwohl er Unterricht heißt, anders ist als der Schulunterricht: Hier gelten andere Regeln, hier wird anderes zum Thema als in der Schule. Im Konfirmandenunterricht fällt man für eine Stunde aus der Welt, wird von Pfarrerin oder Pfarrer mit Fragen und Themen traktiert, die scheinbar so gar nichts mit dem Leben zu tun haben und dem, was Jugendliche interessiert: Das andere Geschlecht; die Veränderungen, die am eigenen Körper vor sich gehen; das, was Erwachsene tun - Alkohol trinken, rauchen, sich lieben …

III
Der Konfirmandenunterricht ist nicht so ganz von dieser Welt, wie auch die Pfarrerinnen und Pfarrer, die ihn halten: Die scheinen manchmal auch ein bisschen weltfremd mit ihrem Glauben, ihren Ideen, ihren Geschichten von Gott und Jesus … Aber wenn man zurückblickt auf die Konfirmandenzeit, kann sie einem wie eine Reise in ein fremdes Land erscheinen, wie ein Urlaub, von dem man manche schöne Erinnerung zurückbringt.

Kommen wir auf die eingangs gestellte Frage nach dem Sinn des Konfirmandenunterrichts zurück, so könnte das eine Antwort sein: Der Konfirmandenunterricht ermöglicht andere Erfahrungen als die, die der Alltag in Schule und Familie bietet. Man lernt hier andere Werte kennen als die, die in Gesellschaft und Wirtschaft vertreten werden. Man erfährt von einer anderen Wirklichkeit als die, der man in der Tagesschau - aber auch in Computerspielen begegnet.

Paulus gibt auch eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Konfirmandenunterrichts, gleich im ersten Satz des Predigttextes, und seine Antwort wirft noch einmal ein anderes Licht auf die Konfirmandenzeit. Sie lautet: „Wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckte, wirst du gerettet“.

Wer als Baby oder Kleinkind getauft wurde wie wohl noch die meisten von uns, hat keine Erinnerung mehr daran. Damals bekannten Eltern und Paten stellvertretend für uns den Glauben, den wir erst noch kennen lernen sollten. Deshalb feiern wir Konfirmation und wiederholen dort das Glaubensbekenntnis: Konfirmandinnen und Konfirmanden sollen mit eigenen Lippen bekennen: „Ich glaube an Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, unsern Herrn“.

Ich glaube nicht, dass sich irgendeine Konfirmandin oder ein Konfirmand etwas dabei denkt, wenn er oder sie diese Worte spricht. Selbst, wenn man das Glaubensbekenntnis im Unterricht behandelte, bleiben einem diese Worte fremd. Das geht einem auch als Erwachsene noch so. Es ist oft ein bloßes Lippenbekenntnis.
Aber das genügt auch völlig. Es ist nicht nötig, dass wir jedes Wort glauben oder dahinter stehen: „Wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst“, schreibt Paulus, „wirst du gerettet“.

IV
Wer aufgepasst hat, wir mir widersprechen. Es heißt ja bei Paulus: „Wenn du mit deinem Mund bekennst … und mit deinem Herzen glaubst“! Hier ist also gerade nicht von einem Lippenbekenntnis die Rede, sondern von einem Glauben, der von Herzen kommt.

Das stimmt. Und es stimmt auch wieder nicht.

Bekennen und Glauben geschehen nicht gleichzeitig, sondern nacheinander.
Erst kommt das Bekenntnis. Paulus zitiert dazu den Propheten Joel: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden“. Zur Rettung ist nicht mehr nötig als dieses Bekenntnis. Mehr wird von uns nicht verlangt, und mehr können wir auch nicht tun. Für uns, die wir schon als Kinder getauft wurden, haben die Eltern und Paten dieses Bekenntnis abgelegt. Wir sind also, was unser Verhältnis zu Gott angeht, quasi arbeitslos: Wir können und brauchen nichts mehr dafür tun.

Erst kommt das Bekenntnis. Dann kommt der Glaube.

Glauben lernt man nicht im Konfirmandenunterricht. Der Glaube ist ein Geschenk, etwas, das von außen zu uns kommt, das wir nicht selbst machen können. Er ist ein Geschenk und eine lebenslange Aufgabe. Bis der Glaube aus dem Herzen kommt, bis er eine Herzensangelegenheit wird, hat man viele Erfahrungen gemacht. Der Kinderglauben ist zerbrochen. Man zweifelte am Glauben, an der Existenz Gottes. Man probierte verschiedene Möglichkeiten aus, doch an Gott zu glauben. Wenn es gut ging, erlebte man irgendwann den Trost, die Freude, die Hoffnung, den Sinn, den man im Glauben findet.

Heute sind Sie hier mit Ihren Glaubenserfahrungen. Sie bringen heute Ihre Glaubensernte ein und vergleichen sie mit dem Glauben, den Sie hatten, als Sie damals hier vor dem Altar standen und als schüchterner Junge oder Mädchen Ihr „Ja“ zum Glauben sagten.
Sie sind noch einmal zurückgekommen, nachdem Sie vielleicht lange nicht mehr hier waren, vielleicht schon lange keinen Gottesdienst mehr gefeiert, keine Predigt mehr gehört haben.
In den 25, 50 oder mehr Jahren seit Ihrer Konfirmation sind Sie Glaubensprofis geworden. Vielleicht würden Sie sich selbst nicht so bezeichnen, aber Sie sind es - weil ich es Ihnen sage.

Darum kommt der Glaube aus der Predigt, weil ich Sie als der, der Ihnen heute predigt, auf Ihren Glauben anspreche. Ich setze Ihren Glauben voraus. Ich zweifle nicht an ihm oder meine, Sie würden zu wenig glauben, weil Sie vielleicht nicht so oft in der Kirche waren. Der Glaube kommt aus der Predigt als Zusage: Ich sage Ihnen Ihren Glauben auf den Kopf zu. Aber nicht meine Zusage ist es, auch wenn ich es bin, der zu Ihnen spricht. Es ist die Zusage des Evangeliums: Die gute Nachricht von Jesus, die Ihnen den Glauben zuspricht, und damit ist der Glaube da.

V
Als Konfirmandinnen und Konfirmanden haben Sie damals, bei Ihrer Konfirmation vor 25, 50 oder mehr Jahren, den Glauben bekannt. Seitdem haben Sie ihn gelebt. Auch, wenn es Ihnen selbst nicht bewusst war, wenn der Glaube bisher in Ihrem Leben keine Rolle spielte: Er war da. Er wuchs mit Ihnen, veränderte sich mit Ihnen. Die Predigt kann diesen Glauben voraussetzen und Sie darauf ansprechen. Und Sie selbst können darauf vertrauen, dass Ihr Leben seit Ihrer Taufe unter einem guten Stern steht. Was immer auch geschah und noch geschehen wird: Sie sind gerettet. Nichts und niemand kann verhindern, dass Ihr Leben gut ist und gelungen, und dass es einen Sinn hat.

Unter dem guten Stern Ihrer Taufe sind Sie bisher durchs Leben gegangen. Unter diesem guten Stern gehen Sie in die Zukunft. Alles, was zum Gelingen Ihres Lebens nötig ist, wurde bereits getan:
„Wenn du mit deinem Mund Jesus als Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckte, wirst du gerettet.“

Amen.

Sonntag, 4. September 2016

Glaubensgymnastik

für Sylvia Giuliani


Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 4. September 2016, über 1.Petr. 5,5c-11:

5 „Gott widersetzt sich den Starken,
aber den Demütigen gibt er Gnade" (Sprüche 3,34).

6 Beugt euch also unter die starke Hand Gottes,
damit er euch zu gegebener Zeit erhöht,
7 indem ihr alle eure Sorge auf ihn legt, denn er kümmert sich um euch.
8 Seid besonnen, seid wachsam. Euer Feind, der Widersacher,
geht umher „wie ein brüllender Löwe“ und sucht, wen er verschlingen kann.
9 Ihm widersteht fest im Glauben, weil ihr wisst, dass sich die selben Leiden an euren Glaubensgeschwistern in der Welt vollziehen.
10 Aber der Gott aller Gnade, der euch zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus berufen hat, nachdem ihr ein wenig gelitten habt, wird euch zurechthelfen, stark machen, Kraft verleihen und fest gründen.
11 Ihm sei die Macht in Ewigkeit. Amen.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/1_Petrus_5)


Liebe Schwestern und Brüder,

wie halten Sie’s mit der Morgengymnastik?

Ich muss gestehen: Ich bin morgens zu faul dazu. Aber eine gute Freundin macht jeden Morgen direkt nach dem Aufstehen 20 Liegestütze und 100 Sit-ups. Dadurch würde sie so richtig fit für den Tag, sagt sie.

Die meisten werden keine so schweißtreibenden Aktivitäten anwenden, um wach und für den Tag bereit zu werden. Man vertraut da lieber auf die muntermachende Wirkung einer Tasse starken Kaffees. Am schönsten erwacht es sich, wenn man diesen Kaffee vom Liebsten oder von der Liebsten direkt ans Bett serviert bekommt …

I
Während man mit Hilfe von Gymnastik oder Kaffee die Arme des Schlafes abschüttelt, der einen noch einmal ins kuschlig-warme Bett zurückziehen will, ist etwas anderes schon längst wach und wartet wie ein Hund mit wedelndem Schweif darauf, Gassi geführt zu werden: Die Sorgen.
Sorgen begleiten ins Bett, suchen mitten in der Nacht heim, rauben den Schlaf und erwarten einen am nächsten Morgen wie ein treuer Hund, den man wie einen alten Freund begrüßt: „Guten Morgen, liebe Sorgen, seid ihr auch schon alle da? Habt ihr auch so gut geschlafen? Na, dann ist ja alles klar!“

Wie verheißungsvoll klingt da der Wochenspruch aus dem heutigen Predigttext: „Alle eure Sorge werft auf ihn, denn er sorgt für euch“! - Na, dann ist ja alles klar! Ade, ihr Sorgen, macht’s gut und lasst euch bei mir nicht mehr blicken!
Schön wär’s, wenn man seine Sorgen so einfach los würde.
Aber leider funktioniert es so nicht.
Es genügt nicht, die Aufforderung zu hören: „Alle eure Sorgen werft auf ihn …“, um seine Sorgen los zu werden. Es funktioniert genauso wenig wie der Trost: „Du brauchst doch keine Angst zu haben“, wenn man Angst hat.
Dass man keine Angst zu haben braucht, weiß man selbst - aber man hat sie ja trotzdem, und gerade das macht einen so hilflos. Wissen allein genügt nicht, die Angst zu vertreiben. Es muss etwas mit einem geschehen, das die Angst tatsächlich vertreibt, es muss in einem selbst stattfinden und man muss selbst darauf kommen. Wer z.B. seine Höhenangst überwinden will, übt mit einer Therapeutin so lange, bis irgendwann der Knoten geplatzt und die Angst überwunden ist; das ist richtig anstrengende und schwere Arbeit.

II
So ist es auch mit dem Ablegen der Sorgen.
Das Wissen, dass man Gott seine Sorgen anvertrauen kann und er sie für einen trägt, bringt die Sorgen nicht zum Verschwinden. Auch hier muss sich etwas in einem selbst verändern. Und es steht zu befürchten, dass diese Veränderung auch nur mit großer Arbeit und Anstrengung erzielt werden kann.
Anders als viele gutmeinende Ratgeber, die einem sagen, man brauche sich nicht zu sorgen, speist uns der Predigttext nicht mit einem bloßen Spruch ab. Er gibt Hilfestellung, wie es gehen könnte, die Sorgen auf Gott zu legen. Der Rat, den er gibt, hat viel mit Morgengymnastik zu tun, zu der man so wenig Lust verspürt. Er lautet: „Beugt euch!“.

Ach, das Beugen ist keine schöne Übung!
Je älter und steifer man wird, desto schwerer fällt es, sich zu beugen.
Vor allem fällt die Übung schwer, weil sie bedeutet, sich klein zu machen - kleiner, als man ist.
Eine Verbeugung ist eine Geste der Unterwerfung, der Unterordnung. Wer sich vor einem anderen verbeugt, bringt damit zum Ausdruck, dass der andere einen höheren Rang hat, den man anerkennt; dass er über einem steht.
Es ist keine Frage, dass man sich vor der Bundeskanzlerin oder dem Bundespräsiden-ten verbeugt, vor der britischen Queen oder dem Papst. Eine solche Verbeugung würde kaum jemandem schwer fallen - im Gegenteil, man fühlte sich geehrt und würde das Foto dieser Begegnung (bei solchen Anlässen werden immer Fotos gemacht) wahrscheinlich sogar an einem Ehrenplatz aufhängen.

III
Es fällt nicht schwer, sich einer berühmten, wichtigen, mächtigen Persönlichkeit zu beugen. Da sollte es doch auch kein Problem darstellen, sich unter die starke Hand Gottes zu beugen - denn wer sollte mächtiger, wichtiger, berühmter sein als Gott? - Nun, Donald Trump würde da vielleicht Einwände erheben, aber ihn wollen wir jetzt mal beiseite lassen.

Doch es gibt tatsächlich ein Problem: Von der starken Hand Gottes ist weder etwas zu sehen noch zu spüren.
Zwar behauptet die Bibel, Gott habe mit starker Hand sein Volk aus Ägypten geführt, habe die Welt erschaffen und unzählige Male in die Geschichte Israels eingegriffen. Gott habe Jesus von den Toten auferweckt und Petrus aus dem Gefängnis befreit. Aber seitdem war und ist von Gottes starker Hand nichts mehr zu spüren.
Darum suchen sie uns ja heim, die Sorgen, bei Tag und bei Nacht, wie lästiges Geziefer, weil sie genau wissen: Niemand ist da, der sie vertreiben könnte.

Wenn also Gottes starke Hand nicht zu spüren ist: Worunter soll man sich denn dann beugen, um seine Sorgen los zu werden?

Das Schlimme an der morgendlichen Gymnastik sind nicht die Anstrengung und der Schweiß, die sie kostet. Das Schlimme ist die Überwindung, das wohlig-warme Bett zugunsten des harten, kalten Fußbodens aufzugeben, und wofür? Sind Gelenkigkeit und Fitness, die einem die Gymnastik schenkt, wirklich diese Mühe wert? Da dreht man sich doch lieber noch einmal im Bett um und wartet auf den Kaffee …

Sich unter Gottes Hand zu beugen ist auch so eine beschwerliche Übung, die keinen offensichtlichen Nutzen hat - denn welchen Sinn hat es, sich unter eine Hand zu beugen, die man nicht sehen kann?

IV
Damit der Glaube tragen und einem die Sorgen nehmen kann, muss man ihn üben. Zwar ist die Taufe alles, was zum Glauben nötig ist. Die Taufe allein genügt, damit unser Leben gelingt, damit wir sorglos, fröhlich und glücklich als Kinder Gottes leben können. Mehr braucht es nicht. Aber damit uns diese Tatsache trösten und sorgenfrei machen kann, muss man üben, üben, üben, sich darauf zu verlassen.

Noch einmal: Der Glaube, den Gott uns schenkt, genügt, damit unser Leben gelingt und damit wir gut durchs Leben kommen; es braucht dazu keinerlei Zutun von unserer Seite, wir müssen dazu auch nicht einen Finger krumm machen. Aber damit wir selbst es wissen und glauben können, müssen wir den Glauben üben, üben, üben, wie man seine tägliche Morgengymnastik macht.
Und diese Glaubensübung besteht darin, sich auf eine Hand zu verlassen, die man nicht sieht und die, so scheint es, auch nicht da ist.
Es ist, wie mit verbundenen Augen an den Rand einer tiefen Schlucht geführt und aufgefordert zu werden, jetzt einfach weiter geradeaus zu gehen, da sei ein Steg, schmal zwar und ohne Geländer, aber man käme darauf sicher auf die andere Seite.

Vielleicht finden Sie dieses Beispiel übertrieben und unrealistisch - wann kommt man jemals in die Verlegenheit, eine Schlucht mit verbundenen Augen auf einem Steg überqueren zu müssen?
Aber Sie können sich anhand dieses Beispiels vielleicht vorstellen, welches Vertrauen zu einer solchen Überquerung nötig ist, und wie schwer es ist, den Mut zu einem solchen Vertrauen aufzubringen.
Solches Vertrauen ist nötig, wenn man sich auf die Hand Gottes verlassen will, die doch weder zu sehen noch zu spüren ist. Dass dieses Vertrauen nicht von heute auf morgen da ist, sondern langsam wachsen und mühsam erarbeitet werden muss, dürfte auf besagter Hand liegen.

V
Sollte es wirklich nur darum gehen: Sich unter diese eine unsichtbare Hand zu beugen? Ist das nicht etwas mager - und nicht auch ein wenig lächerlich?
Es macht uns jedenfalls nichts aus, uns unter die unsichtbare Hand des Marktes zu beugen, die unserem angeblich alternativlosen Wirtschaftssystem so gut tun soll.

Wie Sie sich vielleicht schon gedacht haben, geht es bei dem Beugen unter die unsichtbare Hand Gottes nicht um Gymnastik, sondern um eine Haltung (die allerdings durch Gymnastik verbessert werden kann). Der Predigttext bezeichnet diese Haltung mit dem Wort Demut.

Demütig zu sein heißt nicht, mit gesenktem Haupt, hochgezogenen Schultern und gebeugtem Rücken durchs Leben zu schleichen. Demut ist keine Körper-, sondern eine Geisteshaltung:
- wer demütig ist, erkannt an, dass er einen über sich hat, dem er sich und alles verdankt;
- wer demütig ist, wendet die eigenen Fähigkeiten stets im Bewusstsein dessen an, dem sie sich verdanken - so, wie man in einer Doktorarbeit angibt, woher man das Wissen bezog, das man darin ausbreitet;
- wer demütig ist, dem fällt es nicht schwer, sich anderen zu beugen - nicht, weil er kein Rückrat besäße, sondern weil er andere nicht für geringer hält als sich selbst, und sich selbst nicht für schlechter als andere.

Wer seine Sorgen los werden will, unterziehe sich dieser Glaubensgymnastik, übe Demut und Vertrauen. Das ist anstrengend. Es erfordert Ausdauer und Geduld. Oft fragt man sich, wazu man sich das antut, was es bringt, da man doch keine Wirkung spürt. Aber am Ende winkt als Belohnung das Ende aller Sorgen, ein Leben in der Freiheit der Kinder Gottes. Das ist doch wohl den Schweiß der Edlen wert!


Amen.