Samstag, 20. Juni 2015

Abnehmen

Predigt zum Tag der Geburt Johannes des Täufers (24. Juni) am 21. Juni 2015 über Johannes 3,30:
"Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen."


Liebe Gemeinde,

"ich muss abnehmen" - ein Stoßseufzer, den jetzt, zu beginn der Badesaison, wohl viele äußern, wenn sie Badehose oder Bikini aus dem Schrank holen und anprobieren.

"Ich muss abnehmen!" - ein Satz, der nicht nur zur Sommerzeit, sondern das ganze Jahr über gebetsmühlenartig wiederholt wird. 
Die Models aus den bunten Magazinen, auf den Plakatwänden und in den Fernsehshows suggerieren, dass ihre zerbrechlichen, dünnen Körper das Maß sind, an dem wir uns messen lassen müssen. Und deshalb kann es für die meisten von uns nur heißen: "Ich muss abnehmen!".

Dabei ist es überhaupt nicht gesund, ständig abzunehmen - im Gegenteil: am gesündesten und am längsten lebt, wer ein leichtes Fettpolster hat; solche Menschen haben die besten Chancen, steinalt zu werden.

I
Abseits unserer Körperwelten spielt das Abnehmen zum Glück auch keine Rolle.  Ganz im Gegenteil: Es scheint, als ginge es überall und allenthalben - sieht man mal vom Körper ab - nur ums Zunehmen. Ums mehr Werden und den Mehrwert, um Steigerung und Wachstum.

Wachstum ist überhaupt die Grundüberzeugung unserer Gesellschaft, die gebetsmühlenartig wiederholt wird. Ohne Wachstum geht es nicht; ohne Wachstum geht gar nichts. Wenn die Wirtschaft nicht wächst, dann droht die Krise. Die Produktion muss wachsen. Unsere Exporte müssen wachsen. Die Rendite muss größer werden. Aber auch der Konsum muss wachsen. Weil nur so die Wirtschaft wachsen kann, und dann nimmt vielleicht auch die Zahl der Arbeitsplätze wieder zu.

Auch im privaten Bereich ist alles auf Wachstum ausgerichtet: Das Einkommen muss steigen, schließlich steigen ja auch die Preise. Es gilt, Sprosse um Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen. Und kann man selbst nicht auch immer besser werden? Die eigene Leistung steigern, die Effizienz? Auch seinen Körper kann man immer besser machen, durch Training und Fitness. 

Und warum jammert die Kirche über sinkende Mitgliederzahlen? Gemeinden können doch wachsen! Man muss sich nur ein bisschen Mühe geben, die richtigen Methoden anwenden, sich mal ein bisschen anstrengen - mehr und bessere Angebote machen, mehr Gottesdienste, mehr Hausbesuche, dann werden die Kirchen auch wieder voll!

Es scheint nichts zu geben, das nicht besser zu machen, nicht zu steigern wäre. Unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, unser ganzes Leben ist auf Steigerung, Optimierung, Wachstum ausgerichtet. Mehr leisten, mehr verdienen, mehr besitzen: Das ist es!

II
Fällt niemandem auf, dass daran etwas nicht stimmt?

Wie weit soll das Wachstum denn noch gehen - wie weit kann es noch gehen? Für alles Wachstum gibt es eine natürlich Grenze; selbst Bäume wachsen nicht in den Himmel. Und wenn irgendwo etwas mehr wird - Geld, Kapital, Zeit, Material -, dann muss es irgendwo anders weniger werden. 
Unsere Erde, so riesig so ist mit ihrem weiten Himmel, den schier unendlichen Landflächen und den immens großen Ozeanen, ist endlich. 
Sie ist ein geschlossenes System: Es kann nicht mehr werden. Wenn das Öl einmal ausgebeutet sein wird, ist es weg. Es wächst keins nach. 
Es kann auch nichts heraus. Das Kohlendioxid, das wir in die Atmosphäre pusten, bleibt da und geht einfach nicht weg.

"Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen."
Dieser Ausspruch des Johannes stellt zunächst einmal fest: 
Wenn irgendwo etwas mehr wird, muss es an anderer Stelle weniger werden.
Wenn einer mehr bekommt, bekommt ein andere weniger. 
Wenn jemand mehr verdient, wird ein anderer heruntergestuft, wie jetzt bei der Deutschen Post. Oder es wird jemand entlassen; denn die Personalkosten dürfen ja nicht steigen. 
Wenn ich einen schöneren, strafferen, sportlicheren Körper haben möchte, muss ich mehr Zeit für seine Pflege und für's Training investieren - Zeit, die ich sonst für andere Dinge, für andere Menschen hätte.
Wenn mehr geleistet werden soll, muss man länger arbeiten, und es bleibt weniger Zeit zur Erholung, weniger Zeit zum Nachdenken. Weniger Zeit für anderes - die Familie, die Freiwillige Feuerwehr, der Trachtenverein, die Gemeinde oder das Hobby.

III
"Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen."
Johannes ist nicht auf Diät. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass man von Heuschrecken und wildem Honig Speck ansetzen kann. Trotzdem wird er weniger, weil ein anderer ihm etwas wegnimmt: Johannes dem Täufer laufen die Täuflinge weg. Sie gehen zu Jesus, der auch tauft, wie Johannes. Der aber mehr zu bieten hat als er: "Ich taufe mit Wasser", sagt Johannes; "der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, und ich bin nicht wert, ihm die Schuhe zu tragen; der wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen."

Wir kochen alle nur mit Wasser.
Wir sind alle nicht so besonders, dass es allein nur auf uns ankäme. 
Das wissen wir eigentlich.
Trotzdem sind wir der Meinung, dass uns mehr zusteht als unserem Nachbarn.
Dass wir ein Recht auf Wohlstand, ein Recht auf Glück hätten,
während es anderen schlecht geht, sie in Armut und Todesangst leben müssen.
Wir sind der Meinung, wir hätten ein Recht, unseren Wohlstand zu verteidigen,
wo doch die Vorräte auf der Erde begrenzt sind und,
wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika "Laudato Si" betont hat, allen gehören.

"Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen."
Das bedeutet auch: Wir müssen nicht ständig mehr haben und mehr werden. 
Wir müssen nicht ständig wachsen. Das ist kein Naturgesetz.
Und nur, weil es gebetsmühlenartig wiederholt wird, ist es nicht wahr.

Wir brauchen nicht ständig zu wachsen, sagt Johannes. 
Wir dürfen auch mal weniger machen, weniger werden, weniger sein.
Wir dürfen sagen: "Das schaffe ich nicht. Das ist mir zu viel. Das ist mir zu schwer" - ohne, dass wir darum weniger wert wären, oder unsere Leistung dadurch geschmälert würde.

"Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen."
Das Beispiel des Johannes stellt uns die Frage, ob wir nicht mal aufs Wachstum verzichten können. Verzichten zugunsten unserer Mitmenschen. Verzichten zugunsten unserer Umwelt. Verzichten um unsretwillen: Damit wir endlich aus der Tretmühle des Schneller - Höher - Weiter herauskommen und einmal durchschnaufen. Und uns beim Durchschnaufen einmal ansehen, was wir da tun. Und uns fragen, ob wir wirklich immer weiter wie der Hamster im Rad laufen wollen.

IV
Es gäbe noch einen anderen Weg:
"Er muss zunehmen, ich aber muss abnehmen."
Dieser Satz des Johannes ist eine Entlastung für uns.
Nicht wir müssen wachsen. 
Jesus tut es. Jesus nimmt uns das Wachsenmüssen ab. 
Wir dürfen wachsen. Aber wir müssen nicht mehr. 
Wir dürfen auch nachlassen. Weniger werden. Aussteigen und Pause machen.

Das gilt auch und gerade für die Kirche, für die Gemeinde:
Wir dürfen weniger werden. Wir dürfen abnehmen, schrumpfen. 
Denn Jesus wächst auch ohne unser Zutun, ohne unsere Arbeit, ohne dass wir es mit aller Macht wollen.
Wenn wir gelassen Gemeinde und Kirche sind, statt ständig immer mehr sein und mehr werden zu wollen, dann kommen Menschen vielleicht gerade in die Kirche. Weil sie hier etwas vorfinden, das anders ist als die Wachstumsgesellschaft: Barmherzigkeit.

Barmherzigkeit, die keinem mehr zumutet, als er schaffen kann.
Barmherzigkeit, die jede und jeden so sein lässt, wie sie oder er ist.
Barmherzigkeit, die jeder und jedem eine Pause gönnt - und auch den Erfolg.

Für diese Barmherzigkeit lohnt es sich, abzunehmen.
Dann ist uns nicht nur ein langes Leben gewiss,

sondern auch noch das Glück!