Freitag, 27. Juli 2012

Frei sein als Gottes Eigentum


Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juli 2012, über 1.Korinther 6,9-14.18-20:

Muss ich euch daran erinnern, dass die, die Unrecht tun, keinen Anteil am Reich Gottes bekommen werden, dem Erbe, das Gott für uns bereithält? Macht euch nichts vor: Keiner, der mit Prostituierten verkehrt oder sich selbst prostituiert, Götzen anbetet, die Ehe bricht, homosexuelle Beziehungen eingeht, stiehlt, geldgierig ist, trinkt, Verleumdungen verbreitet oder andere beraubt, wird an Gottes Reich teilhaben.
Auch ihr gehörtet zu denen, die so leben und sich so verhalten – zumindest einige von euch. Aber das ist Vergangenheit. Der Schmutz eurer Verfehlungen ist von euch abgewaschen, ihr gehört jetzt zu Gottes heiligem Volk, ihr seid von aller Schuld freigesprochen, und zwar durch den Namen von Jesus Christus, dem Herrn, und durch den Geist unseres Gottes.
»Alles ist mir erlaubt! « Wer so redet, dem antworte ich: Aber nicht alles, was mir erlaubt ist, ist auch gut für mich und für andere . – »Alles ist mir erlaubt! « Aber es darf nicht dahin kommen, dass ich mich von irgendetwas beherrschen lasse.
Ihr sagt: »Das Essen ist für den Magen da und der Magen für das Essen, und dem einen wie dem anderen wird Gott ein Ende bereiten. « Einverstanden, aber das heißt noch lange nicht, dass wir mit unserem Körper machen können, was wir wollen. Der Körper ist nicht für die Unmoral da, sondern für den Herrn, und der Herr ist für den Körper da und hat das Recht, über ihn zu verfügen. Und genauso, wie Gott den Herrn von den Toten auferweckt hat, wird er durch seine Macht auch uns vom Tod auferwecken und unseren Körper wieder lebendig machen.
Lasst euch unter keinen Umständen zu sexueller Unmoral verleiten! Was immer ein Mensch für Sünden begehen mag – bei keiner Sünde versündigt er sich so unmittelbar an seinem eigenen Körper wie bei sexueller Unmoral. Habt ihr denn vergessen, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist? Der Geist, den Gott euch gegeben hat, wohnt in euch, und ihr gehört nicht mehr euch selbst. Gott hat euch als sein Eigentum erworben; denkt an den Preis, den er dafür gezahlt hat! Darum geht mit eurem Körper so um, dass es Gott Ehre macht!
(NGÜ)

Liebe Gemeinde,

ist Paulus ein Taliban?
Ist er ein religiöser Fanatiker,
wie sie gerade an vielen Orten der Welt
rigoros gegen in ihren Augen unmoralisches
und religiös verwerfliches Verhalten vorgehen?
In Afghanistan haben sie Buddhastatuen gesprengt;
in Timbuktu zerstören sie Gräber islamischer Heiliger;
Frauen müssen Kopftuch tragen
oder ihre Gestalt sogar unter einer Burka verstecken.
Frauen, die das nicht tun
und Paare, die sich öffentlich küssen,
verhalten sich nach Ansicht dieser religiösen Eiferer
im höchsten Maße sexuell unmoralisch
und müssen mit harter Bestrafung rechnen.

I
Ist Paulus ein Taliban?
Es könnte so scheinen.
Man könnte Paulus für einen Moralapostel halten.
Wen er nicht alles für sein Fehlverhalten tadelt:
jeden, der "mit Prostituierten verkehrt oder sich selbst prostituiert, 
Götzen anbetet, die Ehe bricht, homosexuelle Beziehungen eingeht, 
stiehlt, geldgierig ist, trinkt, Verleumdungen verbreitet oder andere beraubt".
Eine bunte Mischung ist das.
Paulus benennt hier alle Arten moralisch zweifelhaften Verhaltens.
Dazu gehören Dinge,
die heute längst nicht mehr als unmoralisch gelten
und das auch nicht sind,
wie homosexuelle Beziehungen.
Und dazu gehören auch Dinge,
die viele heute nicht mehr so verbissen sehen wie weiland Paulus:
der Seitensprung, Alkoholkonsum,
Börsenspekulation oder einen Ladendiebstahl.

Was und wie Paulus hier kritisiert,
ist für heutige Ohren nicht leicht zu ertragen.
Zu viel Schlimmes wurde mit den Worten des Paulus angerichtet.
Von dem Befehl: "Hände über die Bettdecke!"
bis hin zur Ausgrenzung und Verurteilung von gleichgeschlechtlich
liebenden und lebenden Menschen,
die bis heute auch in der Kirche noch zu finden ist.
Paulus ist ein Kind seiner Zeit,
und teilt viele ihrer Maßstäbe.
Obwohl er die Freiheit eines Christenmenschen
für sich und andere entdeckt hat,
bekommt er es doch mit der Angst zu tun,
als er sieht, dass die Korinther ihn beim Wort nehmen.

Aber schreiben wir Paulus nicht gleich ab,
legen wir seine Einwände nicht gleich in die Mottenkiste.
Mag sein, dass unter der altbackenen Oberfläche
doch noch eine schöne Entdeckung zu machen ist.
Kratzen wir ein bisschen an der Oberfläche.
Dann sehen wir:
Paulus legt zwar den Finger auf in seinen Augen moralisch fragwürdiges Verhalten,
und zeigt mit dem Finger auf die Korinther:
"Auch ihr gehörtet zu denen, die so leben und sich so verhalten – zumindest einige von euch."
Aber dann schränkt er auch schon ein:
"das ist Vergangenheit".
Das falsche Verhalten ist abgewaschen.
Die Schuld ist vergeben.
Sie steht nicht mehr zwischen den Korinthern und Gott
und verhindert, dass sie an Gottes Reich teilhaben.

Man könnte jetzt spitzfindig sein und fragen,
ob die Korinther ihr Verhalten,
das Paulus kritisiert, tatsächlich aufgegeben haben -
oder ob es dadurch, dass sie von ihrer Schuld freigesprochen wurden,
einfach nur nicht mehr "zählt".
Darauf könnte jedenfalls hindeuten,
dass die Korinther behaupten:
"Alles ist erlaubt!".
Und Paulus ihnen nicht widerspricht,
sondern ihnen sogar bestätigt:
Ja, alles ist erlaubt. Aber - - -
aber nicht alles "frommt", übersetzt Martin Luther.
"Nicht alles, was mir erlaubt ist, ist auch gut für mich und für andere."

Diese Einschränkung der Freiheit eines Christenmenschen,
die ist das eigentlich Spannende an der Argumentation des Paulus.

II
Der Satz, auf den es ankommt, steht ziemlich genau in der Mitte:
"Der Körper ist nicht für die Unmoral da, sondern für den Herrn, 
und der Herr ist für den Körper da 
und hat das Recht, über ihn zu verfügen."
Paulus wertet den Körper nicht ab.
Es geht ihm nur um die "sexuelle Unmoral",
und hier müssen wir zunächst sehen, was er damit meint.
Alles unmoralische Verhalten,
das Paulus zu Beginn aufzählt,
hat gemeinsam, dass Menschen ihren Körper verkaufen;
dass sie sich zu Objekten machen - oder gemacht werden -,
die andere Menschen nach Lust und Laune gebrauchen können.
Alles, was damit zusammenhängt, heißt im Griechischen
"porneía".
Es ist hier etwas hilflos mit "sexueller Unmoral" wiedergegeben.
Gemeint ist aber das, was auch im Begriff "Porno" steckt:
Dass Menschen für Geld missbraucht werden.
Deshalb tauchen interessanterweise auch Diebstahl, Raub,
Alkoholismus und Geldgier in Paulus' Liste auf:
Auch hier werden Menschen für Geld missbraucht -
indem man ihnen um des Geldes willen Schaden zufügt.
Denn Alkohol- oder Drogenmissbrauch sind in erster Linie
ein gutes Geschäft für die, die Alkohol oder Drogen verkaufen.
Und durch die Spekulationen einiger weniger an der Börse
haben viele Menschen alles verloren, was sie hatten.

III
Paulus wehrt sich dagegen,
dass Menschen sich verkaufen.
Für Paulus ist jeder Mensch heilig.
Der erste Paragraph unseres Grundgesetzes
hat hier seine Wurzeln:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Sie ist deshalb unantastbar,
weil jeder Mensch ein Kind Gottes ist,
weil wir Gott gehören
mit Leib und Seele, Haut und Haar.

Wenn Menschen meinen, andere Menschen kaufen zu können,
oder wenn Menschen sich selbst verkaufen,
geben sie nicht nur ihre Würde preis.
Sie leugnen damit auch, dass sie Gott gehören.
- Aber ist es nicht so?
Ist es nicht so, dass wir uns selbst gehören,
dass jede und jeder mit seinem oder ihrem Leben
tun und lassen kann, was sie oder er will?
Ist das nicht unsere große Freiheit?

Dass wir frei über unser Leben und unsern Köper bestimmen,
dass wir uns selbst gehören,
ist leider nur eine Illusion.
In unserer Gesellschaft, in der alles zur Ware werden kann,
in der alles käuflich ist,
werden nicht nur Dinge nach ihrem Wert beurteilt.
Auch Menschen.
Der Wert eines Menschen wird bemessen
an seinem wirtschaftlichen Leistungsvermögen
oder an seinen Kosten für die Kranken- und Rentenkassen;
nach dem Wert seiner Organe,
seiner Arbeit, seines Wissens.
In unserer Gesellschaft ist jeder Mensch käuflich;
es ist nur eine Frage des Preises.
Wir gehören schon lange nicht mehr uns selbst.
Durch die hohe Staatsverschuldung gehören
unser Haus, unsere Arbeitskraft und unsere Spareinlagen
längst den Banken.

IV
"Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", sagt Jesus
(Matthäus 6,24).
Damit benennt er das Dilemma, in dem wir uns befinden:
Wenn alles Ware, alles käuflich ist,
ist nichts mehr vom wirtschaftlichen Denken ausgenommen.
Es gibt keinen Freiraum mehr,
wo man einfach die oder der sein kann, die oder der man ist.
Immer geht es um Leistung, um Gewinn oder Verlust.
Immer geht es ums Geld,
darum, wer das bezahlen soll, und wer das bestellt hat.

"Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", sagt Jesus
und zeigt uns damit einen Ausweg aus der persönlichen Schuldenkrise.
Wenn wir nämlich ernst damit machen,
dass wir Gott gehören,
entziehen wir uns der Macht und dem Einfluss,
den das Geld über uns hat.
Wir entkommen nicht der Staatsverschuldung
und auch nicht unserem Wirtschaftssystem.
Aber wir müssen nicht mehr mitmachen.
Wir müssen uns nicht verkaufen.
Wir haben unsere Würde nämlich nicht durch Geld oder Besitz,
sondern von Gott.
Nicht durch unsere Leistung, unser Einkommen,
sondern weil Gott uns so annimmt und liebt, wie wir sind.

V
"Der Körper ist nicht für die Unmoral da, sondern für den Herrn, 
und der Herr ist für den Körper da 
und hat das Recht, über ihn zu verfügen."
Das wirklich Spannende an der Argumentation des Paulus ist,
dass er uns deutlich machen will:
Unser Körper gehört nicht uns, sondern Gott.
Aber gerade deshalb, und nur deshalb
können wir in aller Freiheit über uns und unseren Körper verfügen.
Gott hat ihn dem Kreislauf der Vermarktung entzogen
und uns zur kostenlosen Nutzung überlassen.

Das ist wahrscheinlich schwer vorstellbar.
Vielleicht wird es einfacher, wenn man sich daran erinnert,
wie es war, als Kind im Elternhaus zu leben:
Da gehörte einem nichts - das Haus gehörte den Eltern,
alle Möbel, alles Geschirr, Kleidung, Essen, Auto, Fahrrad.
Und trotzdem konnte man über alles verfügen.
Die Eltern fuhren einen mit dem Auto, wohin man wollte.
Haus und Garten konnte man nutzen, wann und wie man Lust hatte.
Die Liebe der Eltern gilt ihren Kindern so, wie sie sind.
Zuhause sind sie vom Leistungsdruck,
von der Wirtschaftlichkeitsberechnung,
vom Kosten-Nutzen-Denken befreit.
Zuhause, das ist ein Freiraum,
in dem man sich tatsächlich noch selbst gehört
und sich seiner Freiheit innerhalb der Geborgenheit der Familie
- wenn sie denn eine heile Familie ist -
erfreuen darf.

"Keiner von uns lebt sich selber", schreibt Paulus,
"und keiner von uns stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn
und sterben wir, so sterben wir dem Herrn." (Römer 14,7-8)
Wir gehören Gott, mit Haut und Haar.
Das macht uns nicht zu Sklaven,
das macht uns allererst frei.
Denn es befreit uns von der Sorge um uns und unser Leben.
Gott sorgt dafür, dass unser Leben gelingt.
Gott sorgt dafür, dass wir "richtig" sind und gut,
dass wir schön sein, unser Leben und unseren Körper genießen können
unabhängig von dem, was andere schön finden,
ob sie uns unser Glück gönnen
oder mit unserer Art zu leben einverstanden sind.

Die Freiheit eines Christenmenschen liegt,
so widersprüchlich es klingen mag, darin,
dass wir mit Haut und Haar Gott gehören.
Wenn wir das begreifen,
kann uns nichts und niemand mehr zu einem Objekt degradieren.
Wenn wir das begreifen,
sind wir frei von allen Moralaposteln und Taliban,
die uns ihre Werte und Maßstäbe aufzwingen wollen.
Wenn wir das begreifen,
werden wir Achtung vor allem Leben empfinden
und niemanden zum Objekt
unserer Wünsche und Begierden machen,
weil wir wissen, dass der andere uns niemals gehören kann.
Er gehört ja bereits Gott und ist genauso frei wie wir.

Samstag, 21. Juli 2012

Wertewandel


Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2012, über Philipper 2,1-4:

Wenn ihr der Meinung seid, es bedeute etwas,
dass man in Christus ermutigt,
dass man durch Liebe getröstet wird;
dass man im Geist verbunden ist,
dass es Herzlichkeit und Barmherzigkeit gibt:
dann macht meine Freude dadurch vollkommen,
indem ihr dasselbe vorhabt, die selbe Liebe habt,
einträchtig seid, das Eine im Sinn habt: den Vorsatz,
einander weder an Selbstsucht
noch an Geltungsbedürfnis zu übertreffen,
sondern an Demut,
indem jeder nicht auf das eigene Wohl achtet,
sondern vor allem auf das Wohlergehen der anderen.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Gemeinde,

als ich als Student zur Untermiete wohnte,
erzählte mir meine Vermieterin mit leuchtenden Augen,
wie sie früher mit den Nachbarn abends vor der Hautür gesessen habe;
wie sie damals miteinander gesungen oder erzählt hätten,
und wie traurig es sei, dass es das nun nicht mehr gäbe.

Auf meiner ersten Pfarrstelle hörte ich,
wie viel Leben es in dem Stadtteil gegeben habe,
als alle ihre Häuser bauten,
junge Familien dort lebten und praktisch jeden Tag etwas los war.
Die Kinder spielten miteinander auf der Straße;
Straßenfeste oder Partys im Gemeindehaus waren immer gut besucht.
Inzwischen sind die Kinder erwachsen geworden und ausgezogen,
der Stadtteil ist zur Schlafsiedlung geworden,
die Straßen sind gespenstisch leer.

Hier erzählen die Alten wehmütig
von den tollen Feiern, die es früher gegeben,
und was man damals alles angestellt hätte.
Wie viele Leute zu den Gemeindefesten gekommen
und wie toll die Stimmung gewesen wäre.
Die Alten werden immer weniger,
und die Jungen können nicht mehr so feiern wie sie
oder wollen es nicht.

Überall dasselbe Bild.
In den Vereinen, bei der Freiwilligen Feuerwehr,
bei den Parteien, in der Kirche:
überall gibt es Nachwuchsprobleme.
Kaum einer will noch mitmachen.
Keiner will sich mehr engagieren.

II
Über die Ursache herrscht Ratlosigkeit.
Ist das Fernsehen schuld,
dass die Leute abends lieber auf dem Sofa sitzen,
als vor die Haustür zu gehen,
in die Kneipe, oder in einen Verein?
Ist es der berufliche Stress,
der so groß ist, dass man sich zuhause erholen muss
und keine Kraft mehr hat für ehrenamtliches Engagement?
Oder ist es die Vereinzelung, die Individualisierung,
die Menschen zu Inseln werden lässt,
dass sie sich selbst genug sind,
dass sie keinen Austausch, keinen Kontakt mit anderen mehr brauchen?

Vielleicht spielt das alles eine Rolle,
und vielleicht gibt es noch mehr
und noch ganz andere Begründungen dafür,
dass Gemeinschaft und Geselligkeit,
Einsatz für andere oder für ein gemeinsames Projekt
nicht mehr gefragt sind.

Vielleicht muss man das Problem von hinten aufzäumen
und mit dem heutigen Predigttext danach fragen,
was es braucht, damit man sich für Gemeinschaft interessiert,
und Lust bekommt,
sich für andere oder für eine gemeinsame Sache einzusetzen.

III
Am Anfang steht die Frage, was einem etwas bedeutet.
Jeder Mensch könnte eine lange Liste von Dingen aufstellen,
die ihr oder ihm wichtig sind, ihr oder ihm etwas bedeuten.
"Freiheit" würde auf dieser Liste wohl ganz oben stehen.
"Ruhe" - und zwar sowohl die Abwesenheit von Lärm,
als auch die Abwesenheit von Anfragen und Anforderungen,
das in Ruhe gelassen Werden.
"Privatsphäre" ist sicher auch vielen wichtig,
"Urlaub" oder "Freizeit" stünden ganz oben.

Wie ist es mit "Ermutigung durch den Glauben",
"Trost durch die Liebe", "Verbundenheit im Geiste",
mit "Herzlichkeit" und "Barmherzigkeit"?
Wenn sie uns überhaupt etwas bedeuten,
wenn sie uns beim Erstellen unserer Liste
überhaupt eingefallen wären,
dann hätten sie sicher keinen Platz ganz oben bekommen.
Dabei sind sie etwas,
das jeder Mensch braucht und sucht:
Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl brauchen wir,
sogar ganz dringend.
Wir können nur dann einigermaßen glücklich sein,
wenn wir sie bekommen.
Aber sie sind uns nichts wert. Oder nicht viel.

IV
Irgendetwas hat sich da verändert.
Und wenn, dann hat sich diese Veränderung schleichend vollzogen,
von allen unbemerkt.
Es ist fast so wie mit den Grauen Herren bei Momo:
Sie rechnen den sorglos und gemütlich dahinlebenden Bürgern vor,
dass sie effizienter werden, ihre Zeit besser nutzten müssten.
Und nach und nach fangen alle an, ihr Leben umzustellen.
Sie haben plötzlich keine Zeit mehr,
vor allem keine Zeit mehr füreinander.

Kann es sein, dass auch wir Opfer Grauer Herren geworden sind?
Dass der Leistungsdruck, der schon im Kindergarten beginnt,
die immer größere Effizienz,
die einen Arbeitsplatz nach dem nächsten überflüssig macht,
und die gleichzeitig von uns einen immer größeren Einsatz
an Zeit und Kraft verlangt, unsere Werte verändert hat?

Ich habe als Kind noch unbeschwert gespielt,
ohne Gedanken um die Zukunft.
Statt Hausaufgaben zu machen,
habe ich lieber meine Zeit mit meinen Freunden verbracht.
Das gab zwar manchmal Ärger mit den Lehrern,
war aber nicht weiter schlimm.
Heute sitzten die Kinder nach der Schule
den ganzen Nachmittag am Schreibtisch
und verabreden sich nicht,
weil ihre Mitschüler auch alle am Schreibtisch sitzen.
Selbst, wenn sie wollten: Es ist niemand da,
mit dem sie Zeit verbringen könnten.

Und vielleicht ist das auch der Grund,
warum wir so wenig Zeit mit anderen verbringen:
weil wir gar keine Zeit mehr für Freunde haben
nach einem langen Arbeitstag
und nach all der Arbeit, die für die Familie erledigt werden muss,
vom Wäschewaschen und Putzen bis zur Steuererklärung.

V
Jeder Mensch braucht und sucht
Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl.
Manchmal findet man sie auch noch.
Zuerst in der Familie.
Die Familie muss all das wieder gut machen und ersetzen,
was die Gesellschaft nicht mehr leistet.
Hier wird nachgeholt und erklärt,
was in der Schule nicht verstanden wurde.
Hier wird getröstet und ermutigt.

Natürlich, werden Sie denken,
dazu ist eine Familie doch da!
Das stimmt sicher. Eine Familie ist auch dazu da.
Aber es belastet und überlastet eine Familie,
wenn alles von ihr abhängt.
Denn dann darf es keinen Streit geben,
dann müssen alle funktionieren,
niemand darf sich ausklinken,
niemand darf einmal nur an sich denken.

Die Familie ist zum Lückenbüßer geworden
und zum Alleinanbieter alles dessen,
was wir dringend zum Leben brauchen,
was wir aber gering schätzen,
weil wir es in der Familie umsonst bekommen.
Die Frage ist, wie lange eine Familie diese Belastung aushält.
Die Frage ist, wie lange wir die Belastung aushalten,
für Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl zu sorgen,
wenn wir es doch eigentlich selbst brauchen könnten.

VI
Was es also braucht,
damit man sich für Gemeinde, für Gemeinschaft interessiert
und Lust dazu bekommt, sich für andere einzusetzen?
Es braucht eine Veränderung der Werte.
Das, was wir dringend brauchen,
aber so gering schätzen,
das muss in unserer Liste nach oben wandern
und den Urlaub, die Ruhe, die Freizeit und die Privatsphäre
von ihren ersten Plätzen verdrängen.
Wir müssen erkennen,
wie wichtig Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl
für uns und unser Leben sind.

Wer das für sich erkannt hat,
wird einsehen, dass auch andere dieses Bedürfnis haben,
und wird seine Mitmenschen anders ansehen.
Er wird nicht zuerst auf das eigene Wohl achten,
sondern vor allem auf das Wohlergehen der anderen.
Dadurch passiert etwas Unglaubliches:
Wenn man zuerst an seine Mitmenschen denkt
und nicht zuerst an sich,
dann erlebt man eine viel größere Zuwendung
als jemals zuvor.
Es entsteht ein Schneeballeffekt:
die Mitmenschen interssieren sich ja im Gegenzug
auch zuerst für mich,
viele Menschen wenden sich mir zu, nehmen mich wahr,
freuen sich über meine Erfolge und teilen meinen Kummer.

VII
Ein kleiner Schritt, den Paulus "Demut" nennt
und der allein darin besteht,
dass man davon ausgeht,
dass die Mitmenschen dasselbe nötig haben wie man selbst
und sich darüber freuen würden,
wenn man es ihnen geben würde
- dieser kleine Schritt kann eine riesige Veränderung auslösen.
Er kann die Inseln, die wir Individuen geworden sind,
zu einem großen Kontinent verbinden,
der allen, die darauf leben,
eine viel größere Weite und Freiheit schenkt,
als sie je zuvor besessen haben.
Dieser Kontinent heißt "Gemeinde"
oder auch "Jesus Christus".
Lassen Sie uns gemeinsam diesen neuen Kontinent entdecken!
Amen.

Montag, 9. Juli 2012

Die Erhöhung der Erniedrigten


Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 15. Juli 2012, über Apostelgeschichte 8,26-39:

Der Engel des Herrn sprach zu Philippus: "Steh auf und geh nach Süden auf dem Weg, der herabkommt von Jerusalem nach Gaza; er ist menschenleer. Und er stand auf und ging los. Sieh da!, ein äthiopischer Mann, ein Eunuch, Hofbeamter der Kandake, der Königin der Äthiopier, ihr Finanzminister, der nach Jerusalem gekommen war, um anzubeten, war auf dem Rückweg und saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
Der Geist aber sprach zu Philippus: geh hin und hänge dich an diesen Wagen.
Als Philippus hingegangen war, hörte er, wie der den Propheten Jesaja las und fragte: "Verstehst du denn auch, was du liest?"
Der aber antwortete: Wie soll ich, wenn mich keiner anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen.
Der Abschnitt der Schrift, den er las, war dieser (Jesaja 53,7+8):

"Wie ein Schaf wurde er zur Schlachtung geführt,
und so, wie ein Lamm vor dem Scherer verstummt,
so öffnet er seinen Mund nicht.
In seiner Erniedrigung wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben.
Wer von seinem Geschlecht wird davon erzählen?
Denn sein Leben ist von der Erde weggenommen."

Der Eunuch aber antwortete Philippus: Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet das? Von ihm selbst, oder von einem anderen?
Philippus aber öffnete seinen Mund und begann von dieser Schriftstelle aus, ihm Jesus zu verkündigen.
Wie sie aber den Weg entlangfuhren, kamen sie an ein Wasser, und der Eunuch sprach: Sieh mal, Wasser! Was verbietet, dass du mich taufst?
Und er befahl den Wagen zu stoppen, und beide stiegen ins Wasser, Philippus und der Eunuch, und er taufte ihn.
Als er aber aus dem Wasser auftauchte, entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Eunuch sah ihn nicht mehr. Er zog aber seinen Weg freudig.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://www.offene-bibel.de/wiki/index.php5?title=Apostelgeschichte_8)


Liebe Gemeinde,

wie wörtlich darf man - oder muss man - die Bibel nehmen?
An dieser Frage scheiden sich nicht nur die Geister,
sondern auch die Kirchen und Konfessionen.
Sie scheiden sich an den Pastorinnen, weil es doch in der Bibel heißt: "Die Frauen sollen in der Gemeindeversammlung schweigen; denn es ist ihnen nicht gestattet zu reden" (1.Korinther 14,34), und weil Jesus angeblich nur Jünger hatte, aber keine Jüngerinnen.
Sie scheiden sich an der Frage der Homosexualität, weil die an vielen Stellen der Bibel verurteilt wird.
In unserer Landeskirche gibt es - Gott sei Dank! - Pastorinnen,
und auch Homosexuelle dürfen selbstverständlich als Paar zusammenleben und dazu von der Kirche gesegnet werden, und sie dürfen auch Pfarrerin oder Pfarrer sein.
Aber auch in unserer Landeskirche gibt es noch einige wenige Pastoren, die es mit der Bibel nicht vereinbaren können, dass das möglich und erlaubt ist.
Der heutige Predigttext zeigt, auf welche Weise die Bibel sich ernst nimmt und wie sie mit scheinbar eindeutigen Geboten und Verboten umgeht. Das kann uns eine Lehre sein, wie wir die Bibel lesen und verstehen sollen. Doch um das zu erkennen, muss man ein klein wenig hinter den Predigttext schauen. Das möchte ich jetzt mit Ihnen tun.

I
Zunächst fällt auf, dass zwar der Apostel einen Namen hat - Philippus -, nicht aber sein Täufling. Er wird nur durch seinen Makel beschrieben: Er ist ein "Verschnittener", ein Eunuch, das heißt, man hat ihn schon als Kind kastriert. Dieser grausame Eingriff wurde fast bis in unsere Zeit durchgeführt, um Männern eine hohe Stimme zu erhalten. Die meisten berühmten Countertenöre waren Kastraten.
Im Orient dienten Eunuchen aus nachvollziehbaren Gründen auch als Haremswächter oder, wie hier, als hohe Beamte einer Königin, die sich täglich in ihrer Nähe aufhalten, aber ihr nicht zu nahe kommen sollten.

Ein Eunuch kann nichts dafür, dass er so ist, wie er ist. Er wurde als Kind "verschnitten", und niemand hat ihn gefragt. Trotzdem ist er dadurch ein Außenseiter, er wird ausgeschlossen. Im 5. Buch Mose heißt es: "Kein Entmannter oder Verschnittener soll in die Gemeinde des Herrn kommen." (Dtn 23,2)
Der Eunuch, der da in seinem Wagen auf der Straße von Jerusalem nach Gaza sitzt, durfte also nicht in den Tempel. Er ist extra aus Äthiopien angereist, um dem Gott, den er verehrte, einmal im Leben nahe zu kommen - aber er durfte nicht hinein zu ihm. Er durfte den Tempel von außen bewundern, wie ein Tourist, aber hineingehen, um zu beten, konnte er nicht. Und als heilige Schrift durfte er auch nicht die fünf Bücher Mose, die Tora, mitnehmen, sondern nur das weniger "heilige" Buch des Propheten Jesaja.

Zu diesem Außenseiter wird Philippus vom Geist Gottes geschickt.
Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der Geist Gottes schickt Philippus zu einem Eunuchen - dabei sollte der Geist doch ganz genau wissen, was in seiner Bibel steht! Hier gibt es also eine erste, noch versteckte Auflehnung gegen den Ausschluss der Eunuchen aus der Gemeinde.

II
Der Eunuch liest den Propheten Jesaja. Er möchte verstehen, um was es in dem Glauben geht, den er vom fernen Äthiopien aus verehrt und für den er extra die weite Reise nach Jerusalem auf sich genommen hat. Und auch hier lohnt es sich wieder, genau hinzusehen und hinzuhören - denn der Eunuch liest sich den Bibeltext nach jüdischer Sitte laut vor. Wenn man laut liest, versteht man besser, was man liest; Sie können das mal ausprobieren. Der Eunuch liest vom leidenden Gottesknecht, aber er stellt sich nicht die Frage, die uns wahrscheinlich als erste einfallen würde: Warum muss er leiden? Und wozu dient dieses Leiden? Nein, er will vielmehr wissen: Wer ist dieser Gottesknecht? Denn in dem Text ist von Erniedrigung die Rede: "In seiner Erniedrigung wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben."
Diese Erniedrigung hat der Eunuch am eigenen Leib erfahren. Mehr als genug, kann man sich denken. Und nun liest er, dass das Urteil gegen den Gottesknecht aufgehoben wurde. Und denkt vielleicht an die vielen Vorurteile, die ihm tagtäglich begegnen, und dass die aufgehoben werden könnten. Dass man ihm, obwohl er "anders" ist als die meisten, vorurteilsfrei begegnen könnte, als einem Mitmenschen. Deshalb interessiert es ihn brennend, wer der Gottesknecht ist. Denn wenn es der Prophet ist, dann ist alles nur ein schöner Traum. Wenn es aber ein anderer ist, und wenn der womöglich irgendwie zu finden oder zu erreichen ist - dann könnte es auch für ihn wahr werden, dass die Vorurteile und Vorverurteilungen gegen ihn aufgehoben werden.

Philippus kann ihm den Namen nennen: Der Gottesknecht ist Jesus. Und die gute Nachricht ist, dass er lebt, und dass man seine Hilfe erhalten kann, wenn man sich zu ihm wie unter ein rettendes Dach flüchtet. Das geschieht, indem man sich unter seinen Namen stellt - so, wie wir jeden Gottesdienst im Namen Gottes beginnen und uns und alles, was wir tun, auf diese Weise unter Gottes Schutz stellen. Oder indem man auf den Namen Jesu getauft wird.

III
Der nächste, wichtige Punkt ist: Philippus hat keine Berührungsängste vor dem Eunuchen. Er kennt zwar die Torah und weiß, dass Eunuchen aus der Gemeinde ausgeschlossen sein sollen. Trotzdem geht er auf ihn ein, beantwortet seine Frage, ist für ihn ein Seelsorger und dann auch ein Täufer. Wenn Philippus sich an den Wortlaut der Bibel halten würde, dürfte er sich nicht zum Eunuchen auf den Wagen setzen. Dann gäbe es diese Geschichte nicht. Aber es gibt offenbar etwas, das Philippus die Erlaubnis - oder die Freiheit - dazu gibt: Gottes Geist, der ihn auf den Weg des Eunuchen geschicht hat, der ihn zu ihm führt und ihn nach vollbrachter Taufe an einen anderen Ort "entrückt".

Nun könnte ja jeder kommen und behaupten, der Heilige Geist habe ihm gesagt, er müsse jetzt mal gegen ein biblisches Gebot verstoßen. Aber so einfach ist das nicht. Es zeigt sich, das der Heilige Geist seine Bibel sehr gut kennt. Nicht nur die Tora, sondern auch den Propheten Jesaja. Dort heißt es nämlich im 56. Kapitel:

"Der Verschnittene soll nicht sagen: Siehe, ich bin ein dürrer Baum. Denn so spricht der Herr: Den Verschnittenen, die meine Sabbate halten und erwählen, was mir wohlgefällt, und an meinem Bund festhalten, denen will ich in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal und einen Namen geben; das ist besser als Söhne und Töchter. Einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll."

Es geht also nicht darum, wie jemand ist, oder wer jemand ist, sondern was man tut. Wer an Gott glaubt, wer sich an Gottes Gebote hält, der hat einen Platz bei Gott, den ihm niemand streitig machen kann. Philippus erkennt das Interesse des Eunuchen am Glauben, als er ihn laut im Buch des Jesaja lesen hört. Damit gibt es für ihn keine Frage mehr, dass er zu diesem Menschen geschickt worden ist, und dass auch dieser Mensch in Gottes Nähe gehört.

IV
Dass Philippus sich zu ihm setzt und ihm die Schrift erklärt, hat auch den Eunuchen verändert. Hier ist endlich jemand, der ihn nicht ausschließt. Jemand, der ihn nicht als den Anderen, den Gezeichneten sieht, sondern ihn und seinen Glauben annimmt und ernst nimmt, ohne Vorverurteilung. Und ohne Vorurteile.
Wenn man nicht durch einen anderen Menschen so angenommen wurde, kann man nicht glauben, dass Gott einen annimmt. Erst, wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass ein anderer Mensch einen als Mitmensch ansieht und annimmt, so, wie man ist, kann man auch glauben, dass Gott einen annimmt. Erst, wenn ein anderer die Bibel für einen auslegt, kann man ihren Zuspruch für sich hören und annehmen. Philippus hat das getan, und der Eunuch hat verstanden. Deshalb möchte er getauft werden - nicht, weil er schon alle Details des christlichen Glaubens gehört und begriffen hätte. Sondern weil er zu dem gehören möchte, der die Menschen annimmt so, wie sie sind, ohne danach zu fragen, wer oder wie sie sind. Weil er sein Leben unter den Namen Jesu stellen möchte, damit auch für ihn wahr wird, was bei Jesaja steht:
"In seiner Erniedrigung wurde das Urteil gegen ihn aufgehoben."

Dieses Wort "Erniedrigung" kommt übrigens noch einmal an sehr prominenter Stelle in der Bibel vor, im Magnificat. Da singt Maria:
"er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder." (Lukas  1,48)
Auch Maria erlebt, dass Gott sie aus der Erniedrigung befreit; darum singt sie ihm ihr Lied, und die Kirche singt das Magnificat seit Jahrhunderten am Abend eines jeden Tages. Die Kirche singt täglich davon, dass Gott Menschen aus Erniedrigung, Verkennung und Vorurteilen befreit. Nur leider versteht sie selbst oft nicht, was sie da singt.

V
Ein Eunuch wird getauft und begründet eine der ältesten - wenn nicht die älteste - christliche Kirche der Welt. Noch heute gilt dieser Eunuch den Äthiopiern als Gründer ihrer Kirche. Ein Eunuch, ein "Verschnittener", kein Heiliger, kein Apostel, kein kirchlicher Insider.
Gott steht auf der Seite der Erniedrigten. Das gilt bis heute. Und bis heute gilt auch, dass nicht Abstammung, nicht ein besonderes Merkmal wie Hautfarbe, Geschlecht oder sexuelle Orientierung einen Menschen zu einem Kind Gottes machen, sondern allein der Glaube an Gott. Und zu einem kirchlichen Amt kann - wenigstens in der evangelischen Kirche - jede und jeder berufen werden. Die einzige Voraussetzung dazu ist die Taufe. Sie ist unser Adelsprädikat, auf sie dürfen wir zu recht stolz sein. Denn sie macht uns zu Gottes Kindern und unterereinander zu Schwestern und Brüdern.

Als Schwester und Brüder sollen wir einander nicht durch Ausgrenzung, Vorurteile oder Vorverurteilungen erniedrigen. Sondern solche Urteile aufheben und den Erniedrigten aufhelfen, weil Gott sie bereits erhöht hat. Man darf sich auflehnen gegen alle, die mit der Berufung auf die Bibel Menschen ausgrenzen und ausschließen wollen. Manchmal muss man das vielleicht sogar. Um Marias willen, die von der Erhöhung der Niedrigen sang. Und um des Äthiopiers willen, von dem bis heute diese Geschichte erzählt.
Amen.

Sonntag, 8. Juli 2012

Völkerbund und Abrahams Kinder


Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 8. Juli 2012, über Gen 12,1-4a.


Liebe Gemeinde,

unter Geschwistern gibt es manchmal Streit. Das ist völlig normal. Streit gehört dazu, wenn Geschwister zusammenleben - so lange er die Ausnahme bleibt und nicht zur Regel wird.

Die Menschen und Völker leben als Geschwister miteinander auf dieser Erde. Aber dass man andere Menschen, mit denen man nicht verwandt ist, und andere Völker und Nationen, die ganz anders sind als die eigene, als Geschwister ansieht, ist keineswegs selbstverständlich. Noch weniger selbstverständlich ist es, dass Völker ihre Streitigkeiten geschwisterlich lösen und beilegen.

I
Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Völkerbund gegründet. Die Erfahrung eines Krieges, der nahezu die ganze Welt in einen Abgrund von Tod und Zerstörung gerissen hatte, weckte den Willen, dass so ein Krieg nie wieder ausbrechen dürfe. Es müsse doch möglich sein, dass die Völker auf friedlichem Wege zu einer Einigung und zu einem Ausgleich ihrer Interessen kommen können.

Blickt man auf die lange Geschichte der Menschheit zurück, dann ist es erschütternd, dass erst in der jüngsten Zeit, vor noch nicht einmal einhundert Jahren, die Idee aufkam, dass man Konflikte zwischen den Völkern auch durch Verhandlungen lösen könnte, statt sich gleich die Köpfe einzuschlagen.
Der Gedanke, dass die Völker in Frieden miteinander leben könnten und sich nicht ständig bekriegen müssten, ist nicht sehr viel älter: 1795, also vor gut 200 Jahren, wurde er zum ersten Mal vom Philosophen Immanuel Kant in seinem Buch "Zum ewigen Frieden" ausgesprochen.

Der Völkerbund hat sein Ziel nicht erreichen, er hat den zweiten, noch schrecklicheren Weltkrieg nicht verhindern können. Nach diesem Zweiten Weltkrieg löste er sich auf. An seine Stelle trat die UNO, die seither versucht, zwischen den Völkern zu vermitteln. Auch sie hat Kriege nicht verhindern können, obwohl sie selbst Friedenstruppen entsendet. Aber die Blauhelmsoldaten sahen den Kampfhandlungen meist tatenlos zu. Diese Unfähigkeit zum Eingreifen hatte schreckliche Folgen, wie die Massaker von Srebrenicza und Ruanda.

Offenbar ist es alles andere als selbstverständlich, dass Völker ihre Konflikte ohne Gewalt beilegen. Und es scheint, dass selbst der Gedanke, es einmal ohne Krieg zu versuchen, nicht allzu naheliegend ist. Dabei ist nicht erst Immanuel Kant auf die Idee gekommen, dass es friedlich zugehen könnte und müsste zwischen den Nationen. Bereits die Bibel denkt sich verschiedene Völker als Geschwister, die zu einer Familie gehören. Und schon das erste Buch der Bibel malt sich ein segensreiches Miteinander dieser Völker aus.
So heißt es im Predigttext für den heutigen Sonntag:

"Gott sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie Gott zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm."

II
Der Predigttext spricht vom Segen, der von Abram und seinen Nachkommen aus- und von ihm auf alle Völker der Erde übergeht. Ggleich am Anfang der Bibel wird ein segensreiches Miteinander aller Menschen vorgestellt. "In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" - dieser Satz ruft Vorstellungen von Wachstum, Glück, Entwicklung und Entfaltung hervor - all das, was man mit "Segen" verbinden kann. Was immer wieder Anlass für Kriege war - der Streit um Handelswege, um Bodenschätze, um Wasser, um Einfluss -, das wird durch den Segen Abrams gerecht auf alle Nationen der Welt verteilt.

Dieser Segen Abrams geht von Gott aus - von Gott, der die Menschen schuf und dann über ihre Bosheit verzweifelte. Und der trotzdem nach der Sintflut versprach: "Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euren Nachkommen. Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde." (Gen 9,8-17) Das ist der allererste "Völkerbund": der Bund Gottes, den er mit allen Menschen auf der Erde schließt, bedingungslos. Gott nimmt alle Menschen an, ganz gleich, wer sie sind, ob sie an ihn glauben oder nicht.

Und nun geht Gott noch einen Schritt weiter: Nachdem er den "Völkerbund" mit Noah geschlossen hat, in dem er verspricht, alle Menschen anzunehmen, so, wie sie sind, verspricht er ihnen durch Abram den Segen - Wachstum, Glück, Entwicklung und Entfaltung: "in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden".
Wer ist dieser Abram, und wie soll man sich vorstellen, dass in ihm alle Völker gesegnet werden?

III
Vielleicht sind Sie stutzig geworden, dass im Predigttext von "Abram" die Rede ist. Heißt er nicht "Abraham"? Tatsächlich ändert Gott selbst den Namen von Abram zu Abraham, was "Vater vieler Völker" heißt (Gen 17,5). Abrams neuer Name wird Programm - das Programm des Völkerbundes und -segens, das sich schon in unserem Predigttext ankündigt.

Abraham ist der Großvater Jakobs, der später ebenfalls einen neuen Namen bekommt: Er wird zu Israel, und seine zwölf Söhne zu den Stammvätern der zwölf Stämme Israels. Abraham ist aber auch der Vater Ismaels, auf den sich der Prophet Mohammed und damit die Muslime zurückführen. Und schließlich ist Abraham auch für die Christen ein Stammvater, was den Glauben angeht. Judentum, Christentum und Islam berufen sich auf Abraham als ihrem Stammvater. Insofern ist Abraham wirklich der Vater vieler Völker geworden.

Aber diese drei Religionen haben immer wieder auch Anlass zu Kriegen gegeben - und geben ihn bis heute. Wenn Glaubensdinge auch nur als Vorwand für den Krieg dienen und die wahren Ursachen verschleiern und vertuschen sollen, so sind doch des Glaubens wegen über Jahrhunderte Kriege geführt worden. Gerade die Religionen, die sich auf Abraham berufen, haben es nicht geschafft, ihre Unterschiede und Streitigkeiten auf friedlichem Wege beizulegen. Sie haben sich bekämpft bis aufs Messer - und sind doch Geschwister und können ohne die anderen beiden Geschwister nicht sein.

IV
"In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden". Abraham wird zum Segen für alle Völker. Aber seine Kinder - die Religionen, die sich auf ihn beriefen, allen voran Christen und Muslime - waren alles andere als segensreich für die Welt. Sie brachten Krieg und Blutvergießen über andere Völker. Und sie verfolgten und ermordeten ihre eigenen Schwestern und Brüder, die Menschen jüdischen Glaubens.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nicht nur die UNO gegründet, sondern auch der Staat Israel. Seine Gründung war umstritten, besonders in der arabischen Welt. Aber sie war zugleich ein Zeichen der Hoffnung, dass nach den Jahrhunderten der Verfolgung und Ächtung von Menschen jüdischen Glaubens endlich ein Staat existierte, in dem Juden zuhause sein könnten und nicht ausgegrenzt und stigmatisiert werden würden.

Der Staat Israel hat sich zu einem normalen Staat unter anderen Staaten entwickelt. Er ist nicht besser und nicht schlechter als die anderen. Seine Politiker machen Fehler wie andere auch, nur werden sie beim Staat Israel stärker beachtet, so, als müsse Israel ein Musterländle sein. Aber es ist nicht der Staat Israel, der die Verheißung an Abraham wahrmacht, es sind Abrahams Kinder, die Menschen jüdischen, christlichen oder muslimischen Glaubens.

Und dennoch entscheidet sich an unserem Verhältnis zum Staat Israel, ob wir unsere Abrahamskindschaft ernst nehmen oder mit Füßen treten. Als Abrahams Kinder sind wir unseren jüdischen Geschwistern zu Solidarität, Respekt und Liebe verpflichtet - ebenso wie unseren muslimischen Geschwistern gegenüber. Wenn es uns Abrahamskindern gelänge, diese Solidarität, diesen Respekt, diese Liebe gegenseitig aufzubringen und zu leben - dann wären wir dem Traum einer friedlichen Gemeinschaft der Völker einen riesigen Schritt näher gekommen. Dann wären durch uns tatsächlich alle Menschen und Völker auf dieser Erde gesegnet.

V
Frieden, so heißt es, beginnt im Kleinen: Im Miteinander unter den Menschen. Im Verzicht auf gewaltsame Lösung von Konflikten zuhause, in der Schule, am Arbeitsplatz. Gewalt geht dabei nicht nur von der zum Schlag erhobenen Hand aus; es gibt auch subtile Formen der Gewalt, die nicht weniger weh tun als ein Schlag mit der Faust.
Wo es uns gelingt, auf diese Gewalt zu verzichten, sie zu verhindern, da sind wir dem friedlichen Zusammenleben einen Schritt näher gekommen.

Frieden wird auch da entstehen, wo wir erkennen, dass unsere jüdischen und muslimischen Mitbürger unsere Geschwister sind - Abrahams Kinder, so wie wir. Wenn wir lernen, sie als Geschwister zu sehen und anzunehmen und uns ihnen gegenüber wie Schwestern und Brüder verhalten, denn wird sich Gottes Verheißung an Abraham tatsächlich erfüllen: Dann werden in ihm alle Völker der Erde gesegnet werden. Dann wird der Traum vom ewigen Frieden, den Immanuel Kant vor über 200 Jahren träumte, vielleicht wahr.

Donnerstag, 5. Juli 2012

Der Weg ist das Ziel - Ansprache zum Abitur


Ansprache zum Abiturgottesdienst des Gymnasiums Gaussschule am 5. Juli 2012 um 18.00 Uhr in der Klosterkirche Riddagshausen über

Exodus 23,20: "Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe" und 1.Petrus 1,5-7: "Wenn ihr Gott fest vertraut, wird er euch durch seine Macht bewahren, sodass ihr die volle Rettung erlangt, die am Ende der Zeit offenbar wird. Deshalb seid ihr voll Freude, auch wenn ihr jetzt – wenn es sein soll – für kurze Zeit leiden müsst und auf die verschiedensten Proben gestellt werdet. Das geschieht nur, damit euer Glaube sich bewähren kann, als festes Vertrauen auf das, was Gott euch geschenkt und noch versprochen hat."


Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Gemeinde,

jetzt beginnt der Ernst des Lebens.
Das hören Sie sicher nicht zum ersten Mal.
Für gewöhnlich wird man mit diesem Satz schon bei der Einschulung begrüßt.
Wenn man als ABC-Schütze mit der großen Schultüte im Klassenraum steht,
kann man sich nichts darunter vorstellen.
Noch versteht man nicht, was das bedeutet:
die Zeit der unbeschwerten Kindheit sei vorbei.
Nun werde es ernst. Nun müsse man sich anstrengen.
Aber allmählich erkennt man:
Lernen, anfangs eine spielerische, fröhliche Angelegenheit,
ist zur anstrengenden Dauerbeschäftigung geworden,
die einem auch zuhause keine Ruhe lässt.
Das Leben findet im strengen Rhythmus von
Schule, Hausaufgaben, Klausurvorbereitung statt.
Es geht um Leistung. Um gute Leistungen.
Wenn möglich um Bestleistungen.
Es geht darum, sich zu behaupten, den Lehrern aufzufallen,
sich auszuzeichnen womöglich.
Die Schule, das Leben sind kein Spaß mehr.
Sie sind Ernst geworden.
Sie wollen, müssen ernst genommen werden,
wenn man gute Startbedingungen für's Studium haben,
wenn man etwas aus sich machen, etwas erreichen will.

Nun haben Sie das alles erst einmal hinter sich gelassen.
Hinter Ihnen liegt eine Zeit großer Anstrengungen,
liegen Prüfungen und manchmal die bange Frage,
ob es reichte - zur angestrebten Note
oder überhaupt zum Bestehen der Prüfung.
Hinter Ihnen liegen Stunden des Paukens und Lernens,
Nächte, die Sie durchgearbeitet haben
- und Nächte, die Sie durchgefeiert haben, trotzdem.
Und dann die Reue und Selbstvorwürfe am nächsten Tag
wegen der verlorenen Zeit.

Jetzt haben Sie es hinter sich, dass Sie
"kurze Zeit leiden mussten 
und auf die verschiedensten Proben gestellt wurden",
wie es im Predigttext heißt.
Jetzt genießen Sie das Ausschlafen und die Freizeit,
den Sommer, das Zusammensein mit Freunden,
einen Urlaub oder eine Reise als Belohnung Ihrer Mühen.

II
"Ein Schritt auf meinem Weg"
haben Sie diesen Abiturgottesdienst überschrieben.
Mit dem Abitur sind Sie einen großen, einen wichtigen Schritt gegangen.
Dieser Gottesdienst in der Klosterkirche markiert einen Meilenstein auf Ihrem Lebensweg,
der Sie viel Kraft und Arbeit gekostet hat und auf den Sie stolz sein können.
So groß und bedeutend der Schritt des Abiturs heute ist -
wenn Sie später auf Ihr Leben zurückblicken,
wird er einer von vielen Schritten sein.
Das Abitur, das Ihnen heute so viel bedeutet,
wird allmählich verblassen und kleiner werden,
weil ihm viele andere Ereignisse, viele andere Schritte folgen
auf einem Weg, von dem Sie noch gar nicht wissen,
wohin er Sie führen wird.
Manche sehen schon den nächsten Schritt vor sich,
haben ihn bereits geplant und kennen genau die Wegstrecke,
die sie erwartet.
Andere sind noch unschlüssig,
wissen noch nicht so genau, wo es hingehen soll,
oder sind sich unsicher, welchen Weg sie einschlagen sollen.

Was auch immer die nächsten Schritte sein werden:
Sie werden sie allein gehen.
Die Schulzeit haben die meisten von Ihnen im Schoß der Familie verbracht. Das war für alle Seiten ganz schön anstrengend, manchmal haben Sie oder Ihre Eltern sich gewünscht, ganz weit weg zu sein. Und zugleich waren Ihr Zuhause, Ihre Eltern und Geschwister für Sie da, waren eine verlässliche Basis, die Ihnen Halt und Rückhalt gab für die Prüfungen, die Sie bestehen mussten.

Die nächsten Schritte auf Ihrem Lebensweg werden Sie von zuhause weg führen. Sie werden weiterhin mit Ihrem Zuhause, Ihrer Familie verbunden bleiben, aber der Abstand wird sich vergrößern.
Das ist aufregend, das hat den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Aber manchmal ist es auch beängstigend, wenn man auf sich allein gestellt ist und allein Entscheidungen treffen muss. Manchmal ist es auch richtig hart, allein zu sein, Prüfungen ohne die bequeme und hilfreiche Basis des Zuhauses, ohne den direkten Rückhalt von Eltern und Geschwistern ablegen und bestehen zu müssen.

III
Das Leben hält noch einige Prüfungen für Sie bereit.
Nur wenige sind so groß und aufwändig wie das Abitur.
Aber das heißt nicht, dass die anderen Prüfungen leichter wären,
vor allem nicht leichter zu ertragen.
Ein Unfall, eine Krankheit kann eine schwere Prüfung sein.
Das Ende einer Freundschaft, einer Beziehung.
Der Tod eines Menschen, den man sehr gern hatte.
Eine Entscheidung, die sich als falsch herausstellt.

So gesehen, war das Abitur erst der Anfang einer nicht enden wollenden Kette von Aufgaben und Prüfungen, die das Leben für Sie bereit hält, und die es zu bestehen gilt.
Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied dieser Prüfungen des Lebens zum Abitur:
Das Abitur hat einen Sinn und ein Ziel.
Man kann darüber streiten, ob es der richtige Weg ist,
die Eignung eines Menschen zum Studium festzustellen,
und vielleicht wird es einmal von einer besseren,
adäquateren Form abgelöst.
Aber das Ziel des Abiturs ist es,
Ihnen die Möglichkeit zum Studium zu geben.

Die Prüfungen, die einem das Leben auferlegt,
haben dagegen keinen Sinn.
Es ist sinnlos, dass Menschen leiden müssen
- aus welchem Grund auch immer.
Es ist ungerecht, wenn jemand krank wird,
wenn ein lieber Mensch stirbt.

IV
Und noch etwas ist wichtig:
Gott prüft nicht.
Gott legt uns Menschen keine Prüfungen auf,
um unseren Glauben zu testen oder unser Vertrauen zu ihm.
Es liegt kein höherer Wille hinter den Schicksalsschlägen,
die wir erleiden müssen - kein göttlicher Wille, der zu groß ist,
als dass wir kleinen Menschen ihn erkennen könnten.

Und es gibt keinen Masterplan für unser Leben.
Welche Schritte wir gehen, wie wir uns entscheiden werden,
ist nicht vorherbestimmt - dann wären wir nur Marionetten.
Was wir aus unserem Leben machen
und wohin uns unser Lebensweg führen wird
ist unsere eigene, freie Entscheidung.
Deshalb ist sie so schwer,
die Entscheidung über den nächsten Schritt.

Aber es heißt doch in dem Text aus dem 2. Buch Mose,
den Sie für diesen Gottesdienst ausgesucht haben:
"Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, 
der dich behüte auf dem Wege 
und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe".
Ist da nicht von Vorbestimmung die Rede?
Hat Gott nicht einen Plan für unser Leben?

Ich glaube schon, dass Gott einen Plan für uns hat.
Ich glaube, dass Gott Gutes für uns und unser Leben will,
ich glaube er möchte, dass wir glücklich sind.
Und er hat uns auch gezeigt, wie wir es anstellen können,
ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.
Es ist ganz einfach - zu einfach,
und deshalb so höllisch schwer.
Es liegt beschlossen in diesem einen Wort,
über das Lord Voldemort sich bei Harry Potter so lustig macht,
das er nicht versteht und zugleich fürchtet:
es ist die Liebe.
Es ist dieser eine Satz:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

V
Abitur, nicht nur die Lateiner unter Ihnen wissen es, bedeutet: weggehen.
Mit dem Abitur haben Sie zugleich den ersten Schritt aus Ihrem Elternhaus gemacht. Sie haben die Schule und die Schulzeit hinter sich gelassen und damit endgültig Ihre Kindheit.
Wohin wird Sie Ihr Weg führen?
Zu welchem Ziel sind Sie unterwegs?
Es klingt wie eine abgedroschene Phrase, aber:
der Weg ist das Ziel.
Denn ganz gleich, welchen Weg Sie einschlagen werden
und zu welchem Ziel Sie unterwegs sind:
entscheidend ist nicht, was Sie erreichen,
sondern was für ein Mensch Sie werden
und wie Sie sich Ihren Mitmenschen gegenüber verhalten.
Am Ende werden nicht die Titel und Erfolge,
das Einkommen und der Besitz zählen,
sondern die Liebe, die Sie gaben und empfingen,
die Menschen, die Sie Freunde nennen können.

Gott wird Sie auf Ihrem Weg begleiten.
Sein Segen wird Ihnen Kraft geben,
wenn Sie die Prüfungen zu bestehen haben,
die Ihnen das Leben auferlegt.
Sein Segen wird Ihnen den Mut geben für den nächsten Schritt
- auch für notwendige Schritte auf andere Menschen zu,
für das Eingeständnis von Schuld und für Worte der Vergebung.
Und sein Segen wird Ihnen die Hoffnung geben,
dass Ihr Leben, ganz gleich, welchen Verlauf es nehmen wird,
zu einem guten und glücklichen Ziel führen wird.

Gott segne Sie auf Ihrem Weg.
Amen.