Samstag, 10. Juli 2021

alltägliche Gegenwart

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juli 2021, über Matthäus 28,20:

Christus spricht: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.”

Liebe Schwestern und Brüder,

ich möchte Sie auf eine kleine Zeitreise mitnehmen, in Gedanken zurückgehen in Ihre und meine Kindheit, zu dem Zeitpunkt, als wir das erste Mal allein von Zuhause weg waren. Erinnern Sie sich? Vielleicht bei einer Klassenfahrt, einer kirchlichen Rüstzeit. Vielleicht war es, wie bei mir, der Besuch bei einer Verwandten. Dann die erste Nacht allein in einer fremden Umgebung. Hatten Sie Heimweh? Ich hatte ganz schreckliches Heimweh, denn meine Mutter hatte abends noch angerufen, um zu hören, ob ich gut angekommen war, und danach brachen alle Dämme …
Eigentlich ist ‚Heimweh’ der falsche Ausdruck. Man sehnt sich ja nicht nach seinem Zuhause - dazu ist die neue Umgebung viel zu aufregend und interessant. Man sehnt sich vielmehr nach den Menschen, die einen Ort erst zum Zuhause machen: Den Großeltern, den Geschwistern und vor allem: den Eltern - nach den Menschen, die man liebt und von denen man geliebt wird.
Heimweh zu haben ist ein bisschen peinlich, besonders, wenn man mit anderen gemeinsam unterwegs ist. Dabei ist es nichts, wofür man sich schämen müsste - zeigt es doch, dass man einen anderen Menschen sehr lieb hat und schrecklich vermisst. Eltern, die darum wissen, lassen sich etwas einfallen und helfen ihrem Kind, über das Heimweh hinwegzukommen. Sie packen eine Süßigkeit ein, ein kleines Kuscheltier oder einen Anhänger. Etwas, das an die Eltern erinnert, das aber nicht zu auffällig ist, damit es für das Kind nicht peinlich wird.
Wird man älter, hat man immer seltener Heimweh. Irgendwann ist man sogar richtig froh, wenn man das Elternhaus hinter sich lassen kann. Trotzdem hat man seine Eltern weiter lieb, wie man weiterhin von ihnen geliebt wird. Man vermisst sie nur nicht mehr so sehr. Man trägt jetzt sein Zuhause irgendwie in sich und weiß, dass die Eltern bei einem sind, auch wenn man räumlich von ihnen getrennt ist.
Wie ist es dazu gekommen?

„Siehe, ich bin bei euch alle Tage”, sagt Jesus.
Ein töstlicher, Mut machender Zuspruch. Wie ist Jesus denn bei uns, wie muss man sich das vorstellen? - Natürlich, wir können an Jesus denken. Uns an seine Worte erinnern. An die Geschichten, die die Evangelien von ihm erzählen. Wird er so wirklich für uns gegenwärtig? Und tröstet uns das, wenn wir einsam sind, ängstlich oder mutlos?
Man könnte sagen: Jesus ist im Abendmahl bei uns. Da ist er wirklich gegenwärtig, in Brot und Wein spürbar und zu schmecken. Aber das Abendmahl feiern wir nicht alle Tage, sondern höchstens einmal im Monat, und dazu muss man in die Kirche kommen.
Manche tragen ein Kreuz bei sich, das Zeichen Jesu. Das Kreuz ist - bitte verzeihen Sie den Vergleich - wie das Kuscheltier, das die Eltern einpackten: Man kann es anfassen, man spürt etwas - ist das die Nähe von Jesus, die man da spürt?

Schon früh in der Geschichte des Christentums scheint es eine Frage gewesen zu sein, wie man Gottes Gegenwart täglich erfahren kann. Offenbar gab es Menschen, die mit Gott sozusagen per Du waren, die Heiligen, während die Mehrheit der Gläubigen keinen direkten Draht zu Gott hatte. Darum begann man, die Überreste dieser Heiligen zu sammeln, die Reliquien. Von Jesus selbst gibt es keine Reliqiue - außer dem berühmten Grabtuch von Turin, das seinen Leichnam umhüllt haben soll. Und Splitter seines Kreuzes. Böse Zungen behaupten, die vielen Kreuzsplitter würden zusammengesetzt mehr als ein Kreuz ergeben. Im Mittelalter pilgerten Menschen in Scharen zu diesen Reliquien, um so in die Nähe der Heiligen und damit auch Gottes zu kommen, um etwas von Gottes Gegenwart zu spüren. Mit der Reformation endete die Reliquienverehrung auf protestantischer Seite. Für uns sind diese ehemals hoch verehrten Dinge nur Holz oder Knochen, die nichts Heiliges an sich haben und Gottes Nähe und Gegenwart nicht vermitteln können. Gegenstände kann man nicht mit Gottes Gegenwart „aufladen” wie einen Akku. Gott steht uns nicht zur Verfügung, wie der Strom aus der Steckdose. Darum kann man Gott nicht an einen Gegenstand binden, um ihn bei Bedarf hervorzuholen oder sich in seine Nähe zu begeben.

Wenn man älter geworden ist, vermisst man die Eltern nicht mehr so, wie man sie als Kind vermisste. Man trägt sie nun in sich, sie sind immer bei einem. Wenn man sich fragt, woran man das merkt, entdeckt man, wie viel man von seinen Eltern übernommen hat. Bestimmte Angewohnheiten wie die Art, sich die Schuhe zu binden oder sich seinen Tee zu kochen. Bestimmte Vorlieben oder Abneigungen. Sprüche und Redewendungen. Handgriffe des Alltags. Man ist nicht immer glücklich darüber, besonders, wenn einem die Partnerin, der Partner vorwirft: Du bist wie dein Vater oder wie deine Mutter!
Was wir von unseren Eltern übernehmen, sind Handlungen. Wir tun etwas so, wie unsere Eltern es taten - und wie die es wahrscheinlich von ihren Eltern übernommen haben. So sind unsere Eltern für uns gegenwärtig. Es ist uns nicht bewusst, wenn wir das tun; wir denken auch nicht darüber nach. Aber wenn wir an unsere Eltern denken, fallen uns solche Handlungen ein: Wie sie abends an unserem Bett saßen, mit uns beteten, sangen oder eine Geschichte vorlasen. Wie sie einen Apfel für uns schälten, das Essen kochten - und wie es schmeckte. Wie wir mit ihnen spielten oder spazieren gingen. Wir erinnern uns an gemeinsame Autofahrten, gemeinsame Fernsehabende. Daran, wie sie uns in den Arm nahmen oder sich von uns verabschiedeten. Und wir machen das so ähnlich, oder ganz genauso, mit unseren Kindern.

Auf eben diese Weise ist auch Jesus für uns gegenwärtig: Indem wir tun, was Jesus getan hat. Darum sagt Jesus seinen Jüngern, als er das Abendmahl einsetzt: „Solches tut zu meinem Gedächtnis”. Nicht nur beim Abendmahl ist Jesus für uns gegenwärtig. Denn Jesus sagt, als er seinen Jüngern die Füße wäscht: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe”. Damit meint er nicht, dass wir einander die Füße waschen, sondern dass wir einander dienen sollen. Darum sagt Jesus auch: „Was ihr einem von diesen meinen geringsten Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan”. Jesus hat uns vorgelebt, wie wir als Christinnen und Christen handeln sollen. Wenn wir es ihm nachtun, ist er unter uns gegenwärtig, ist er bei uns alle Tage, nicht nur am Sonntag, wenn wir Abendmahl feiern.
Ein Zeichen für diese alltägliche Gegenwart ist die Taufe. Die Taufe ist kein Talisman, der uns vor allem Bösen beschützt. Die Taufe nimmt uns auf in die Gemeinschaft mit Jesus. Sie gibt uns den Heiligen Geist, durch den wir fähig werden, so zu handeln wie Jesus es uns vorgelebt hat. Durch den Heiligen Geist ist Jesus bei uns alle Tage. Indem sein Geist uns zum Handeln antreibt, wird Jesus für uns und für andere gegenwärtig durch das, was wir für sie tun: Jemanden besuchen, jemandem zuhören, jemanden trösten, jemandem die Schuhe zubinden, für jemanden einkaufen, für jemanden einstehen.

Als Gemeinde der Getauften sind wir beieinander, stehen wir füreinander ein, sind wir füreinander da, wie Jesus es uns vorgelebt hat. Und so ist Jesus bei uns alle Tage. Darum sagt Jesus auch: „Siehe!” Es gibt nämlich etwas zu sehen, zu erfahren: Freundlichkeit. Hilfsbereitschaft. Liebe. An ihnen sehen und erfahren wir, an ihnen sehen und erfahren andere, dass Jesus wirklich bei uns ist. Heute und alle Tage, bis an der Welt Ende.

Samstag, 3. Juli 2021

sich retten lassen

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2021, über 1.Korinther 1,18-25

Liebe Schwestern und Brüder,

die Briefe des Paulus stehen in dem Ruf, schwierig und schwer verständlich zu sein. Paulus war der erste Theologe der noch jungen Christenheit, und er versucht, einen ersten Grund des neuen Glaubens zu legen. Da muss er sich wahrscheinlich ein wenig kompliziert ausdrücken. Dass wir ihn so schwer verstehen, liegt auch daran, dass uns fast 2.000 Jahre von seiner Zeit trennen. Die Art und Weise zu denken und die ganze Gedankenwelt war damals eine andere als unsere heute. Darum kostet es schon ein wenig Mühe, Paulus verstehen zu wollen. Aber es lohnt sich. Ich möchte es heute mit Ihnen an einem Satz aus dem heutigen Predigttext versuchen. Er lautet:

„Weil denn die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte, obwohl sie doch von Gottes Weisheit umgeben ist, gefiel es Gott, die Gläubigen durch die Dummheit der Predigt zu retten.”

Dass dieser Abschnitt Predigttext für den heutigen Sonntag wurde, liegt am Stichwort „Rettung”. Das Thema des Sonntages, das der Wochenspruch auf den Punkt bringt, ist die Rettung allein aus Gnade. Bei Luther und auf Latein heißt das: „sola gratia”.
Allein aus Gnade. Sola gratia. Darin steckt das Wort „gratis”, geschenkt. Gott schenkt uns die Rettung, weil er Mitleid mit uns hat. Wir müssen nichts dafür tun. Wir können nichts dafür tun. Ohne Werke, ohne unser Zutun werden wir gerettet. Das macht misstrauisch: Wo ist da der Haken? Es gibt niemals etwas einfach umsonst; immer will man dafür etwas von uns.
Es gibt aber wirklich keinen Haken. Gott bietet allen Menschen die Rettung an. Allerdings muss der Mensch doch etwas tun: Er muss daran glauben. Dieses Glauben ist nicht einfach ein Akzeptieren, dass es so ist, wie man eine Geschichte glaubt oder eben nicht. Es ist eher den ersten Schwimmversuchen vergleichbar, wo man noch nicht weiß, dass das Wasser eine* trägt. Der Glaube, der nötig ist, um gerettet zu werden, ist ein Wagnis, weil man sich auf etwas verlässt, das man nicht beweisen oder überprüfen kann.

Von diesem Wagnis oder dieser Zumutung des Glaubens handelt der Vers aus dem Predigttext. Auch er spricht, wie wir schon gesehen haben, von Rettung, und er verknüpft sie mit etwas Überraschendem: Mit der Dummheit:

„Weil denn die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte, obwohl sie doch von Gottes Weisheit umgeben ist, gefiel es Gott, die Gläubigen durch die Dummheit der Predigt zu retten.”

Das könnte man als Spitze gegen die Prediger und ihre Predigten hören, und in gewisser Weise ist es das auch. Überspitzt könnte man sagen: Wenn ich Ihnen mit meiner Predigt nicht wenigstens etwas Neues sage, wenn ich Sie nicht wenigstens ein bisschen zum Nachdenken, zum Kopfschütteln oder zum Staunen bringe, und wenn ein Außenstehender nicht dazu sagt: Was redet der denn für dummes Zeug? - dann habe ich nicht richtig gepredigt. „Dummheit” bedeutet nämlich nicht, dass man Blödsinn erzählt, sondern dass man provoziert, bisher un-erhörtes sagt. Wenn ich Ihnen nur sagen würde, was Sie längst wissen; wenn ich Sie nur in Ihrer Meinung bestätigen, Ihnen nach dem Mund reden würde, was hätten Sie dann von der Predigt? Die „Dummheit” der Predigt ist der Schlüssel zu einer anderen Wirklichkeit: Gottes Wirklichkeit. Paulus nennt sie „Gottes Weisheit”, und sie steht im Widerspruch zur „Weisheit der Welt”. Von dieser zu jener gibt es keine logische Verbindung, oder, wie Paulus es sagt: Mit der Weisheit der Welt kann man Gottes Weisheit nicht begreifen. Wir sind von Gottes Weisheit umgeben, trotzdem erkennen wir sie nicht. Dabei stoßen wir im Leben immer wieder an Grenzen - seien es die unserer Möglichkeiten, seien es die unseres Verstehens. Doch die Weisheit der Welt will diese Grenzen nicht akzeptieren, sie will sie überwinden. Tatsächlich ist erstaunlich, was menschliche Weisheit erreicht hat. Wir sind auf dem Mond gelandet und werden bald auf dem Mars landen. In kürzester Zeit wurde ein Impfstoff gegen das Corona-Virus entwickelt und hergestellt. Und vielleicht ist sogar das Virus selbst aus einem Labor entwischt, an dem mit Erbgut experimentiert wird.
Die göttliche Weisheit dagegen sieht die Grenzen als Anstoß, über uns und unser Leben nachzudenken. Wer an Grenzen stößt, erkennt, dass wir nicht Herren über unser Leben sind, sondern angewiesen auf unsere Umwelt, unsere Mitmenschen, auf Gott. Wie das Kind seine Eltern, so brauchen wir als Erwachsene die Unterstützung durch andere, und wir brauchen Gott. Wir können dieses Leben nicht allein bewältigen.

Dieser Gedanke der Abhängigkeit ist für die Weisheit der Welt ein anstößiger Gedanke. Ihr höchstes Gut ist die Freiheit - das zeigen auch die Proteste gegen die einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, ohne andere fragen oder auf sie Rücksicht nehmen zu müssen.
Die Generation unserer Eltern und viele von uns sind noch mit dem Spruch aufgewachsen: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre”. Als Lehrlinge oder Auszubildende haben wir uns manches gefallen lassen müssen und dabei manchmal mit den Zähnen geknirscht. Heute würde ein Lehrling einfach hinschmeißen, wenn ihre* Ausbilder*in sie* Bier holen oder den Hof fegen ließe. Heute ist es kaum noch zu vermitteln und schwer erträglich, sich von jemand anderem etwas sagen lassen zu sollen, gar von jemandem abhängig, auf jemanden angewiesen zu sein.
Aber Abhängigkeit bedeutet nicht Unfreiheit. Sie bedeutet, dass man anerkennt: kein Mensch existiert nur für sich, aus eigenem Willen und eigener Kraft. Jede* von uns hatte oder hat eine Mutter, die sie* geboren und großgezogen hat. Wir brauchen einander in jeder Hinsicht, und wir brauchen Gott. Wer das nicht anerkennen kann, die* kann Gott nicht erkennen. Denn Gott ist keine unverbindliche „Idee”, kein Erziehungsinstrument, keine moralische Instanz, die uns „Anstand“ und „Ordnung” lehrt. Gott ist unser lebendiges Gegenüber. Gott möchte eine Beziehung mit uns eingehen. Zu einer Beziehung gehört, dass man sich in gewisser Weise von einem anderen abhängig macht, dass man manche Freiheiten zugunsten der gemeinsamen Beziehung aufgibt. Zu unserer Beziehung zu Gott gehört, dass wir anerkennen, dass wir von Gott abhängig sind. Und dass wir uns von ihm retten lassen.

„Rettung” ist ein starkes Wort. Gerettet wird man aus Not, aus Lebensgefahr. Gerade dann aber machen Menschen die Erfahrung, dass Gott nicht rettend eingreift. Kein Wunder geschieht, das sie oder ihre Liebsten in letzter Minute rettet. Wenn Gott uns aus solcher Not nicht retten kann, wozu sollte dann seine Rettung gut sein?
In einer Welt, in der alles machbar erscheint und irgendwie auch machbar ist, in der Menschen keine Grenzen mehr kennen und akzeptieren, kann man trotzdem verloren gehen. Weil man vom rasenden Zug des Fortschritts herunterfällt. Weil man sich die Freiheit, die manche über alles schätzen, nicht leisten kann. Weil man in der Vielfalt der Möglichkeiten, im Zwang, seines Glückes Schmied zu sein, die Orientierung und den Mut verliert.
Auch die Welt kann verloren gehen. Eine Welt, in der Menschen alle Einflussnahme auf und Ausbeutung von Umwelt und Natur für machbar halten und keine Grenzen ihrer Manipulationen an Pflanzen, Tieren und Menschen akzeptieren wollen, kann kaputt gehen. Wir sehen am Klimawandel, dass es möglicherweise schon längst zu spät ist, unsere Welt noch zu retten; dass wir dabei sind, die Lebensgrundlage vieler Pflanzen und Tiere und auch von uns selbst unwiederbringlich zu zerstören.

In dieser Situation muss der Mensch vor sich selbst gerettet werden. Vor seinem Übermut und Größenwahn, vor seinem Egoismus und seiner Weigerung, seine Abhängigkeit anzuerkennen und die Folgen seines Handelns zu bedenken. Der Mensch muss gerettet werden vor den unmenschlichen Maßstäben, die er an sich und andere anlegt. Maßstäbe, die von jeder* eine Model-Figur verlangen, Höchstleistungen in der Schule, im Beruf erwarten und zur Selbstoptimierung verpflichten. Die Menschen dazu verdammen, etwas aus sich und ihrem Leben zu „machen”, statt einfach Mensch zu sein.

Davor retten können wir uns nicht selbst. Retten kann uns nur, dass wir die Grenzen sehen und anerkennen, die uns gesetzt sind, und dass wir uns unsere Abhängigkeit eingestehen - von der Natur und unseren Mitmenschen, und von Gott.
Gott will das Leben erhalten. Gott will Gutes für unser Leben. Wir würden es erleben, wenn wir Gott vertrauen und uns von ihm retten lassen könnten. Das ist die Zumutung des Glaubens: Auf das Machen zu verzichten und Gott machen zu lassen. Ob wir wohl einmal so dumm sein werden, das zu versuchen?

eine Schachtel Pralinen

Predigt am 4. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juni 2021, über Genesis 50,15-21

Liebe Schwestern und Brüder,

im Film „Forrest Gump” heißt es:
„Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel - man weiß nie, was man bekommt.”
Selten mag man alle Parlinensorten. Wenn man blind in die Schachtel greift, erwischt man auch schon mal eine, die man nicht mag. Manche haben sogar das Gefühl, sie würden immer nur die Pralinen abbekommen, die keiner haben will. Aber das Schöne an diesem Bild von der Pralinenschachtel ist doch, dass es immer Pralinen sind.

Kann man das so von seinem Leben sagen, dass man immer Pralinen gezogen hat - auch wenn manchmal welche dabei waren, die man nicht mochte?
Will man allen Ernstes einen Unfall als „Praline” bezeichnen, das Zerbrechen einer Partnerschaft, den Verlust eines lieben Menschen, eine schwere Erkrankung?

Die Josefsgeschichte jedenfalls tut es, wenn auch mit anderen Worten:
„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.”
Das Böse, um das es dabei geht, ist der Neid der Brüder auf Josef, weil er Papis Liebling ist. Ein Neid, der schließlich in blanken Hass umschlägt. Ein Hass, so groß, dass die Brüder Josef ermorden wollen. Dem Ältesten von ihnen gelingt es, die Josef zugedachte Todesstrafe in Lebenslänglich umzuwandeln, indem er die anderen überredet, Josef als Sklaven nach Ägypten zu verkaufen. Dem Vater machen die Brüder weis, Josef sei von einem wilden Tier gerissen worden.

In Ägypten wird Josef weiter vom Pech verfolgt. Er wird verleumdet und landet im Gefängnis. Erst dort werden seine erstaunlichen Fähigkeiten entdeckt, die ihn schließlich an die Spitze des ägyptischen Staates befördern. In dieser Position kann er seiner Familie helfen, als eine Hungersnot ausbricht, und sie schließlich sogar zu sich nach Ägypten holen. Im Rückblick deutet Josef sein Schicksal als Gottes Plan:
„Gott gedachte es gut zu machen, um am Leben zu erhalten ein großes Volk.”

Josef versteht seinen leidvollen Weg als Teil eines größeren göttlichen Planes. Dadurch kann er sein Leiden als sinnvoll annehmen und seinen Brüdern vergeben. Aus dem Schicksalsschlag, der sein Leben völlig veränderte, wird eine Praline. Eine von denen, die man erwischt, wenn man nicht aufpasst, oder wenn alle guten schon weg sind. Aber eine Praline.

Könnten wir das auch, aus leidvollen und schweren Phasen unseres Lebens Pralinen werden lassen? Oder ist das nur Josef vorbehalten, weil er es zu etwas Außergewöhnlichem und Großem gebracht hat und mit seiner Familie ein ganzes Volk am Leben erhält: das künftige Volk Israel?

„Gott gedachte es gut zu machen.”
Die schwierigste Frage, die es für den Glauben gibt, ist wohl die, ob Gott unser Leben lenkt, und wenn ja, wie? Denn wenn Gott unser Leben lenkt, woher kommen dann das Leid und das Böse? Ist Gott böse, wenn er uns leiden lässt? Das Hiobbuch antwortet: Nein. Gott ist nicht böse. Gott steht über Gut und Böse. Der Mensch kann das nur nicht verstehen. - Aber warum hat Gott uns dann den Verstand gegeben, die Fähigkeit, zu fragen und zu hinter-fragen, wenn wir Gott doch nicht verstehen können? Sie merken: Man kommt von einer Frage zur nächsten. Trotzdem scheint mir die Josefsgeschichte eine Antwort zu geben. Sie liegt in dem Satz:
„Gott gedachte es gut zu machen.”

Die Voraussetzung für alles Nachdenken, woher das Böse und das Leid in der Welt kommen, ist dieser Satz: Dass Gott es gut machen will. Gott meint es gut mit uns. Wenn das die Voraussetzung ist, dann können das Leid und das Böse nicht von Gott kommen. Weder als Strafe für etwas Böses, das wir taten. Noch als Lehre, dass wir unser Leben ändern müssen. Noch als Geheimnis, das wir eines Tages verstehen werden. Wer einen Menschen liebt, tut ihm nichts Böses. Wer Gutes für einen Menschen will, tut ihr oder ihm nicht weh. Gott würde uns niemals weh tun.

Woher aber kommen dann das Leid und das Böse? Sie gehören zum Leben dazu. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, sieht, dass Krankheit, Sterben und Tod ein Teil des Lebens sind. Unfälle, Naturkatastrophen passieren, weil die Natur so funktioniert. Das bedeutet nicht, dass sie nicht schrecklich sind. Aber es steht kein böser Wille dahinter. Es steht überhaupt kein Wille dahinter, sondern die Naturgesetze, biologische und physikalische Abläufe, die zu unserem Leben gehören und es ausmachen. Wenn wir Leid erfahren, dann ist das meist mehr oder weniger Zufall - mehr oder weniger, weil unser Verhalten und das unserer Mitmenschen manchmal doch eine Rolle spielen.

Aber wie ist es mit dem Leid, das Menschen uns zufügen? Das ist kein Zufall. Dahinter steht ein Wille, ein böser Wille. Ja, es gibt einen bösen Willen. Menschen können unglaublich freundlich, liebevoll und hilfsbereit sein. Und Menschen können unglaublich grausam, gemein und böse sein - manchmal von einem Augenblick zum nächsten.
„Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen”,
stellt Josef fest. Josef erfährt am eigenen Leib die Gemeinheit seiner Brüder, die aus dem Neid entsteht. Er hätte allen Grund und alles Recht, ihnen ihre Gemeinheit heimzuzahlen. Aber er fährt fort:
„Aber Gott gedachte es gut zu machen.”
Der menschlichen Gemeinheit und Bosheit setzt Gott das Gute entgegen. Das Gute, das er in uns weckt. Das Gute, das sich nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern durch die Liebe. Das darum mit Füßen getreten, verächtlich gemacht, verhindert werden kann. Aber weil Gott das Gute gibt, müssen wir nicht beim Bösen stehen bleiben, das Menschen uns antaten. Mit dem Guten zeigt Gott uns einen Ausweg, eine andere Möglichkeit zu sein.

Gott will Gutes für uns, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Dieses Wissen hilft uns, selbst im Bösen und im Leid noch Möglichkeiten und Auswege zu entdecken.

Gott gedenkt, es gut mit uns zu machen. Wer das annehmen kann, für die oder für den kann das Leben eine Schachtel Pralinen werden. Und man bleibt gespannt, welche man als nächstes bekommt.