Sonntag, 27. Mai 2012

Baustelle "Leib Christi"


Predigt am Pfingstmontag, 29. Mai 2012, über Epheser 4,11-16

Liebe Gemeinde,

willkommen auf der Baustelle!
Sie werden es nicht gemerkt haben,
aber wir sind hier gerade schwer am Bauen.
Zwar ist keine Baugrube ausgehoben,
noch nicht einmal ein Bauplatz abgesteckt,
und weder Bagger noch Bauwagen,
geschweige denn Sand, Steine und Zement sind da.
Trotzdem sind wir mitten drin,
schon lange wird hier gebaut.

Wir hätten auch Sie gern dabei,
wir bitten Sie um Ihre Unterstützung und Mithilfe
als Bauarbeiter, Handlanger,
als Installateur, Elektriker, Zimmermann, Dachdecker
- je nachdem, was und wieviel Sie können,
was und wieviel Sie sich zutrauen.

"Ja, was wollen die denn bauen?", werden Sie sich fragen.
Die Klosterkirche muss doch nicht schon wieder renoviert werden?
Oder soll hier, direkt neben der schönen, großen Klosterkirche,
mitten im Klostergarten ein zweiter Bau aufgeführt werden?
Das wäre doch mehr als überflüssig!
Die Denkmalpflege würde da auch gar nicht mitspielen,
geschweige denn all die Menschen,
die die Klosterkirche und den Klostergarten lieben.

Aber wir wollen ja auch keine zweite Kirche bauen,
und auch kein anderes Gebäude neben die Klosterkirche setzen.
Wir versuchen nur, uns an das zu halten,
was uns der Predigttext aus dem Epheserbrief aufträgt:

"Christus setzte Amtsträger ein:
Apostel, Propheten, Evangelisten, Gemeindeleiter und Lehrer,
mit dem Ziel, die Heiligen zur Dienstleistung anzuleiten.
Dadurch wird der Leib Christi gebaut, 
bis alle die Einheit des Glaubens 
und die Erkenntnis des Sohnes Gottes erreichen werden,
das Erwachsensein, die Größe der Fülle Christi,
damit wir keine Kinder mehr sind,
die von jedem Wind der Lehre hin- und hergeworfen 
und umhergetrieben werden im Spiel der Menschen
mit den Taschenspielertricks des Irrtums.
Weil wir aber Wahrheitsliebende sind,
werden wir aus Liebe alles zu ihm wachsen lassen,
zu Christus, der das Oberhaupt ist.
Durch ihn wird der ganze Leib zusammengefügt und zusammengehalten 
durch jedes Band der Unterstützung,
die auf Grund seiner Kraft
in dem Maß, wie jeder Einzelne daran Anteil hat,
das Wachstum des Leibes bewirkt,
der sich selbst baut durch die Liebe."
(Eigene Übersetzung)

II
Sie sehen, wir wollen etwas ganz Besonderes bauen:
den Leib Christi.
Zunächst einmal: es ist eigenartig,
dass man einen Leib, einen Körper "bauen" kann.
Denn es geht hier ja nicht um ein Standbild,
wie die beiden Herzöge hoch zu Ross vor dem Schloss.
Der "Leib Christi" ist ein lebendiger Körper,
- und trotzdem wird er gebaut.
Es wird ein Gebäude, in dem wir zuhause sind,
aber es wird keine Kirche - die haben wir ja schon.
Der "Leib Christi", das ist die Gemeinde,
die "Gemeinschaft der Heiligen",
wie wir im Glaubensbekenntnis beten.
Dabei handelt es sich nicht um eine besondere Gemeinschaft,
einen Club, zu dem nur Auserwählte Zutritt hätten
oder nur solche, die vom Papst heilig gesprochen wurden.
"Gemeinschaft der Heiligen" sind wir alle,
und deshalb richten sich die Worte des Epheserbriefes auch
an uns alle:
wir, die Heiligen, sollen uns zur Dienstleistung anleiten lassen.
Wir sollen alle Dienstleister werden
- auch, wenn wir es beruflich schon sind
als Sozialarbeiter oder Ärztin,
als Lehrerin oder Krankenpfleger.

Gemeinde wird nicht zusammengeschweißt oder genietet,
nicht gemauert oder gezimmert;
sie entsteht aus Dienstleistungen.
Gemeinde wird auch nicht herbeigeredet oder -gepredigt,
nicht durch einen Verwaltungsakt verordnet
oder durch Mehrheitsentscheidung beschlossen;
sie entsteht durch Dienstleistungen:
Gemeinde entsteht da,
wo Menschen nicht einfach nur nebeneinander her leben,
nicht einfach nur während des Gottesdienstes nebeneinander sitzen
und hinterher wieder ihre eigenen Wege gehen,
sich ins Private, in die eigenen vier Wände zurückziehen.
Gemeinde, wenn sie Leib Christi ist,
entsteht da, wo Menschen sich füreinander interessieren
und einander helfen, wenn das nötig wird.

III
Dieses Gemeindebild, das der Epheserbrief zeichnet,
mutet uns einiges zu.
Es ist, genau genommen, eine ziemliche Zumutung.
Wir haben uns und unser Leben anders eingerichtet.

Wir sind ja keine Unmenschen:
Wir helfen, wenn jemand Hilfe braucht.
In der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft.
Auch im Alltag halten wir Türen auf,
machen Plätze im Bus für Ältere frei
oder fassen schnell mal mit an, wenn das nötig ist.

Aber damit hat es dann auch sein Bewenden.
Sein Leben, das lebt jede und jeder selbst.
Jede und jeder muss selber sehen,
wie er es meistert und da am besten durchkommt.
Wir können uns ja schlecht um jeden kümmern.
Wer seinen Job verloren hat, muss sich eben einen neuen suchen;
wer als Alleinerziehende mit Kind, Beruf und Haushalt überfordert ist,
muss eben eine Hilfe anstellen oder einen Krippenplatz finden,
und wer im Alter keine Angehörigen hat,
die ihr oder ihm helfen können, der muss eben ins Heim.

So ist das nun mal.
Dafür gibt es ja das Arbeitsamt, den Kindergarten, das Altersheim.
Damit wir uns nicht auch noch darum kümmern müssen.
All das, was Probleme macht,
haben wir an Einrichtungen delegiert,
die sich kümmern sollen.
Dafür zahlen wir unsere Steuern:
dass wir uns nicht selbst kümmern müssen,
sondern unser Ding machen, unser Leben leben können.
Blöd ist es für alle, die es so hart trifft.
Aber so ist es eben, das Leben.

IV
Ja, so ist das Leben.
Wir haben uns darin eingerichtet,
wir sind damit groß geworden.
Und so schlecht ist es ja auch nicht.
Jedenfalls solange uns nicht
Arbeitslosigkeit, Alleinsein oder Alter treffen.

Heute, an Pfingsten,
am Fest, an dem der Heilige Geist weht,
uns neue und andere Gedanken zumutet,
werden wir gefragt,
ob es wirklich so sein und bleiben muss, wie es ist;
ob es nicht auch anders ginge, das Leben,
und ob dieses Andere nicht vielleicht sogar besser wäre.

Der Epheserbrief trägt uns auf,
den Leib Christi zu bauen.
Als hätten wir nicht schon Gebäude genug.
Aber der Leib Christi ist ja ein ganz besonderes Gebäude.
Er ist unsere geistliche Heimat: die Gemeinde.
Und er ist noch mehr.

An Himmelfahrt haben wir uns daran erinnert,
dass Jesus seine Jünger verließ.
"Aufgefahren in den Himmel" - das bedeutet:
Jesus ist nicht mehr hier.
Gott wurde Mensch,
aber diese Erdung Gottes,
dieses zur-Welt-Kommen ist ja schon gar nicht mehr wahr.
Wäre schon gar nicht mehr wahr.
Wenn es den Leib Christi nicht gäbe.
In der Gemeinde ist Jesus noch immer leibhaft gegenwärtig.
Er ist mitten unter uns,
spürbar, sichtbar, erfahrbar in Ihnen und mir.
Wir verkörpern als Gemeinde Christus
mit Hand und Fuß, mit Herz und Mund.

Christus hat viel gepredigt.
Was er aber vor allem tat und was das Wichtigste war:
Er hat sich den Menschen zugewandt.
An Christus konnten seine Zeitgenossen erfahren,
dass Gott nicht oben in den Wolken thront
und ihm die Menschen hier unten herzlich egal sind.
Gott wendet sich vielmehr den Menschen zu,
jeder und jedem Einzelnen.
Keine ist ihm zu klein, keiner zu unbedeutend,
kein Schicksal zu unwichtig.

V
Deshalb sollen wir Dienstleister werden.
Wir sollen uns liebevoll unseren Mitmenschen zuwenden,
damit sie durch uns erfahren, dass Gott da ist
und dass sie Gott nicht egal sind.
Sondern dass Gott sich ihnen liebevoll zuwendet
und an ihrem Leben, ihrem Schicksal Anteil nimmt.

Das ist nicht der Auftrag an die hauptamtlich in der Kirche Tätigen.
Die sollen vielmehr immer wieder daran erinnern,
dass es unser aller Auftrag ist.
Sie sollen die Menschen in der Gemeinde davon überzeugen,
mitzuarbeiten - jede und jeder nach ihren und seinen Fähigkeiten,
niemand über das Maß seiner und ihrer Kraft hinaus -,
mitzuarbeiten am Bau des Leibes Christi,
der sich nicht aus Sand und Steinen erbaut,
sondern aus Liebe.

Wenn wir diese Liebe aufbrächten,
würde sich manches ändern. Vielleicht sogar alles.
Es könnte sein, dass sich dann Werte und Gewichte verschieben.
Es ist sogar sehr wahrscheinlich,
dass manches, was uns unverzichtbar erschien,
mit einem Mal nebensächlich wird.
Dass Auto, Urlaub und Haus nach wie vor wichtig,
aber nicht mehr alles sind.
Dass wir unsere Erfüllung nicht mehr nur
in der Familie, im Haustier, im Hobby finden,
sondern darin, einem Menschen geholfen zu haben.
Dass wir großes Glück erleben,
wenn wir jemanden zum Lächeln bringen konnten.
Und dass wir den Sinn unseres Lebens darin entdecken,
anderen Menschen ein kleines Stück von dem Glück zu schenken,
das wir genießen können.

Vielleicht haben Sie ja Lust bekommen, mitzubauen.
Man kann ihn nicht sehen, den Bau des Leibes Christi.
Aber er ist schon ziemlich groß
- viel größer und schöner als die Klosterkirche.
Es arbeiten viele daran mit,
es ist schon ganz schön was los auf dieser Baustelle.
Kommen Sie doch dazu, helfen Sie mit!
Willkommen im Team!

Amen.

Samstag, 5. Mai 2012

Verlust und Gewinn


Predigt am Sonntag Kantate, 6.5.2012, zur Graupner-Kantate "Was betrübst du dich, meine Seele" über Johannes 16,5-15:

"Bisher habe ich nicht mit euch darüber gesprochen, weil ich ja bei euch war. Aber jetzt gehe ich zu dem, der mich gesandt hat. Und keiner von euch fragt mich: 'Wohin gehst du?' Denn ihr seid erfüllt von tiefer Traurigkeit über das, was ich euch sage. Doch glaubt mir: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht von euch wegginge, käme der Helfer nicht zu euch; wenn ich aber gehe, werde ich ihn zu euch senden.
Und wenn er kommt, wird er der Welt zeigen, dass sie im Unrecht ist; er wird den Menschen die Augen öffnen für die Sünde, für die Gerechtigkeit und für das Gericht. Er wird ihnen zeigen, worin ihre Sünde besteht: darin, dass sie nicht an mich glauben. Er wird ihnen zeigen, worin sich Gottes Gerechtigkeit erweist: darin, dass ich zum Vater gehe, wenn ich euch verlasse und ihr mich nicht mehr seht. Und was das Gericht betrifft, wird er ihnen zeigen, dass der Herrscher dieser Welt verurteilt ist.
Ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr wärt jetzt überfordert. Doch wenn der Helfer kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch zum vollen Verständnis der Wahrheit führen. Denn was er sagen wird, wird er nicht aus sich selbst heraus sagen; er wird das sagen, was er hört. Und er wird euch die zukünftigen Dinge verkünden. Er wird meine Herrlichkeit offenbaren; denn was er verkünden wird, empfängt er von mir. Alles, was der Vater hat, gehört auch mir. Aus diesem Grund sage ich: Was er euch verkünden wird, empfängt er von mir."
(NGÜ)

Liebe Gemeinde,

Die Stunde des Abschieds war gekommen:
„Ach!“, sagte der Fuchs, „ich werde weinen.“
„Das ist deine Schuld“, sagte der kleine Prinz, „ich wünschte dir nichts Böses, aber du hast gewollt, dass ich dich zähme ...“
„Sicher“, sagte der Fuchs.
„Aber nun wirst du weinen!“, sagte der kleine Prinz.
„Bestimmt“, sagte der Fuchs.
„So hast du also nichts gewonnen!“
„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen.“
(Antoine de Saint-Eupery, Der kleine Prinz [1])

I
Vom Abschied singt die Kantate [2].
Daher der für den fröhlichen Sonntag Kantate - Singet -
so ungewöhnliche, traurige Titel:
"Was betrübst du dich, meine Seele?"

Scheiden tut weh, sagt schon das Volkslied.
Je älter man wird, desto mehr Abschiede hat man erlebt.
Aber man gewöhnt sich nie daran:
Abschied nehmen müssen tut immer wieder weh.
Der Abschiedsschmerz wird mit der Zahl der Abschiede nicht geringer.
Im Gegenteil.

Auch Jesus nimmt Abschied von seinen Jüngern.
Wir haben die Lesung, die der Kantate zugrunde liegt,
zu Beginn des Gottesdienstes gehört.
Es ist ein doppelt schmerzhafter Abschied.
Denn die Jünger hatten Jesus ja schon einmal verloren geglaubt,
bei seinem Tod am Kreuz.
Dann war er auferstanden,
war auf wunderbare Weise wieder bei ihnen gewesen.
Und nun geht er schon wieder fort.
Diesmal endgültig.
Und die Jünger sollen nicht traurig sein?

II
In der Geschichte vom "Kleinen Prinzen"
geht es auch um den Abschied.
Die ganze Geschichte kreist um dieses Thema.
Und wie bei unseren Abschiedserfahrungen,
wie bei Jesu Abschied von seinen Jüngern
spielt auch in dieser Geschichte der Tod eine entscheidende Rolle:
Dem Pilot, der die Geschichte vom kleinen Prinzen erzählt,
droht der Tod in der Wüste,
wenn er sein Flugzeug nicht reparieren kann.
Und der kleine Prinz muss sterben,
am Gift einer Schlange,
um zu seinem Asteroiden und zu seiner Rose
zurückkehren zu können.
Sein Körper ist für die Reise zu schwer.

Abschied erscheint uns als Verlust.
Auch der kleine Prinz, der den Abschied erst kennen lernt,
denkt so.
Aber weil er noch keine Erfahrung mit dem Abschied hat,
weil er noch lernt und alles infrage stellt,
bringt er die Frage nach dem Gewinn ins Spiel,
als er sich von seinem Freund, dem Fuchs, verabschiedet.
Unbewusst.
Eigentlich will er sagen: Du hast nichts gewonnen.
Denn der Schmerz des Abschieds
wiegt seiner Meinung nach den Gewinn der Freundschaft wieder auf.
Wenn man den Freund durch den Abschied verliert,
den man zuvor gefunden hat ("gezähmt", sagt der Fuchs)
war alles umsonst,
dann hat man nichts gewonnen.

So erscheint es auch den Jüngern.
Für sie, für uns ist es doppelt schmerzlich,
dass Jesus nicht mehr da ist.
Denn dadurch fehlt uns etwas,
an das wir uns halten können.
Wenn Jesus noch da wäre,
wenn es etwas gäbe, das unzweifelhaft auf ihn hinweist
- wie der heilige Rock Jesu,
der dieser Tage wieder in Trier gezeigt wird,
wie die Splitter seines Kreuzes,
die als Reliquien in vielen Kirchen verehrt wurden -,
dann fiele es leichter, an ihn zu glauben.
Aber wir haben nichts.
Er ist einfach nicht mehr da.
Wir haben nichts gewonnen.
Jesus ist noch weiter weg als der kleine Prinz auf seinem Asteroiden,
den man mit viel Glück
wenigstens mit dem Fernrohr ausmachen kann.
Jesus ist bei Gott, bei seinem Vater.
Unsichtbar für uns,
auch wenn er uns vielleicht ganz nahe ist.

III
„Ich habe“, sagte der Fuchs, „die Farbe des Weizens gewonnen.“
Der Fuchs widerspricht dem kleinen Prinzen.
Er hat etwas gewonnen,
weil der kleine Prinz etwas in seinem Leben verändert hat,
etwas, das bleibt, über den Abschied hinaus.
Der kleine Prinz hat weizenblondes Haar.
Der Fuchs, der kein Vegetarier ist,
konnte mit dem Weizen bisher nichts anfangen.
Er war ihm gleichgültig.
Seit er den kleinen Prinzen zum Freund hat,
erinnert ihn der Weizen an dessen blondes Haar.
Und das wird immer so sein,
auch dann, wenn der kleine Prinz nicht mehr da ist.

So ist es ja auch mit den Menschen,
von denen wir uns verabschieden mussten,
die wir durch den Tod, durch einen Streit
oder auf andere Weise verloren haben.
Sie sind nicht mehr da,
sie fehlen uns, und das tut weh.
Aber wir haben etwas gewonnen:
Sie haben unser Leben verändert.
Seit wir sie kennen, sehen wir manche Dinge anders,
hat etwas für uns einen Wert bekommen,
das uns vorher gleichgültig war,
sind wir andere Menschen geworden.

"Wenn ich nicht von euch wegginge, 
käme der Helfer nicht zu euch".
Auch durch den Weggang Jesu haben wir etwas gewonnen:
Den Heiligen Geist, den Tröster, den Helfer.
Bei der Taufe wurden wir mit dem Heiligen Geist beschenkt,
und seitdem begleitet er uns
und erinnert uns an Jesus.
Nicht durch Farben, Töne, Gerüche, Formen.
Sondern durch Worte.

IV
Worte sind das, was für den Fuchs die Farbe des Weizens ist:
Sie schließen uns eine ganze Welt auf.
Dabei sind und bleiben es nur Worte.
Wir machen die Erfahrung,
dass Worte oft wohlfeil sind.
Man kann sich nicht darauf verlassen.
Einer sagt heute dies und morgen das,
oder will sich gar nicht erst festlegen lassen.
Wie soll man auf Worte vertrauen?
Wie soll man auf ein bloßes Wort den Glauben,
sein ganzes Leben gründen?

Es geschieht nicht durch Überzeugung,
nicht durch Argumente, nicht durch Logik
oder eine besondere rhetorische Begabung.
Es geschieht, indem uns ein Wort, ein Satz einleuchtet.
Und damit sind wir wieder beim Heiligen Geist.
Man kann nicht machen, dass es passiert.
Es geschieht, irgendwie, man weiß nicht, wie,
dass wir ergriffen sind.
Und dass uns plötzlich der Weizen nicht mehr egal ist,
sondern uns ganz viel bedeutet:
Weil Jesus mit seinen Jüngern durch ein Weizenfeld gewandert ist,
seine Jünger die Ähren ausrauften
und Jesus sie verteidigte gegen die Kritik der Pharisäer,
indem er Worte sagte, die wir nicht vergessen können:
"Wenn ihr aber wüsstet, was das heißt:
Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit
und nicht am Opfer." (Matthäus 12,7)

Die Kantate, die wir eben hörten,
ist ein Versuch, den Worten
Leben, Geist einzuhauchen
und ihnen mit dem Mittel der Musik,
auf den Bögen einer schönen Melodie,
im Gewand einer wunderbaren menschlichen Stimme
den Weg in unsere Herzen zu ebnen.

Christoph Graupner hat, wie alle Komponisten,
versucht, mit seiner Musik ein Feuer zu entfachen,
das die Wörter zum Leuchten bringt.
Dafür sei ihm Dank gesagt,
wie auch all denen,
die diese Worte für uns vergegenwärtigt haben:
den Musikern und Sängern und dem Lektor,
der uns die alte Geschichte vorlas.

Auf die eine oder andere Weise
finden die Worte einen Weg in unser Herz
und entzünden sich am Feuer des Heiligen Geistes,
der in uns ist,
bis sie uns einleuchten.

Amen.

____________
Anmerkungen:

[1] Antoine de Saint-Exupéry, Gesammelte Schriften in drei Bänden, Band 1, dt. von Josef Leitgeb, München (dtv) 3.Aufl. März 1985, ISBN 3-423-05959-1, S. 554.
[2] Die Handschrift der Kantate findet sich hier: http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/Mus-Ms-461-10?sid=64725f8af949e63ec9f1aa1cc5e744b0
Der Text der Kantate und Hintergrundinformationen sind hier zu finden (PDF): http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/sml/Musikhandschriften/text_zu_mus_ms_461_10_was_betrübst_du_dich_meine_seele_u_bist_v_02.pdf

Das eigentliche Wunder


Predigt am Sonntag Kantate, 6. Mai 2012 über Apostelgeschichte 16,23-34:

Nachdem man Paulus und Silas eine große Anzahl von Schlägen gegeben hatte, ließen die Prätoren sie ins Gefängnis werfen und wiesen den Gefängniswärter an, sie scharf zu bewachen. Das tat dieser dann auch: Er sperrte die beiden in die hinterste Zelle des Gefängnisses und schloss ihre Füße in den Block.
Gegen Mitternacht beteten Paulus und Silas; sie priesen Gott mit Lobliedern, und die Mitgefangenen hörten ihnen zu. Plötzlich bebte die Erde so heftig, dass das Gebäude bis in seine Grundmauern erschüttert wurde. Im selben Augenblick sprangen sämtliche Türen auf, und die Ketten aller Gefangenen fielen zu Boden. Der Aufseher fuhr aus dem Schlaf hoch, und als er die Türen des Gefängnisses offen stehen sah, zog er sein Schwert und wollte sich töten, denn er dachte, die Gefangenen seien geflohen. Doch Paulus rief, so laut er konnte: "Tu dir nichts an! Wir sind alle noch hier!" Da ließ der Aufseher Fackeln bringen, stürzte in das Gefängnis und warf sich zitternd vor Paulus und Silas zu Boden. Während er sie dann nach draußen führte, fragte er sie: "Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?" Sie antworteten: "Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und alle, die in deinem Haus leben!" Und sie verkündeten ihm und allen, die bei ihm im Haus wohnten, die Botschaft des Herrn.
Der Gefängnisaufseher kümmerte sich noch in derselben Stunde, mitten in der Nacht, um Paulus und Silas und wusch ihnen das Blut von den Striemen ab. Dann ließen sich er und alle, die zu ihm gehörten, ohne zu zögern taufen. Anschließend führte er die beiden in sein Haus hinauf und ließ eine Mahlzeit für sie zubereiten. Er war überglücklich, dass er mit seinem ganzen Haus zum Glauben an Gott gefunden hatte.
(NGÜ)


Liebe Gemeinde,

eine schöne Geschichte, nicht wahr?
Zu schön, um wahr zu sein.
Zwei Apostel, Paulus und Silas,
die wegen einer Heilung, die sie vollbracht hatten,
verurteilt, ausgepeitscht und ins Gefängnis geworfen worden waren,
fangen mitten in der Nacht an zu singen und zu beten
und erleben eine wunderbare Rettung:
Ein Erdbeben sprengt alle Türen und Ketten,
die Gefangenen sind frei.

Es gibt viele solcher Wundergeschichten in der Bibel,
eine unglaublicher als die andere.
Z.B. der Zusammenbruch der Mauern von Jericho,
das die Israeliten sieben mal mit Posaunen umrunden,
dann stürzen die unüberwindlichen Mauern ein -
nicht, weil die Posaunen zum steinerweichen geklungen hätten,
sondern weil Gott ein Wunder tut. (Josua 6)

Oder die drei Männer im Feuerofen,
die vom babylonischen König Nebukadnezar
wegen ihrer Weigerung, sein goldenes Bild anzubeten,
in einen glühend heißen Ofen geworfen werden,
aber nicht verbrennen, ja nicht einmal angesengt werden,
weil ein Engel sie schützt. (Daniel 3)

Schöne, bekannte, aber auch unglaubliche Geschichten.
Aber sie stehen in der Bibel,
und deshalb scheuen sich viele Menschen davor,
sie in das Reich der Märchen zu verbannen,
sondern versuchen daran festzuhalten,
dass Gott Wunder wirken kann,
wenn er nur will.

Leider machen wir niemals die Erfahrung solcher Wunder.
Deshalb fällt es sehr schwer zu glauben,
dass es sich bei diesen Erzählungen um Tatsachenberichte handelt,
dass diese Wunder wirklich geschehen sein sollen.

Es ist auch nicht nötig, das zu glauben.
Wir verstehen die Wundergeschichten nicht,
wenn wir sie für Tatsachenberichte halten.
Und, viel schlimmer, wir verpassen das eigentliche Wunder,
von dem sie berichten,
wenn wir über das Unmögliche staunen
und überlegen, wie es vielleicht doch möglich gewesen sein könnte,
während wir das Mögliche und Naheliegende
- aber deshalb nicht weniger wunderbare -
übersehen.

II
In der Wundergeschichte, die wir eben gehört haben,
sind gleich drei Wunder versteckt,
die wir beim ersten Hören vielleicht gar nicht mitbekommen haben.
Weil wir so gebannt waren von der großen Show:
vom Erdbeben, den zersprungenen Ketten und offenen Gefängnistüren.
Aber das ist nicht das Wunder.

Das erste wirkliche Wunder ist,
dass Paulus und Silas mitten in der Nacht
Gott mit Lobliedern preisen.

Sie wurden verhaftet,
verprügelt und ausgepeitscht,
ins Gefängnis geworfen
und in den Block geschlossen
- das ist ein mit Löchern versehener schwerer Holzklotz,
den die Gefangenen an der Flucht hindern soll,
aber zugleich jede Bewegung unmöglich macht.
Paulus und Silas leiden Schmerzen,
sind unschuldig eingesperrt und hungrig.
Das ist so ziemlich die letzte Situation,
in der man in Stimmung für Loblieder ist.

Aber Paulus und Silas jammern und klagen nicht,
sie schimpfen und schreien nicht.
Sie singen.
Das ist verblüffend.
So verblüffend, dass selbst ihre Mitgefangenen,
denen es ähnlich schlecht geht wie den beiden,
zuhören (das ist eigentlich schon ein zweites Wunder:
Denn ihre Mitgefangenen sind ja keine unschuldigen Opfer
wie Paulus und Silas,
sondern raue Kerle, die wirklich etwas verbrochen haben;
aber dieses Wunder will ich mal gar nicht mitzählen).

Mit ihrem Beten und Singen tun Paulus und Silas etwas Wunderbares:
Sie machen ihren Mitgefangenen Mut
(und sich selbst vermutlich auch).
Sie singen von Dingen, die es im Gefängnis nicht gibt:
Von Schönheit. Hoffnung. Vergebung. Liebe.
Das sprengt die Ketten,
die Ketten, die die Gefangenen um ihre Herzen trugen.
Sie hören zu, sind ergriffen, lassen sich ergreifen
von der Melodie, vom Text der Lieder.
Die harten Kerle werden weich.
Wenn die Ketten des Herzens springen,
ist es nur konsequent,
dass auch die äußeren Ketten abfallen
und die Türen des Gefängnisses sich öffnen.
Aber erst, nachdem das Wunder des Singens und Hörens geschah,
das eigentliche Wunder.

III
Und sofort folgt das zweite Wunder:
Die Gefangenen fliehen nicht.
Das wäre doch jetzt naheliegend:
Die Fesseln sind gesprengt, die Türen stehen offen -
nichts wie weg.
Aber niemand geht.
Der Gefängnisdirektor,
der sich aus Entsetzen über den vermeintlichen Massenausbruch
und aus Angst vor der Bestrafung, die ihn dafür treffen wird,
das Leben nehmen will, traut seinen Augen nicht:
Es sind ja alle noch da.
Das ist das zweite Wunder.

Es ist ein Wunder, dass niemand geflohen ist,
dass auch Paulus und Silas,
die zu Unrecht verurteilt und eingesperrt wurden,
nicht die Chance zum Verschwinden genutzt haben.
Sie bleiben da
und legen ihr Leben in die Hand des Gefängnisdirektors,
von dem sie nichts Gutes zu erwarten haben.
Er hat sie schließlich eingesperrt.

Dieses grundlose Vertrauen ist ein Wunder.
- Wir würden wahrscheinlich sagen:
Es ist absoluter Leichtsinn, es ist eine Dummheit.
So eine Chance kommt nie wieder.
Man muss sie nutzen.
Aber Paulus und Silas wollen den Gefängnisdirektor
nicht in Schwierigkeiten bringen.
Sie wollen nicht, dass er sich ihretwegen umbringt.
Und ihre Mitgefangenen wollen das offensichtlich auch nicht.

Da ist ein Wunder passiert.
Eine Veränderung ist in all diesen Menschen vorgegangen.
Eine Veränderung, die sie menschlicher gemacht hat.
Auf einmal ist es ihnen nicht mehr egal,
was aus dem Gefängnisdirektor wird,
der sie schlimm behandelt hat.
Sie machen sich Sorgen um ihn.
Sie wollen nicht, dass er stirbt,
nicht einmal, dass er bestraft wird.

IV
Auch der Gefängnisdirektor erlebt eine Veränderung.
Er wirft sich vor seinen Gefangenen zu Boden,
er, der Herr über seine Gefangenen,
spricht sie jetzt als "Herren" an.
Gestern waren sie noch "Gesindel" für ihn.
Er begreift, dass etwas ganz Wunderbares passiert sein muss.
Die Gefangenen sind nicht geflohen.
Warum nur?
Es muss etwas geschehen sein,
das für sie wertvoller war als die Freiheit.
Etwas ganz Großartiges.

Diese Veränderung, die mit den Gefangenen vor sich gegangen ist,
die möchte auch er erleben.
Deshalb fragt er:
"Ihr Herren, was muss ich tun, damit ich gerettet werde?"
Und nun geschieht das dritte Wunder.
Es ist die Antwort, die Paulus und Silas geben:
"Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden".
Mehr ist nicht nötig.
Keine schwierigen Prozeduren,
keine langwierigen Glaubenskurse,
keine Rituale, keine Formulare.
Der Gefängniswärte darf sogar seinen Beruf behalten
und muss auch sonst sein Leben nicht ändern
(er wird es ändern - das passiert aber von ganz allein,
das muss ihm niemand sagen oder vorschreiben).
Für die großartige Veränderung ist nichts weiter nötig
als der Glaube an Jesus, den Herrn.

V
"Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden".
Das scheint sehr wenig - und ist doch sehr viel.
Denn wenn Jesus tatsächlich der Herr ist,
dann gibt es keine anderen Herren mehr.
Natürlich gibt es noch viele,
die Macht und Befehlsgewalt beanspruchen:
Vorgesetzte. Vorsitzende. Führer.
Aber sie haben keine Macht mehr.
Sie sind nur noch dem Namen nach Herren.

Wenn Jesus tatsächlich der Herr ist,
dann verliert alles seine Macht,
was Herrschaft über uns erlangen will:
die Sorge um das Eigentum und um das Ansehen.
Unser Geld. Unser Wissen.
Unsere Macht und unser Einfluss.
Die gesellschaftliche Stellung, die wir haben.
Das Auto, das wir fahren -
all das wird bedeutungslos und unwichtig.
All das aufzugeben, ist ein schwerer Schritt.
Wollen wir das wirklich?

Sehen Sie: Deshalb ist hier das eigentliche Wunder verborgen.

VI
Von drei Wundern hat diese Geschichte erzählt,
nicht nur von einem
- und das eine, das offensichtliche, zählt gar nicht dazu.
Drei Wunder, die etwas faszinierendes haben,
die uns aber zugleich auch sehr misstrauisch machen:
Gott loben, wenn man in größter Gefahr, in äußerstem Leid ist?
Einem Menschen vertrauen, der einem bisher nur Böses getan hat?
Das Vertrauen auf alles aufgeben, an das man bisher geglaubt,
dem man bisher vertraut hat,
und alle Hoffnung auf Jesus setzen,
von dem man nicht einmal weiß, ob es ihn wirklich gibt?

Ich gebe zu: Das ist wirklich viel verlangt.
Deshalb sind dies ja die eigentlichen Wunder.
Deshalb ist es ja ein Wunder, wenn es geschieht:
Wenn man in auswegloser Situation,
in Leid und Schmerz Gott ganz nahe weiß,
sich geborgen fühlt und gut aufgehoben.
Wenn man den Mut findet,
einem anderen Menschen zu vertrauen,
auch wenn der das Vertrauen nicht wert zu sein scheint.
Und wenn man alle Bemühungen um ein besseres Leben,
alle Selbstbeschränkungen und Pflichtübungen sausen lässt,
weil die Rettung viel einfacher ist, als wir dachten:
"Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden".

Ich wünsche mir und uns,
dass dieses Wunder geschieht
und wir wirklich glauben können,
dass Christus der Herr ist.
Alles andere ist dagegen dann ein Kinderspiel.

Amen.