Samstag, 22. Januar 2022

im Machtbereich Gottes

Predigt am 3. Sonntag nach Epiphanias, 23. Januar 2022, über Matthäus 8,5-13



Liebe Schwestern und Brüder,


eine merkwürdige Begegnung zwischen Jesus

und dem Offizier der römischen Besatzungsmacht.

Merkwürdig, weil Besatzungssoldaten

normalerweise nicht mit der einheimischen Bevölkerung verkehren.

Oft verstehen sie nicht einmal die Landessprache,

benötigen Dolmetscher, um sich mit den Einheimischen verständigen zu können.

Die wiederum machen einen großen Bogen um die Besatzer.

Denn erstens bedeutet es Ärger, wenn einen ein Soldat anspricht.

Er kann einen sogar dazu zwingen, seine Ausrüstung zu schleppen.

Jesus beschreibt in der Bergpredigt,

wie man auf einen solchen Befehl reagieren soll:

„Wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen,

so gehe mit ihm zwei” (Matthäus 5,41).

Diese Macht der Besatzungssoldaten, Einheimische zu etwas zu zwingen,

führt zweitens dazu,

dass sie nicht gut auf die Besatzer zu sprechen sind

oder sie sogar aus vollem Herzen hassen.


Insofern ist es merkwürdig,

dass der römische Offizier nicht einfach befiehlt,

Jesus solle seinen kranken Knecht heilen,

sondern ihn darum bittet.

Und sich auch noch auf ein Gespräch einlässt,

nachdem Jesus seine Bitte ablehnt.

Denn die Antwort Jesu kann man nicht nur so übersetzen,

wie Martin Luther es tut:

„Ich will kommen und ihn gesund machen”.

Wahrscheinlicher ist es, dass Jesus fragt:

Ich soll kommen und ihn gesund machen?”

Nicht nur wegen des angespannten Verhältnisses

zwischen Einheimischen und Besatzungssoldaten

ist die Ablehnung viel wahrscheinlicher.

Sondern auch, weil Jesus sich unrein machen würde,

wenn er das Haus eines Heiden beträte.

Wahrscheinlich ist also,

dass Jesus die Bitte des Offiziers zunächst ablehnt.


Nun kommt die dritte Merkwürdigkeit:

Der Offizier ist wegen der Ablehnung weder beleidigt noch wütend.

Er droht Jesus auch nicht, was er wohl könnte,

oder tut ihm gar etwas an. Im Gegenteil:

Ganz demütig nennt er ihn Kyrie, Herr.

Und noch merkwürdiger ist, was er dann sagt:

„Ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst.”


„Ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst.”

Warum sollte ein römischer Offizier so etwas sagen?

Die Sieger, die Erfolgreichen halten sich zu allen Zeiten für besser

als die Besiegten, die Verlierer.

Die wiederum blicken verbittert oder neidisch zu den Siegern auf.

Aus dem Mund des Offiziers würden man deshalb

diesen Satz nicht erwarten,

ja, er ist geradezu unerhört:

Der Befehlshaber über eine Kompanie Soldaten

macht sich gegenüber einem Zivilisten klein

und nennt sich „unwürdig”!

Wie kommt es zu einer solchen Einsicht?


Wann würden wir so empfinden wie der römische Offizier?

Wann würden wir denken oder sagen: „Ich bin unwürdig”,

oder: „Womit habe ich das verdient?”

Vielleicht, wenn der unwahrscheinliche Fall einträte,

dass wir jemandem begegnen, den wir sehr bewundern -

ein Filmstar, eine bedeutende Politikerin, eine große Künstlerin.

Dass wir eine Auszeichnung bekommen, die wir nicht erwartet haben,

oder ein besonderes Amt übernehmen sollen, das wir uns nicht zutrauen.

Haben wir uns überhaupt jemals unwürdig gefühlt,

oder das sogar ausgesprochen?


Wir sprechen es jedenfalls häufiger aus, als wir denken

und wahrscheinlich viel häufiger, als wir es fühlen.

Wir tun es jedes Mal,

wenn wir im Gottesdienst miteinander singen:

Kyrie, eleison - Herr, erbarme dich!”

Denn das „Herr, erbarme dich!” sagt dasselbe,

was der Offizier zu Jesus sagt:

„Ich bin nicht würdig …”


Kyrie, eleison” - „Ich bin nicht würdig …”

Wir sagen das nicht, um uns vor Gott klein zu machen,

um uns klein oder schlecht zu fühlen.

Sondern, um einen Unterschied zu benennen.

So, wie es einen Unterschied zwischen Jesus und dem Offizier gibt:

Jesus kann das Haus des Offiziers nicht betreten,

ohne sich dabei zu verunreinigen.

Oder so, wie die Uniform des römischen Soldaten ihn

von der Zivilbevölkerung unterscheidet.


„Ich bin nicht würdig” bedeutet deshalb nicht:

Ich bin schlecht. Ich bin nichts wert.

Sondern es bedeutet:

Ich kann in deinen Bereich nicht hinein,

weil ich nicht dazugehöre.


Dieses Gefühl kennen wir.

Manche kennen es vielleicht sogar zu gut:

Das Gefühl, draußen zu stehen,

ausgeschlossen zu sein,

nicht dazu zu gehören.

Das ist das „Heulen und Zähneklappern”,

von dem Jesus spricht.

Denn wenn man nicht dazugehören darf,

ist einem manchmal zum Heulen.

Dann fühlt man sich ziemlich genau so,

wie der Offizier es beschreibt:

„Ich bin nicht würdig.”


Diese Sehnsucht, dazuzugehören,

das ist es, was Jesus hier „Glauben” nennt.

Und wenn er sagt:

„Solchen Glauben habe ich in Israel bei keinem gefunden”,

so ist das kein Wunder.

Denn die Juden gehören bereits dazu.

Sie sind Gottes erwähltes Volk.

Andere beneiden sie darum.

Im Laufe der Geschichte wurde immer wieder versucht,

ihnen das abspenstig zu machen,

ihnen gar diese Zugehörigkeit abzusprechen -

leider gerade von Christen.


Die Juden gehören dazu.

Das ist eine ganz andere und viel wertvollere Zugehörigkeit

als die Zugehörigkeit zum Militär

oder zur römischen Besatzungsmacht.

Indem der römische Offizier bekennt:

„Ich bin nicht würdig”, erkennt er das an.

Er erkennt an, dass es noch einen anderen Machtbereich gibt

als den, den er vertritt:

Die militärische, physische Gewalt,

die Machtansprüche durchsetzt, Menschen zwingt.

Dieser andere Machtbereich ist der Machtbereich Gottes.

Er ist anders, größer als die Mächte dieser Welt.

In diesem Machtbereich Gottes genügt ein Wort,

damit der von schrecklichen Qualen heimgesuchte Knecht wieder gesund wird.


Diesem Machtbereich Gottes unterstellen wir uns,

wenn wir sonntags im Gottesdienst bitten:

Kyrie, eleison - Herr, erbarme dich!”

Und diese Bitte macht uns nicht klein,

sie erniedrigt uns nicht.

Denn wir wissen: Wir gehören dazu.

Gott hat uns angenommen als seine Kinder,

aufgenommen in sein erwähltes Volk,

in dem Jüdinnen und Juden unsere großen Schwestern und Brüder sind.

Unter dem Dach dieser Kirche sind wir Zuhause,

hier sind wir willkommen,

hier dürfen wir sein und bleiben:

Würdig, unter Gottes Dach zu treten

und in seiner Nähe zu sein.

Sonntag, 16. Januar 2022

Auf Schatzsuche

Predigt zum 2. Sonntag nach Epiphanias, 16. Januar 2022, über 1.Korinther 2,1-10



Liebe Schwestern und Brüder,


wir müssen über die Predigt sprechen.

Ab und zu muss es sein,

dass man nicht nur eine Predigt hört,

sondern auch darüber nachdenkt,

was eine Predigt ist, und wozu sie da ist.

So, wie man manchmal über das Fernsehprogramm spricht,

statt eine Sendung zu sehen,

weil sowieso nichts Vernünftiges kommt,

oder weil man sich freut,

dass endlich mal etwas Vernünftiges gesendet wurde.


Also, wozu ist eine Predigt da?

Paulus sagt: Um „das Geheimnis Gottes zu predigen.”

Später sagt er: „wir reden von der Weisheit Gottes,

die im Geheimnis verborgen ist.”

In der Predigt geht es also um Geheimnisse.

Hätten Sie das gedacht?

Mir war es bisher nicht bewusst,

dass ich „Geheimnisträger” bin.

Eine Predigt ist also weder ein Lehrvortrag

noch eine Unterhaltungssendung.

In ihr geht es um wichtige Dinge,

die nicht jede wissen darf,

nicht jeder wissen kann.

Es geht um Perlen, die man nicht vor die Säue werfen darf (Matthäus 7,6).


Geheimnisse haben in einer öffentlichen Veranstaltung,

wie sie ein Gottesdienst ist,

darum eigentlich nichts zu suchen.

Sie sind ja nicht für jede*n bestimmt,

sondern nur für einen auserwählten Kreis.

Gottes Geheimnis aber ist anderer Art.

Eigentlich ist es nämlich gar kein Geheimnis.

Jede darf, jeder soll es sogar wissen:

„Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht;

und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern”,

sagt Jesus (Matthäus 10,27).

Gottes Geheimnis soll verbreitet werden,

es soll unter die Leute.


Warum spricht Paulus dann von Gottes Geheimnis,

wenn es gar kein Geheimnis im üblichen Sinne ist?

Der Inhalt der Predigt, die Botschaft selbst, ist ein Geheimnis.

Die Predigt, auch wenn sie klar und einleuchtend ist,

spricht trotzdem über etwas Geheimnisvolles,

das nur Wenige verstehen.

Und diese geheimnisvolle Botschaft lautet:

Jesus Christus als Gekreuzigter.


Der gekreuzigte Messias - den Juden ist er ein Ärgernis.

Denn nach jüdischem Glauben wird der Messias, wenn er kommt,

das Friedensreich Gottes aufrichten.

Der Gedanke, dass der Messias zum Opfer wird,

ist eine Provokation.


Der gekreuzigte Messias - den Griechen ist er eine Torheit.

Denn es ist unvernünftig, dass ein Mensch,

der nicht einmal seinen eigenen Tod am Kreuz verhindern konnte,

den Tod besiegt haben soll (1.Korinther 1,23).


Gottes Geheimnis ist also nicht deshalb geheim,

weil es niemand wissen darf.

Es ist geheim, weil man es nicht verstehen kann.

Ja, weil es geradezu unvernünftig, unlogisch ist.

Darum helfen alle hohen Worte,

hilft alle Weisheit nichts:

man kann dieses Geheimnis nicht erklären -

sonst wäre es ja kein Geheimnis.

Klugheit und Schönheit der Predigt helfen nicht,

damit Sie, die Hörerinnen und Hörer der Predigt,

Gottes Geheimnis verstehen,

damit Gottes Weisheit zu Ihnen gelangt.


Aber es gibt ja noch den*), der predigt.

Vielleicht liegt es nicht so sehr an den Worten,

am Inhalt der Predigt,

sondern am Prediger selbst:

seinem Auftreten, seinem Charakter?

Wenn er ein freundlicher, sympathischer Mensch ist,

wenn man ihm gern zuhört,

wenn er unterhaltsam und klug predigt

und dem Volk dabei aufs Maul schaut,

wie Martin Luther sagte;

und wenn er dann auch noch vorbildlich seinen Glauben lebt,

dann müsste es doch funktionieren,

dass die Predigt Gottes Weisheit vermittelt.


Nein, sagt Paulus.

Wenn es auf den Prediger ankäme, würdet ihr mir glauben,

aber nicht Gottes Geheimnis.

Es geht in der Predigt nicht um mich,

auch wenn ich es bin, der sie ausrichtet.

Euer Glaube soll sich nicht an mir orientieren.

Deshalb komme ich zu euch in Schwachheit,

in Furcht und mit großem Zittern.

Ich bin nicht klug oder fromm,

ich bin sicher nicht klüger, nicht frommer als ihr.

Allenfalls weiß ich um meine Schwächen und Fehler.

Ich weiß um die Anmaßung und das Risiko,

die hinter dem Ansinnen stecken,

Gottes Geheimnis verkündigen zu wollen.

Ich mache auch kein Hehl aus meiner Schwäche.

Ich versuche nicht, mich gut zu präsentieren,

besser zu scheinen, als ich bin.

Denn in meiner Schwachheit wird Gott mächtig.


Das würde Paulus antworten.

Und er gibt auch gleich noch einen Maßstab an,

mit dem man seine und jede andere Predigt beurteilen kann,

ob sie wirklich Gottes Geheimnis ausrichtet

und nicht bloß Dönekens erzählt.

Dieser Maßstab ist der Beweis des Geistes und der Kraft.

Der Beweis des Geistes und er Kraft

ist kein weiterer Trick, den der Prediger beherrscht.

Als könne man beweisen, dass man von Gottes Geist beseelt,

von Gottes Kraft erfüllt ist!


Eine Predigt hat drei Personen zu tun:

mit Gott und seinem Wort,

dessen Geheimnis durch die Predigt einleuchten soll.

Mit dem Prediger, der dieses Geheimnis ausrichtet,

und es doch nicht ausrichten kann,

weil weder seine klugen Gedanken, sein gewinnendes Auftreten,

noch sein Lebenswandel es bewerkstelligen können,

dass Ihnen Gottes Geheimnis einleuchtet.

Deshalb braucht die Predigt die dritte Person.

Das sind Sie: die Hörerinnen und Hörer der Predigt.

Sie hören nicht bloß zu,

lassen sich nicht bloß berieseln,

wie man sich vom Fernsehprogramm berieseln lässt.

Sie machen mit bei der Predigt:

Sie erbringen den Beweis des Geistes und der Kraft.


Nun aber auch nicht so,

dass Sie ergriffen oder im Innersten getroffen sind.

Dass Sie gar in Ekstase geraten oder wie vom Donner gerührt sind,

nach der Predigt verwandelt, als ein anderer Mensch nach Hause gehen.

Es geht nicht um einen besonderen Effekt,

den die Predigt bei Ihnen verursachen muss, wenn sie gut sein soll.

Es geht vielmehr darum, dass Ihnen Gottes Geheimnis einleuchtet,

von dem Paulus spricht:

„Lass dir an meiner Gnade genügen;

denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig” (2.Korinther 12,9).


Paulus ist schwach und ängstlich,

weil er so Gottes Geist nicht im Wege steht.

Mit anderen Worten:

Es sind nicht seine Klugheit,

sein Wissen, seine Beredtsamkeit,

die seine Worte zu einer Predigt machen.

Es sind auch nicht sein Vorbild,

sein gutes Beispiel, sein fester Glaube.

Sondern es ist allein Gottes Geist,

der in, mit und unter seinem Wort

Gottes Weisheit hervorleuchten lässt.

So ist das bei jeder Predigerin, bei jedem Prediger.


Wenn Ihnen die Worte der Predigt einleuchten,

wenn aus ihnen Gottes Geheimnis hervorleuchtet,

ist das nicht das Verdienst der Predigt.

Höchstens in so weit,

dass es ihr gelungen ist,

Gottes Geist nicht allzu sehr im Wege zu stehen.


Überspitzt gesagt:

Gottes Geheimnis leuchtet Ihnen nicht wegen der Predigt ein,

sondern trotz der Predigt.

Denn ginge es bei der Predigt bloß ums Verstehen,

um Weisheit und schöne Worte,

dann hätten die Herrscher dieser Welt

den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt.

Das hätten auch sie verstanden,

und dann hätten sie natürlich an Jesus geglaubt.


Das Geheimnis Gottes aber ist unverständlich.

Es ist anstößig und unvernünftig.

Darum kann man es nicht verstehen.

Es kann einem nur einleuchten.

Diese Erleuchtung bewirkt allein Gottes Heiliger Geist.

Diese Erleuchtung bewirkt der Geist bei Ihnen.

Dadurch kommen Sie ins Spiel,

die Hörerinnen und Hörer.

Darum sind Sie als Dritte im Bunde so wichtig,

ja, unverzichtbar für die Predigt.

Nicht, weil der Pastor jemanden braucht, der ihm zuhört.

Sondern weil nur durch Sie Gottes Geheimnis ans Licht kommt.


Als Hörerin oder Hörer der Predigt ist es Ihre Aufgabe,

Gottes Geist wirken zu lassen

oder ihm möglichst nicht im Wege zu stehen.

Man tut das, wenn man in der Predigt auf Gottes Weisheit hört.

Man tut das, indem man in der Predigt Gottes Geheimnis zu finden hofft,

wie man in den Wald geht, um Pilze zu finden

oder im Klee nach einem vierblättrigen Kleeblatt sucht.

Jesus erzählt im Gleichnis von einem Schatz im Acker

und von einer kostbaren Perle,

für die jemand alles gibt, was er hat (Matthäus 13,44-46).

Diesen Schatz, diese Perle gilt es zu finden.

Das heißt nicht, dass man sie in jeder Predigt

und bei jedem Prediger findet.

Aber ohne dieses Bemühen nützt die beste Predigt nichts.

Denn es spielt keine Rolle, wer predigt,

es spielt auch keine Rolle, wie gut oder schlecht die Predigt ist.

Es kommt nur darauf an,

den Geist wirken zu lassen,

der uns Gottes Geheimnis offenbart

und uns erleuchtet.

„Denn der Geist erforscht alle Dinge,

auch die Tiefen der Gottheit.”

Amen.


_____

*) Ich verwende hier und im Folgenden keine inklusive Form, weil ich beim Halten der Predigt als Mann vor der Gemeinde stehe.

Freitag, 7. Januar 2022

anunciaremos tu reino, senor

Predigt am 1. Sonntag nach Epiphanias, 9.1.2022, über Jesaja 42,1-9:

Refrain des Liedes: Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn


Das ist mein Knecht, ich halte ihn.

Mein Auserwählter, an dem ich Gefallen habe.

Meinen Geist gebe ich ihm.

Recht wird er den Völkern schaffen.

Er wird nicht schreien und die Stimme nicht erheben;

seine Stimme wird er nicht draußen hören lassen.

Ein geknicktes Schilfrohr wird er nicht durchbrechen

und einen glimmenden Docht nicht auslöschen.

Zuverlässig schafft er Recht.

Er wird nicht verlöschen und nicht einknicken,

bis er auf Erden das Recht aufgerichtet hat,

und die Inseln warten auf seine Weisung.


So spricht Gott, der Herr,

der den Himmel geschaffen und aufgespannt hat,

der die Erde ausgebreitet hat und ihre Sprösslinge,

der Atem gab dem Volk auf ihr

und den Geist denen, die auf ihr wandeln:

Ich bin der Herr, der dich in Gnaden berufen hat,

und ich ergreife deine Hand

und ich werde dich behüten und dich machen

zum Bund des Volkes, zum Licht der Heiden,

zu öffnen die Augen der Blinden,

herauszuführen den Gefangenen aus dem Gefängnis,

aus dem Kerker die, die in Finsternis sitzen.

Ich bin der Herr, das ist mein Name.

Und meine Herrlichkeit gebe ich keinem anderen

und meinen Ruhm nicht den Gottesbildern.

Da, das Frühere trifft ein,

und das Neue kündige ich an.

Bevor es sprosst, verkündige ich es euch.



Liebe Schwestern und Brüder,


wer ist dieser Knecht, den Gott so gern hat und dem er so viel zutraut?


Uns fällt die Antwort leicht. Vielleicht dachten Sie sogar eben, was soll die Frage, das ist doch klar: Es ist Jesus, von dessen Taufe wir heute im Evangelium gehört haben. Dabei sagte die Stimme vom Himmel genau das, was Gott von seinem Knecht sagt: „Ich habe Gefallen an ihm.”


So eindeutig, wie es auf den ersten Blick scheint, ist es aber doch nicht. Für uns ist es Jesus, von dem hier die Rede ist. Jesaja aber hat diesen Text 500 Jahre vor Christi Geburt geschrieben. Da war von Jesus noch keine Rede. Nun könnte man sagen, Jesaja war doch ein Prophet, der wusste oder ahnte, dass in 500 Jahren einer kommen würde, auf den diese Beschreibung zutrifft. Aber würde es Menschen, die jetzt Ungerechtigkeit erleiden, wirklich trösten, wenn in 500 Jahren einer kommt, der diese Ungerechtigkeit beseitigt? Jesaja dachte offenbar an jemand anderen, an einen Zeitgenossen oder einen, der in naher Zukunft kommt. Aber an wen?


Von einem „Knecht” ist die Rede, nicht von einer Magd. Es wird also ein Mann erwartet. Ein „großer Mann”, darf man wohl ergänzen, denn es waren und sind noch immer die „großen Männer”, auf die sich die Hoffnung auf Veränderung, Verbesserung der Verhältnisse richtet. Ein mächtiger Politiker also, wie Alexander der Große, der die Größe im Namen trägt, Cäsar, Karl oder Friedrich der Große. Einer wie Obama, Trump oder Putin. Große Männer, von denen man große Taten erwartet und von denen solche Taten auch berichtet werden, weshalb ihre Namen im Geschichtsbuch stehen.


Leider stehen bei den großen Namen nicht die Fragen, die Bertolt Brecht einen lesenden Arbeiter stellen lässt:


„Der junge Alexander eroberte Indien.

Er allein?

Cäsar schlug die Gallier.

Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich?

Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte

untergegangen war. Weinte sonst niemand?

Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer

siegte außer ihm?”


Was den Gottesknecht bei Jesaja auszeichnet, sind keine großen Taten, von denen wir in den Geschichtsbüchern lesen. Der Knecht Gottes steht ein für Gerechtigkeit. Ganz behutsam tut er das: Was schon geknickt ist, wird von ihm nicht zerbrochen. Was kurz vorm Verlöschen ist, erhält von ihm nicht den Todesstoß. Er selbst tritt zurückhaltend auf: kein wortgewaltiger Redner, kein Selbstdarsteller, sondern ein leiser Mensch ist er. Damit handelt er ähnlich wie Gott, der nicht mit Blitz und Donner kommt wie der Zeus der Griechen oder der Jupiter der Römer. Sondern in einem stillen, sanften Sausen begegnet (1.Könige 19,12) oder im Wunder eines Dornbusches, der nicht verbrennt (2.Mose 3,2).


Auch von Gottes Sohn wird erzählt, dass er kein Großer im Sinne großer Männer war, sondern, wie Bertolt Brecht dichtete,


„leicht war

Gesang liebte

Arme zu sich lud

und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben

und einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit.”


Aber, wie gesagt, von Jesus wusste Jesaja noch nichts.


Wer ist er dann, dieser Gottesknecht, der so behutsam ist, der das Recht aufrichtet, die Augen der Blinden öffnet und die Gefangenen befreit?


Einen Hinweis, wer es ist, gibt uns, für wen der Gottesknecht Recht schafft: für die Völker. Damit sind die Gojim gemeint, die Nichtjuden. Denn die Juden kennen Gottes Gebot und wissen, was Recht ist und was Gott von uns fordert, nämlich:


„Gottes Wort halten

und Liebe üben

und demütig sein vor deinem Gott.” (Micha 6,8)


Die Nichtjuden, die Gojim, die Völker, wissen das nicht. Was an dieser Stelle wie an vielen Stellen der Bibel, auch bei Jesaja, durchscheint, ist, wie eng in der Bibel Glaube und Gerechtigkeit verbunden sind.

Für unser Empfinden ist Glaube eine sehr persönliche Angelegenheit. Eine Privatsache, die nicht auf die Straße, in die Öffentlichkeit gehört, wo Recht und Gerechtigkeit zuhause sind.

Der Theologe Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher hat den Glauben deshalb ein Gefühl genannt. Das stimmt wohl auch mit unserem Empfinden überein: Wir sagen, wir sind „ergriffen” vom Glauben. Ergriffenheit ist ein tiefes, bewegendes Gefühl.


Schleiermacher geht noch einen Schritt weiter, er sagt: Wir fühlen unsere Abhängigkeit, wenn wir glauben. Unsere Abhängigkeit von Gott. Diese Abhängigkeit beschreibt die Geschichte vom Vater, der Jesus um Heilung für seinen Sohn bittet und dabei ausruft: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben!” (Markus 9,24) Der Vater, der alles versucht hatte, um seinem Sohn zu helfen, und der erfahren musste, dass auch die Ärzte und Fachleute und auch die Jünger Jesu das Kind nicht heilen konnten, erkennt, dass wir das Wesentliche, das Entscheidende nicht selbst tun können und dass wir sogar den Glauben von Gott bekommen müssen. Wir sind ganz und gar abhängig von Gott - schlechthin abhängig, sagt Schleiermacher. Wenn wir diese Abhängigkeit erkennen und akzeptieren, glauben wir - und werden erst dadurch wahrhaft frei.


Denn wahre Freiheit ist nicht, was der Neoliberalismus vertritt und was die Querdenker fordern: Tun und lassen zu können, was man will, ohne Rücksicht auf andere zu nehmen.


Wahre Freiheit ist die Freiheit von Illusionen und Zwängen und Schuld. Wahre Freiheit ist eine Freiheit für: Die Freiheit, nach Gottes Gebot zu leben, Gerechtigkeit aufzurichten und so an Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit mitzubauen.


Ich denke, jetzt wissen Sie, wer der Gottesknecht ist, oder? Es ist kein großer Mann. Es sind alle die, die Gottes Gebot kennen. Alle, die durch den Glauben die Freiheit gewonnen haben, sich nicht nach der öffentlichen Meinung, nach dem Willen eines großen Mannes, einer Partei oder einer Ideologie richten zu müssen. Sondern die allein auf Gott und sein Wort hören. Es sind alle, die an Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit mitbauen. Jesus war so einer. Die Israeliten zur Zeit Jesajas waren solche Leute. Und wir sind so.


Wir sind Gottes Knechte und Mägde, von Gott berufen, von Gott gehalten und von Gott geliebt. Wir treten nicht großspurig auf. Wir kommen nicht groß raus. Vorsichtig schützen wir das Geknickte, bergen die blakende Flamme und treten, wo wir gehen und stehen, für Gottes Willen, für Gottes Gerechtigkeit ein.


Wir sind viele. Wir sind viel mehr, als wir denken. Und wenn auch die großen Männer laut tönen, wenn genagelte Stiefel dröhnend aufs Pflaster schlagen, werden sich doch Gottes Recht und Gottes Gerechtigkeit durchsetzen. Gottes Reich wird kommen. Wir haben unseren Anteil daran, weil wir um Gottes Recht und Gerechtigkeit wissen und weil wir glauben und beten: Dein Reich komme, Herr,

dein Reich komme.