Samstag, 23. Dezember 2017

Von Traum und Wirklichkeit

Predigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2017, über Offenbarung 7,9-17

Der Seher Johannes hat eine Vision vom Ende der Zeiten. Er schreibt:

Ich schaute:
Da, eine große Menge, die niemand zählen konnte.
Aus jeder Volksgruppe, jedem Volksstamm, jeder Nation und Sprache war jemand dabei.
Sie standen vor dem Thron und dem Lamm
und waren mit weißen Gewändern bekleidet.
Palmzweige hielten sie in ihren Händen.
Sie riefen mit gewaltiger Stimme:
„Der Sieg gehört unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm!“
Und alle Engel, die rings um den Thron und die Ältesten und die vier Tiere gestanden hatten,
fielen vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an:
„Amen! Das Lob und die Ehre, die Weisheit und der Dank,
der Ruhm, die Macht und die Stärke gehören unserem Gott
von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“
Und einer der Ältesten sagte zu mir:
„Die mit weißen Gewändern bekleidet sind,
wer sind sie, und woher kamen sie?“
Ich antwortete:
„Mein Herr, du weißt es.“
Und er sagte mir:
„Diese sind aus großem Kummer gekommen.
Sie haben ihre Gewänder gewaschen und geweißt im Blut des Lammes.
Deswegen stehen sie vor dem Thron Gottes
und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel.
Und der auf dem Thron sitzt, wird bei ihnen campen.
Sie werden niemals Hunger oder Durst erleiden,
auch wird die Sonne nicht auf sie fallen noch irgendwelche Hitze,
denn das Lamm, das in der Mitte des Thrones ist, wird sie behüten
und sie führen zu Quellen lebendigen Wassers.
Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.“
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

hier der Stall, die Windeln, das Stroh,
dort ein Thronsaal.
Hier ein paar ärmliche Hirten mit ihren Schafen,
dort eine unzählbare Menge von Leuten in weißen Gewändern,
Engel, Älteste und vier eigenartige Tiere.
Hier das Kind in der Krippe,
dort das Lamm, das die Sünde der Welt trug und nun bei Gott im Himmel ist.

Hier, im Stall, in der Krippe, beginnt es.
Dort, vor dem Thron, bei dem Lamm, endet es.
Dazwischen liegt ein Weg,
auf dem wir das göttliche Kind begleiten,
das viel zu schnell erwachsen wird.
Als Erwachsener wird es Johannes den Täufer treffen,
der in ihm das Lamm Gottes erkennen wird,
das die Schuld der Welt trägt.
Mit der Taufe durch Johannes wird sein Weg
zielstrebig und unaufhaltsam ans Kreuz führen.

So heißt es in einem Weihnachtslied:
„Bald bist du groß, dann fließt dein Blut
von Golgatha herab.
Ans Kreuz schlägt dich der Menschen Wut,
dann legt man dich ins Grab.
Hab immer deine Äuglein zu,
denn du bedarfst der sichern Ruh.
Schlafe, schlafe, Himmelssöhnchen, schlafe.“

I. Von all dem weiß das Kind in der Krippe noch nichts.
Oder ahnt es, welches Schicksal es erwartet?
Schließlich ist es ein besonderes Kind.
Im Evangelium hörten wir:
Es ist das Wort, das im Anfang war;
das Wort, das Mensch wurde und unter uns gelebt hat.

Wir hören es an Weihnachten nicht gern,
und doch ist es unvermeidlich,
dass dieses kleine, hilflose, anrührende Kind in der Krippe
sterben wird - sterben muss,
damit wir leben können.

An Weihnachten möchte man nicht an Passion und Kreuz denken.
Und doch schließt beides quasi unmittelbar an Weihnachten an:
Schon in vierzehn Tagen, am 1. Sonntag nach Epiphanias,
hören wir von der Taufe Jesu im Jordan.
Da beginnt sein Weg, der ihn ans Kreuz führen wird.

An Weihnachten möchte man seinen Frieden haben.
Weihnachten, das sind die wenigen Tage im Jahr,
die etwas vom Paradies ahnen lassen:
Es gibt Geschenke und reichlich zu Essen.
Jede bemüht sich, einigermaßen nett zu sein.
Man spricht nicht über die Arbeit und streitet nicht über Politik.
Der Alltag mit seinem Getriebe und seinen Sorgen steht für drei Tage still.

Aber das ist leider nur eine Illusion.
Auch an Weihnachten wird gestorben, sogar am Heiligen Abend.
Krankenschwestern und Ärztinnen,
Feuerwehr und Polizei sind in Bereitschaft und im Einsatz, wie alle Tage.
Überall auf der Welt geht die Gewalt auch an Weihnachten weiter,
wird geschossen und gemordet, werden Bomben gezündet,
als wolle man sich über das Lied der Engel vom Frieden auf Erden lustig machen.

II. Hier und dort,
Traum und Wirklichkeit.
An Weihnachten begegnen und berühren sie sich.
An Weihnachten hören wir, dass ein Kind ein Wunder-Rat ist,
ein Gott-Held, Ewig-Vater und Friedefürst.
Ein Kind, wohlgemerkt, nicht ein Erwachsener!
Ein Kind, das noch gar keinen Rat geben kann,
weil es noch nichts weiß und noch so viel zu lernen hat.
Ein Kind, in seiner Schwachheit das genaue Gegenteil eines Helden.
So klein und hilfsbedürftig ist es auch das Gegenteil eines Vaters.
Wie soll ein kleines Kind den Frieden bringen?

Es ist unser Sinn für die Realtität,
der solche Feststellungen macht, solche Fragen stellt.
Unser Sinn für Realität, der sofort merkt,
dass das nicht gehen und deshalb nicht stimmen kann.
In der Traumwelt der Geschichte vom Kind,
das ein Rat ist, ein Held, ein Vater und ein Friedefürst,
und in der Vision des Johannes vom Thronsaal und dem Lamm
ist das alles keine Frage:
da ist es Wirklichkeit.

Aber wie kann etwas Wirklichkeit sein, das nur behauptet wird?
Wie kann ein Traum wahr werden?
Zu allen Zeiten haben Menschen geträumt.
Vom Fliegen, zum Beispiel.
Vom Entdecken fremder Länder und Kulturen.
Vom Erklimmen unbesteigbarer Gipfel.
Vom Reisen in die tiefsten Tiefen des Meeres,
zum Mond, oder zu den Sternen.

Menschen haben geträumt von der Befreiung aus der Sklaverei;
davon, als Frau genauso viel zu gelten und tun zu können wie ein Mann;
von der Aufhebung der Rassentrennung,
von Gerechtigkeit, von Frieden, von Reisefreiheit und der Öffnung der Mauer.

Viele dieser Träume gingen in Erfüllung.
Manche sind dabei, sich zu erfüllen.
Bei manchen steht die Erfüllung noch aus.
Kurioserweise sind die Träume, die sich am schwersten erfüllen lassen die,
die eigentlich am leichtesten zu verwirklichen sein sollten:
Die Gleichberechtigung von Frau und Mann.
Die gerechte Verteilung des zum Leben Notwendigen.
Das Ende der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe.
Frieden.

III. Der Seher Johannes träumt vom Ende der Zeiten,
an denen es keine Unterschiede mehr zwischen den Menschen geben wird
und das Evangelium alle Menschen erreicht hat.
Johannes träumt davon, dass Gott alles Leid gestillt
und sogar den Tod besiegt hat.
Gott, und nicht der Mensch mit seinem Erfindungsreichtum,
seinem Drang, jede Grenze zu überwinden und selbst Gott zu spielen.
Und Johannes träumt davon,
dass die Macht sich nicht in den Händen einiger weniger konzentriert,
sondern in der Hand dessen, der allein verantwortungsvoll damit umgeht.

Wir werden nicht erleben, dass diese Träume des Sehers Johannes sich erfüllen.
Zu ihrer Erfüllung können wir auch nichts beitragen.
Wir können das Ende der Zeiten nicht beschleunigen.
Wir wollen das auch gar nicht - dazu leben wir viel zu gern auf dieser Erde.

Es muss Träume geben, die sich nicht erfüllen dürfen.
Es sind Träume, die uns, unserem Willen und unseren Fähigkeiten Grenzen setzen,
indem sie Gott vorbehalten, was nur Gott allein kann.
Aber wie soll man die Träume unterscheiden?
Woher soll man wissen, welchen Traum wir verwirklichen
und von welchem wir besser unsere Finger lassen sollten?

In den USA hat es Menschen gegeben, und es gibt sie noch,
die der Meinung sind, die Trennung der Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe
sei von Gott so gewollt, und Gott habe die weiße Rasse bevorzugt
und zur Herrschaft über die Schwarzen bestimmt.
Diese Leute würden sagen,
dass der Traum von der Aufhebung der Rassenschranken
sich erst am Ende der Zeiten verwirklichen wird.

Würden Sie zustimmen?
Was wäre Ihr Kriterium?
Woran würden Sie erkennen, ob ein Traum verwirklicht werden kann
oder besser ein Traum bleibt?

Für den Seher Johannes ist das Kriterium die Reinheit.
Für ihn bedeutet sie die Vergebung von Schuld.
Die weißen Gewänder, die Reinheit symbolisieren,
dürfen diejenigen tragen, deren Sünden vergeben wurden.
Die Sündenvergebung - das ist das eigenartige Bild
vom Waschen der Gewänder im Blut des Lammes.
Man könnte meinen, Johannes hätte keine Ahnung vom Wäschewaschen.
Blut gehört zu den Flecken, die am schwersten rausgehen.
Aber das Blut des Lammes ist kein Waschmittel im herkömmlichen Sinn.
Damit ist der Tod Jesu am Kreuz gemeint.
Der Tod, der alles von uns abgewaschen hat,
was uns von Gott und unseren Mitmenschen trennt.

Das Kriterium, ob man einen Traum verwirklichen sollte oder nicht,
ist also die Aufhebung jeder Trennung.
Die Sünde, also die Trennung zwischen Gott und Mensch,
kann nur Gott aufheben.
Aber das, was uns Menschen voneinander trennt, zu beseitigen,
das liegt in unserer Macht.
Es liegt durchaus in unserer Macht,
die Träume vom Ende aller Rassenschranken,
vom Ende der Ungleichheit der Geschlechter,
vom Ende der Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich
nicht nur zu träumen,
sondern auch Wirklichkeit werden zu lassen.

IV. Hier die Wirklichkeit,
dort der Traum - oder ist es andersherum?
Ist nicht der Gedanke, dass alle Menschen gleich viel wert sind,
viel realer, viel wirklicher als die Ungleichheit, die wir erleben,
weil er gerecht ist?
Ist die Vision des Johannes, dass es keinen Hunger, keinen Durst mehr gibt
und dass Gott alle Tränen abwischen wird,
nicht viel realer als die oft leidvolle Wirklichkeit,
weil sie Trost spenden kann?
Und ist das Angebot von Gottes Vergebung nicht viel realer
als die Schuld, die wir uns selbst zuschreiben,
als unser schlechtes Gewissen
und als all die Bewertungen und Urteile, denen wir uns ausgesetzt sehen,
weil es uns frei macht,
unsere Träume zu leben und wahr werden zu lassen?

Real, wirklich ist nicht nur das, was man sehen und anfassen kann.
Real, wirklich ist das, was uns real werden lässt:
Was uns zu den Menschen werden lässt,
die wir nach Gottes Willen sein sollten.

V. Da liegt es, das Kindlein, auf Heu und auf Stroh.
Ahnt es das Schicksal, das ihm bevorsteht?
Dass sein Weg es ans Kreuz führen wird,
damit es zum Lamm Gottes wird,
das alle Trennungen aufhebt?

Sein Weg ist dort am Kreuz nicht zuende.
Nach Karfreitag kommt Ostern.
Wie mitten im kalten Winter
das Licht der Engel aufstrahlt,
die die Geburt des göttlichen Kindes verkündigen,
so strahlt am Ostermorgen das Licht der Auferstehung.

Auf dieses Licht gehen wir zu.
Es macht unseren Weg hell
und hilft uns, zwischen den Träumen zu entscheiden
und aufzuheben, was uns Menschen voneinander trennt.

Ich sehe dich mit Freuden an

Predigt am Heiligen Abend, 24.12.2017, über Jesaja 9,1-6:

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht,
und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.
Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude.
Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte,
wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.
Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter
und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians.
Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht,
und jeder Mantel, durch Blut geschleift,
wird verbrannt und vom Feuer verzehrt.
Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben,
und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter;
und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst;
auf dass seine Herrschaft groß werde
und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich,
dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit
von nun an bis in Ewigkeit.
Solches wird tun der Eifer des Herrn Zebaoth.
(Übersetzung: Luther 1984)

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist schon ein paar Jahre her - sieben, um genau zu sein -,
dass Thilo Sarazzin mit seinem Buch
„Deutschland schafft sich ab“ für große Aufregung sorgte.
Er vertrat in diesem Buch die ziemlich altbackene Meinung,
dass die Jugend von heute die alten Werke und Werte nicht mehr kenne
und dadurch die deutsche Kultur über kurz oder lang verschwinden würde.
Er machte das am Beispiel des wohl bekanntesten Goethe-Gedichtes fest,
„Wanderers Nachtruh“:
Über allen Gipfeln ist Ruh
über allen Wipfeln spürst du
kaum einen Hauch;
die Vöglein schweigen im Walde.
Warte nur, balde ruhest du auch.
Dieses Gedicht ist so bekannt, weil es so schön kurz und leicht zu merken ist.
Wenn man es auswendig lernt, kann man sagen:
„Ich kann auch was von Goethe!“
und wird damit sofort zum Kulturträger und guten Deutschen.
Für uns ist es auch deshalb besonders,
weil Goethe es quasi um die Ecke geschrieben hat,
an die Wand eines Jagdhäuschens auf dem Kickelhahn.

Aber unter dem Titel „Wanderers Nachtruh“ gibt es noch ein zweites Gedicht,
das Goethe vor dem Gedicht auf dem Kickelhahn geschrieben hat
und das noch schöner ist als „Über allen Gipfeln ist Ruh“,
weil es vom Frieden handelt.
Es geht so:
Der du von dem Himmel bist
alles Leid und Schmerzen stillest,
den, der doppelt elend ist,
doppelt mit Erquickung füllest,
ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all der Schmerz und Lust?
Süßer Friede,
komm, ach komm in meine Brust!
Den Anfang dieses Gedichtes hat Goethe übrigens von Zinzendorf geklaut:
„Der du in dem Himmel bist“ ist die erste Zeile
seines Vaterunser-Liedes aus dem Gesangbuch der Brüdergemeine.

I. Wenn das Kennen, besonders das Auswendigkönnen von Gedichten
ein Zeichen von Kultur, gerade unserer deutschen Kultur sein soll,
warum wird dann ausgerechnet Goethe immer als „deutscher Dichter“ angeführt?
Es gibt ja doch jede Menge andere Dichterinnen und Dichter deutscher Sprache,
angefangen bei Walter von der Vogelweide
hin zu Paul Celan, Else Lasker-Schüler und Hilde Domin,
die man auswendig lernen und damit seine Bildung zeigen kann.
Und auch Jesaja ist ein Dichter gewesen -
wir haben sein wunderschönes Gedicht vorhin gehört.
Zugegeben, Jesaja war nicht Deutscher, sondern Israeli.
Aber Luther hat sein Gedicht so meisterlich ins Deutsche übertragen,
dass man es gut neben die Gedichte von Schiller oder Goethe stellen kann.

Wie Goethes Gedicht „Der du von dem Himmel bist“
spricht auch Jesajas Gedicht vom Frieden.
Anders als dem Gedicht Goethes geht es Jesaja nicht um inneren Frieden,
den Seelenfrieden.
Der Friede, den Jesaja besingt, ist der, den auch wir zuerst meinen,
wenn wir von Frieden sprechen:
Das Ende des Krieges.
Das Ende von Gewalt, Zerstörung, Vertreibung, Hass und Blutvergießen.
Und zwar ein solches Ende,
dass Friede nicht die kurze Phase zwischen zwei Kriegen ist,
sondern dass der Krieg selbst vernichtet wird.
Oder, wie Jesaja es an anderer Stelle sagt,
dass die Menschen „nicht mehr lernen, Krieg zu führen“ (Jesaja 2,4).
Denn die Knobelbecher, mit denen die Soldaten marschieren,
und ihre blutbespritzten Mäntel werden verbrannt.
Sie stehen für all das Kriegsgerät,
das wir erfunden haben, um einander zu töten
und das, was Menschen aufgebaut haben, zu zerstören.
Es wird vernichtet.
Schwerter werden zu Pflugscharen
und Spieße zu Winzermessern umgeschmiedet (Jesaja 2,4).
Es setzt nicht mehr der Stärkste seinen Willen durch.
Nicht mehr der, der die geringsten Skrupel
oder die dickste Keule hat,
sondern Recht und Gerechtigkeit setzen sich durch.
Recht und Gerechtigkeit machen keinen Unterschied;
niemand wird bevorzugt, und niemand benachteiligt.
Darum ist keine Gewalt mehr nötig,
denn jede kommt zu ihrem Recht;
jeder bekommt, was ihm zusteht und was er braucht.

II. Jesaja hat ein Friedensgedicht geschrieben,
das man sogar singen kann wie unsere Weihnachtslieder.
Georg Friedrich Händel hat es in seinem „Messias“ vertont.

Aber ein Gedicht, ein Lied ist nicht „wahr“ in dem Sinne,
dass es von etwas Wirklichem berichtet.
Der Wunsch nach Frieden, den Jesaja in Worte fasst,
hat sich nie verwirklicht.
Bis heute knallen Stiefel aufs Pflaster;
noch heute weigert sich die Bundesregierung,
dem Verbot von Atomwaffen beizutreten,
weil die Androhung von Gewalt und totaler Vernichtung,
die sogenannte „Abschreckung“,
ein wesentlicher Teil unserer Sicherheitspolitik ist.

Das Gedicht, das Lied ist trotzdem wahr.
Denn es singt von einer Sehnsucht, die wir alle kennen
und die wir wohl alle teilen.
Wie oft findet man seine Empfindungen,
seine Freude, seinen Kummer,
seine Angst oder seine Verzweiflung
in Gedichten und Liedern ausgedrückt.
Sie verleihen unseren Empfindungen die Worte,
die uns in diesem Moment fehlen.
Wenn wir sie nachsprechen oder mitsingen,
sprechen und singen wir uns von der Seele,
was uns belastet oder erfüllt.

III. Aber was kann ein Gedicht, kann ein Lied gegen die Gewalt ausrichten?
Ein Gedicht wie „Wanderers Nachtruh“ lässt sich nicht brüllen
wir der Slogan „Wir sind das Volk!“;
damit lässt sich niemand beeindrucken oder gar einschüchtern,
wie es Neonazis tun, die „Ausländer raus!“ skandieren
und in Springerstiefeln und militärischer Kleidung auftreten.
Die Worte Jesajas nimmt niemand ernst,
der auf körperliche Stärke,
auf die Macht der Waffen und der Abschreckung vertraut.

Gewalt ist oft das erste, was einem einfällt,
wenn man selbst Gewalt erlebt:
wenn man sich in der Klemme fühlt,
wenn einem jemand weh tut, gemein ist oder gemeine Dinge sagt.
Schon im Kindergarten wird gehauen, geschubst und gestoßen.
Noch immer „rutscht“ manchem Vater, mancher Mutter die Hand aus,
wie man so fein die Ohrfeige oder schlimmeres umschreibt.
Neben der körperlichen Gewalt, die weh tut und erniedrigt,
gibt es noch die, die man nicht sieht und die meist noch schlimmer ist:
Die seelische Gewalt, das Kleinmachen und Schlechtmachen;
das Mobbing, das Lästern und die üble Nachrede;
ein „Das lernst du nie!“ oder „Du bist aber auch zu nichts zu gebrauchen!“

Gewalt ist oft das erste, was einem einfällt.
Aber sie ist nicht das einzige.
Wenn man erkannt hat, dass man auf Gewalt oft automatisch mit Gewalt reagiert,
sieht man, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, auf Gewalt zu antworten:
- man geht weg;
- man spricht an, dass der andere einen verletzte;
- man holt sich Beistand.

Gewalt ist oft das erste, was einem einfällt.
Aber wir können auch ganz anders sein:
mitfühlend, zärtlich und liebevoll.
Wir können Gedichte schreiben, fast so schön wie Goethe,
oder uns über die Worte eines Gedichtes oder Liedes freuen,
über die Schönheit einer Blüte, eines Dinges, einer Landschaft.

Eine Freude, die man auch empfindet,
wenn man ein kleines Kind ansieht.
Ein Baby weckt die besten Eigenschaft in einem Menschen.
Man kann nicht anders, man muss es anlächeln.
Man schmilzt beim Anblick eines Babys dahin,
wird ganz vorsichtig, sanft, liebevoll und behutsam.

IV. Darum kommt Gott als Kind zur Welt.
Darum singt Jesajas Gedicht davon,
dass der Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater und Friedefürst ein Kind ist:
Weil ein Kind uns tatsächlich friedlich macht;
einem Baby gegenüber sind wir unfähig zur Gewalt.

Und Jesus, der für uns dieses wunderbare Kind ist,
von dem der Prophet Jesaja erzählt,
hat diese Gewaltlosigkeit gelebt:
Er wehrte sich nicht.
Er vergalt nicht Gleiches mit Gleichem.
Er setzte der Gewalt die Liebe entgegen.

Damit konnte er nicht gewinnen.
Denn die Gewalt ist immer stärker als alles Schöne, Lebendige, Kleine und Zarte.
Es braucht nur eine winzige Bewegung der Hand,
um eine Blüte abzureißen,
einen Käfer zu zerdrücken
oder ein Buch zu verbrennen.

Trotzdem halten wir an der Liebe fest.
Trotzdem glauben wir, dass Gottes Liebe stärker ist als die Gewalt,
weil Jesus, die Mensch gewordene Liebe Gottes,
auferstanden ist und lebt.
Die Gewalt konnte die Liebe nicht wirklich besiegen.

Für viele ist das bloß ein Märchen aus uralten Zeiten,
das heute niemand mehr glauben kann.
Aber für uns ist es Poesie.
Es ist wahr, auch wenn die Nachrichten uns täglich eines anderen belehren.
Es ist wahr, auch wenn man uns mit Terror und Gewalt einschüchtern kann,
wenn wir Angst vor Menschen haben, die aggressiv auftreten,
die brüllen und marschieren und martialische Kleidung tragen.

Es ist wahr, weil wir wissen, dass es wahr ist.
Wir haben es gespürt und am eigenen Leibe erfahren,
wenn wir einem Baby ins Gesicht sahen
und nicht anders konnten, als in Liebe zu zerfließen;
wenn wir laut mitsagen bei Händels „Messias“,
beim „Christ ist erstanden“ am Ostermorgen.
Wir haben es gespürt und erfahren,
als wir auf den Montagsdemos vor den Kirchen den Uniformierten gegenüberstanden,
mit nichts bewaffnet als dem Licht der Kerzen,
oder beim Singen von „We shall overcome“ auf der Friedensdemo.

Wir wissen, dass diese Worte wahr sind.
Und deshalb werden sie wahr, durch uns.
Diese Worte tun, was auch der Anblick eines Babys tut:
Sie wecken unsere besten Eigenschaften.
Sie eröffnen uns die Möglichkeit,
anders zu handeln, anders zu reagieren als mit Gewalt.

V. Ja, es stimmt: Wir sollten alle mehr Gedichte lernen!
Wir sollten ständig umgeben sein von Poesie,
wir sollten uns umgeben mit Liedern, die von Frieden singen,
wie die Weihnachtslieder es tun.

Mit ihnen verbreiten wir Licht in dieser dunklen Nacht,
in dieser dunklen Welt.
Mit ihnen verbreiten wir Hoffnung,
dass es einen echten Frieden geben wird
und nicht nur eine Pause zwischen zwei Kriegen.
Mit ihnen verbreiten wir den Glauben,
dass es anders geht als mit Gewalt,
und dass es besser geht ohne Gewalt.

Darum will ich schließen mit einem Weihnachtsgedicht eines anderen „großen“ deutschen Dichters, Bertold Brecht:
Die Nacht ihrer ersten Geburt war
kalt gewesen. In später Jahren aber
vergaß sie gänzlich
den Frost in den Kummerbalken und rauchenden Ofen
und das Würgen der Nachgeburt gegen Morgen zu.
Aber vor allem vergaß sie die bittere Scham,
nicht allein zu sein,
die dem Armen eigen ist.
Hauptsächlich deshalb
ward es in späteren Jahren zum Fest, bei dem
alles dabei war.
Das rohe Geschwätz der Hirten verstummte.
Später wurden aus ihnen Könige in der Geschichte.
Der Wind, der sehr kalt war,
wurde zum Engelsgesang.
Ja, von dem Loch im Dach, das den Frost einließ, blieb nur
der Stern, der hineinsah.
Alles dies
kam vom Gesicht ihres Sohnes, der leicht war,
Gesang liebte,
Arme zu sich lud
und die Gewohnheit hatte, unter Königen zu leben
und einen Stern über sich zu sehen zur Nachtzeit.

Donnerstag, 21. Dezember 2017

Dazugehören

Predigt am 3. Advent, 17. Dezember 2017, über Römer 15,4-13:

Alles, was in der Schrift steht,
wurde zu unserer Unterweisung geschrieben,
damit wir Hoffnung haben durch Geduld und den Trost der Schrift.
Gott, der Geduld und Trost schenkt, gebe euch,
dass ihr untereinander nach dem Vorbild Christi Jesu eines Sinnes seid,
damit ihr einmütig und einstimmig Gott loben könnt,
den Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Darum gewährt euch gegenseitig Gemeinschaft,
wie der Messias euch mit ihm Gemeinschaft gewährte, zu Gottes Lob.

Ich bekenne:
Christus wurde ein Diener der jüdischen Gemeinde
um Gottes Wahrheit willen,
um die Verheißungen an die Väter zu bekräftigen.
Und er wurde ein Diener der Gojim, der Nichtjuden,
um der Barmherzigkeit willen,
um Gottes Güte zu preisen, wie geschrieben steht
(Psalm 18,50; 2.Samuel 22,50):
„Deshalb werde ich dich unter den Gojim bekennen,
deinem Namen werde ich Lobgesänge anstimmen.“

Weiter heißt es (5.Mose 32,43):
„Freut euch, ihr Gojim, mit Gottes Volk!“

Und weiter (Psalm 117,1):
„Preist den Herrn, alle Gojim,
und alle Völker sollen ihn loben!“

Weiter heißt es bei Jesaja (11,10):
„Es wird kommen die Wurzel Jesse;
er wird aufstehen, um über die Gojim zu herrschen;
auf ihn werden die Gojim hoffen.“

Gott, der Hoffnung schenkt,
erfülle euch durch den Glauben mit aller Freude und allem Frieden,
damit ihr zunehmt an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

gehöre ich dazu?
Das ist eine Frage, die man sich von Kindesbeinen an stellt.
Nicht jede und jeder stellt sich diese Frage.
Vielen ist es selbstverständlich, dazuzugehören:
Zur Dorfgemeinschaft.
Zur Kirchgemeinde.
Zum Verein.
Zur Mannschaft.
Zum Volk.
Zu den Guten.
Zu denen, die Recht haben.

Oft sind es die Wortführer und Anführer,
für die es keine Frage ist, ob sie dazugehören.
Sie entscheiden darüber, ob eine andere dazugehören darf
und was man erfüllen muss, um dazuzugehören.

Gehöre ich dazu?
Manche beantworten diese Frage mit Nein,
weil sie merken, dass man sie ausschließt.
Weil sie „Zugezogene“ sind, die man duldet,
vielleicht sogar herzlich willkommen heißt.
Denen man aber zu verstehen gibt,
dass sie nie „eine von uns“ sein werden.

Dann gibt es noch einige Wenige,
die wollen gar nicht dazugehören.
Die wollen anders sein und sind stolz darauf,
die Punks zum Beispiel.
Ihr Stolz hat ihre Enttäuschung abgelöst und überwunden,
dass sie nicht dazugehören durften,
dass man sie nicht so akzeptierte, wie sie waren.

Und schließlich gibt es noch eine vierte Gruppe:
Sie sind der Meinung, sie sollten diejenigen sein,
die bestimmen dürfen, wer dazugehört.
Sie müssen aber feststellen,
dass sie von den Politikern und den Medien nicht gefragt werden.
Es sind die, die von sich selbst sagen:
„Wir sind das Volk!“,
Es sind die, die nicht wollen, dass Menschen zu uns kommen,
die anders sind als sie.

I
Gehöre ich dazu?
Wir Menschen sind soziale Wesen.
Wir leben in Gemeinschaften.
Es ist für uns lebenswichtig, dazuzugehören.
Jede und jeder braucht einen Kreis von Menschen,
zu denen sie oder er gehört:
Eine Familie.
Einen Freundeskreis.
Eine Gemeinschaft.
Eine Gemeinde.

Als Christen ist es für unseren Glauben entscheidend,
dass wir zu Gottes Volk gehören.
Denn nur, wenn wir tatsächlich Gottes Volk sind,
dürfen wir die Verheißungen der Bibel auch auf uns beziehen;
dürfen wir uns angeredet fühlen
von den Worten der Psalmen und der Propheten.

Die Christenheit hat die Frage, ob wir dazugehören,
in den vergangenen 2.000 Jahren
sehr selbstbewusst mit „Ja!“ beantwortet.
Sie hat sich als Erbin der Verheißungen Gottes
an sein Volk Israel verstanden,
war sogar der Meinung,
diese Verheißungen Gottes wären
von den Menschen jüdischen Glaubens an die Christen übergegangen.
Deshalb wurden Jüdinnen und Juden vom Mittelalter bis in die Neuzeit gerade von Christen so grausam, blutig und erbarmungslos verfolgt.
Erst der alles Vorstellbare übersteigende Schrecken des Holocaust
hat Christen zum Nachdenken über unser Verhältnis
zu den Menschen jüdischen Glaubens gebracht,
über unsere Versäumnisse und unsere Schuld ihnen gegenüber.
Und über die Schriften, die wir von ihnen übernommen
und die wir mit ihnen gemeinsam haben.

Dieses Nachdenken hat die Synode unserer Landeskirche
im November vergangenen Jahres zu dem Beschluss geführt,
sich zu distanzieren von allen Versuchen,
die Verwerfung Israels theologisch zu begründen,
und sich zu distanzieren von allen Versuchen,
Menschen jüdischen Glaubens zu einer Konversion zu bewegen.

Mit anderen Worten:
Die Synode hat anerkannt, dass Menschen jüdischen Glaubens
nach wie vor Gottes erwähltes Volk sind und bleiben.
Sie brauchen nicht, wie wir, den Glauben an Christus,
um zu Gottes Volk zu gehören.
Sie gehörten schon vor uns dazu, allein durch Abstammung und Geburt.
Und wir gehören nur dazu, solange sie dazugehören.
Denn wenn Gottes Bund mit seinem Volk nicht mehr gilt,
dann können wir Nichtjuden
keine der Verheißungen der Bibel mehr auf uns beziehen.

II
Jesus war Jude.
Seine Nachfolgerinnen und Nachfolger waren Juden.
Auch Paulus war Jude.
Als die ersten Gemeinden entstanden,
die Jesus von Nazareth als den Messias annahmen,
kam niemand auf die Idee,
die gute Nachricht vom Messias Jesus anderen Menschen
als denen jüdischen Glaubens zu erzählen.
Erst Paulus entdeckte, dass durch Jesus auch die Gojim, die Nichtjuden,
eine Chance erhielten, zu Gottes Volk zu gehören.
Deshalb erzählte er auch Menschen von Jesus,
die sich für den jüdischen Glauben interessierten,
aber nicht jüdischer Abstammung waren.

Man nannte diese Leute Phoboumenoi, Gottesfürchtige.
Sie hielten sich zur Synagoge, nahmen regelmäßig am Gottesdienst teil,
aber gehörten nicht dazu, weil sie keine jüdische Mutter hatten.
Manche scheuten auch den Schritt,
den der Übertritt zum jüdischen Glauben bedeutete:
Das Halten der Gebote,
was sich zum Beispiel im koscheren Essen zeigte,
und bei den Männern die Beschneidung.

Am Anfang gab es heftige Auseinandersetzungen darüber,
ob der Glaube an Jesus, den Messias, auch Gojim offen stand.
Man stritt darüber, wie Menschen, die keine Juden waren,
zum Volk Gottes gehören konnten,
und ob die, die zum Glauben gekommen waren,
nun alle Gebote halten mussten
- auch die Speisegbote und die Beschneidung.
Paulus vertrat damals eine Minderheitsmeinung
mit seinem „beschneidungsfreien Evangelium“;
er verkündigte, dass jede zu Gottes Volk gehören konnte, die glaubte;
dass man sich nicht beschneiden lassen
und keine Rücksicht auf Speisevorschriften nehmen müsse,
weil der Glauben allein alle Gebote erfüllt.

Paulus berief sich dabei auf die Schrift,
wie er es auch in unserem heutigen Abschnitt tut.
Der Glaube, den Paulus vertritt, ist also Auslegungssache:
Aus seinem Bibelverständnis, seiner Schriftauslegung gewonnen.

Jeder Glaube ist Auslegungssache, auch unserer.
Wir lesen in der Bibel und legen sie in unsere Zeit, in unsere Situation aus.
Darum verändert sich der Glaube ständig.
Darum konnte Martin Luther vor 500 Jahren die bahnbrechende Entdeckung von der Rechtfertigung allein aus Glauben machen.
Und darum können wir heute sagen,
dass Luther mit seinen judenfeidlichen Schriften
den Menschen jüdischen Glaubens seiner Zeit
schweres Unrecht zugefügt hat,
dass er ihnen gegenüber seine reformatorische Entdeckung
und seine eigenen Glaubensmaßstäbe verraten hat.

Darum können wir heute gleichgeschlechtliche Partnerschaften segnen,
was für Paulus noch undenkbar gewesen wäre,
und uns dafür entscheiden,
Menschen jüdischen Glaubens nicht mehr dadurch zu bedrängen,
dass wir ihnen zu verstehen geben, ihr Glaube sei nicht richtig.

III
Ja, aber wenn der Glaube ständigen Veränderungen ausgesetzt ist,
wird dann nicht alles beliebig?
Kann dann nicht jeder glauben, was er will?

Die Grundlage unseres Glaubens ist nicht die Schrift,
sondern Jesus, das eine Wort Gottes,
das für uns über und hinter allen Worten der Schrift steht.
An seiner Barmherzigkeit, seiner Liebe messen wir unseren Glauben.
Da, wo unser Glaube Menschen ausschließt,
ihnen einen Mangel andichtet, Unterschiede macht,
da ist er kein Glaube, wie Jesus ihn uns vorgelebt hat.
Es ist mir ein Rätsel, wie in der Zeit des Nationalsozialismus
Pfarrer und Gemeinden verdrängen konnten,
dass Jesus, ihr Herr, ein Jude war wie die,
die an ihren Kirchen vorbei zur Ermordung geführt wurden.

Auch für Paulus ist Jesus der Schlüssel zur Schrift,
Er bezeichnet ihn als die Bestätigung der Verheißungen Gottes.
Jesus hat also nicht etwas Neues gebracht,
nicht den Gott Israels abgelöst
und damit das Judentum und das Alte Testament hinter sich gelassen.
Er hat es vielmehr bekräftigt:
Israel ist Gottes auserwähltes Volk,
und was Gott verheißen hat,
das beginnt, durch Jesus Wirklichkeit zu werden.

Für Paulus werden die Verheißungen Gottes dadurch wahr,
dass auch die Gojim zum Glauben kommen.
Das ist für ihn ein unglaubliches Wunder,
ein Grund, Gott zu danken und zu loben.
Darum zitiert er vier Stellen aus jedem Teil der hebräischen Bibel,
aus der Tora, den Psalmen und den Propheten.
Diese Stellen sagen voraus, was einst geschehen wird:
Einst werden auch die Gojim an den Gott Israels glauben.
Paulus erkennt, dass diese Verheißungen Wirklichkeit werden.
Wie Jesus sieht er das Reich Gottes nahe herbeigekommen.

IV
Vor 2.000 Jahren verkündigte Jesus:
„Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“.
Fast ebenso lange sieht Paulus die Verheißungen der Schrift erfüllt.
Aber seitdem ist nichts passiert.
Jesus ist nicht wiedergekommen.
Die Welt hat sich nicht verändert.
Sie ist noch genauso, wie sie zur Zeit Jesu und zu Paulus‘ Zeit war -
sie ist womöglich noch schlimmer und erbarmungsloser geworden,
auf jeden Fall viel schmutziger und viel bedrohter.

Aber vielleicht irren wir uns,
wenn wir eine katastrophale Veränderung erwarten,
eine Veränderung mit Pauken und Trompeten.
Jesus hat nicht gesagt:
„Das Reich Gottes ist da!“, sondern:
„Es ist nahe herbeigekommen“.
Als Christinnen und Christen leben wir in der Erwartung,
dass etwas Neues im Kommen ist, wir leben im Advent.
Dieses Kommende Neue verändert uns und unsere Welt schon jetzt.
Wenn Paulus schreibt, dass Jesus um der Barmherzigkeit willen
„ein Diener der Gojim wurde“,
dann verwirklicht sich dadurch,
was auch die Evangelien an unzähligen Stellen berichten:
Dass Jesus keinen Unterschied zwischen den Menschen macht,
dass er zu jeder und jedem geht,
auch zu denen, deren Ruf ruiniert ist.
Jesus geht gerade zu denen,
die nicht dazugehören,
mit denen niemand etwas zu tun haben will:
Zu Prostituierten und Kollaborateuren;
zu Menschen mit ekligen, ansteckenden Hautkrankheiten;
zu Verrückten, Kranken, Besessenen;
zu Menschen, die aus der Gemeinde und der Gemeinschaft geflogen sind.

Paulus möchte mit unserem Predigttext erreichen,
dass wir Dankbarkeit dafür empfinden,
dass auch wir dazugehören dürfen;
dass auch wir Menschen sind, zu denen Jesus gehen würde.
Wir sind nicht an Israels Stelle getreten,
sondern Christus hat uns eingeladen,
mit Gottes Volk Israel gemeinsam an einem Tisch zu sitzen.
Wir dürfen dazugehören, auch wenn wir eigentlich nicht dazugehören.
Gott macht da keinen Unterschied.
Und deshalb sollen auch wir keinen Unterschied machen:
„gewährt euch gegenseitig Gemeinschaft,
wie der Messias euch mit ihm Gemeinschaft gewährte“.

V
Darum feiern wir Advent,
und darum gehört dieser so wenig weihnachtlich wirkende Text
in die Adventszeit:
Advent, auf Lateinisch: Ankunft, erinnert uns daran,
dass etwas Neues im Kommen ist.
Und dass dieses Kommende Neue dann anbricht,
wenn wir aufhören, Unterschiede zu machen
zwischen Einheimischen und Fremden,
zwischen Hiesigen und Zugezogenen,
zwischen Drinnen und Draußen,
Gut und Schlecht, Weiß und Schwarz, Deutschen und Ausländern.

Das Kennzeichen der Gemeinde ist,
dass sie jeder und jedem Gemeinschaft gewährt,
wer sie oder er auch sei,
woher sie oder er auch kommt.

Nicht, weil jemand nett ist,
weil ich jemanden mag,
weil jemand etwas für die Gemeinde tut,
oder weil jemand Geld für die Kirche gibt.

Sondern weil auch uns Gemeinschaft gewährt wurde,
und weil wir dafür dankbar sind.

Amen.

__________
N.B. Mit dieser Predigt habe ich mich im Rahmen einer Benehmensherstellung den Kirchengemeinden Dillstädt, Kühndorf und Rohr vorgestellt. 
Deshalb veröffentliche ich sie erst nachträglich.

Freitag, 15. Dezember 2017

Ein Kind ist ein Geschenk

Kurzansprache zum Krippenspiel

Advent war die Zeit des Wartens.
Heute hat das Warten endlich ein Ende!
Heute weiß jedes Kind, worauf wir so lange gewartet haben:
Auf die Bescherung

Endlich die Geschenke überreichen
und das Leuchten in den Augen sehen,
das Glück erleben, den anderen überrascht zu haben
ihr eine Freude gemacht zu haben
einen Wunsch erraten und erfüllt zu haben

Endlich die Geschenke auspacken
Sich überraschen lassen
Die Hoffnung, dass das Gewünschte, Ersehnte dabei ist

Wir warten
Gleich ist es soweit

Viele warten schon lange
und mit der Bescherung heute Abend wird das Warten nicht zuende sein
Sie warten auf
- Besuch/ ein Ende ihrer Einsamkeit
- einen Studienplatz
- den Erfolg ihrer Bewerbung
- eine Operation
- einen Menschen, der sie liebt/ den sie lieben können
- Glück, zB einen Lottogewinn

Manche warten, ohne genau sagen zu können, worauf
- das sich etwas ändert
- dass da noch irgendwas kommt im Leben
- eine Aufgabe, einen Sinn im Leben

Das Warten hat ein Ende:
„Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben.“
Ein Kind ist ein Geschenk.
Das wird jede Mutter, jeder Vater,
jede Oma und jeder Opa sofort bestätigen.
Ein Kind ist das größte Geschenk, das es gibt.

Aber warum ist es ein Geschenk?
Ein Kind „gehört“ uns Eltern ja nicht - im Gegenteil!
Alles, was wir für unsere Kinder tun,
sollen ihnen helfen, dass sie sich selbst gehören können:
dass sie eines Tages ihren eigenen Weg gehen,
ihr eigenes Leben leben können.

Trotzdem bekommt man mit einem Kind etwas geschenkt,
was etwas ganz Großartiges ist, und was alles verändert:
Man wird Mutter, man wird Vater.

Ich bin eine Mutter - ich bin ein Vater:
das sind Gedanken, die einem Flügel wachsen lassen.
Schönere und bessere Flügel, als „Red Bull“ sie verleiht.
Weil es Flügel sind, die bleiben.
Ganz nebenbei wächst einem auch das eine oder andere graue Haar,
und auch das bleibt -
das sind die Nebenwirkungen, die einem vorher keiner verrät.

Mutter oder Vater sein verändert einen Menschen.
Plötzlich hat man Verantwortung.
Plötzlich ist es nicht mehr egal,
ob man alles erledigt hat
wann man aufsteht,
ob man Mittag isst oder nicht.
Man muss für sein Kind da sein, rund um die Uhr.
Man ändert sich auch innerlich.
Wird geduldig. Liebevoll.
Lernt zu respektieren, dass das Kind ein eigener Mensch ist
mit einem eigenen Kopf, eigenen Ideen.
Man ist stolz auf sein Kind.
Man freut sich mit ihm, wenn ihm etwas gelingt,
wenn es sprechen lernt, laufen lernt, Radfahren, schreiben, lesen …
Und man leidet mit ihm, wenn es krank wird,
wenn es sich das Knie aufschlägt
oder Ärger mit seinen Freunden hat …

Jetzt, an Weihnachten, schenkt Gott uns seinen Sohn.
Wir werden alle Mütter und Väter von Jesus.
Wir sind für ihn verantwortlich.
Er verändert uns, auch innerlich.

Jesus hat vor langer Zeit gelebt.
Und doch steckt etwas von ihm in jedem Kind.
In jedem Kind begegnet uns Jesus,
nicht nur an Weihnachten.
Darum können wir das,
was wir für unsere eigenen Kinder tun,
auch für andere Kinder tun -
egal, woher sie stammen,
welche Hautfarbe sie haben,
woran ihre Eltern glauben oder nicht glauben,
welche Sprache sie sprechen.
Und weil Kinder groß werden, so wie wir,
begegnet uns Jesus nicht nur in den Kindern,
sondern in jedem Menschen.
Das ist das Wunder der Weihnacht:
Dass Gott Mensch wird
und wir deshalb in jedem Menschen Gott begegnen können,
wenn wir uns anderen gegenüber genauso liebevoll,
respektvoll und geduldig verhalten wie gegenüber unseren Kindern.