Samstag, 30. Oktober 2021

Freiheit, die ich meine

Predigt zum Reformationstag, 31. Oktober 2021, über Galater 5,1-6

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!”

Liebe Schwestern und Brüder,

Freiheit! Welch großes Wort! Welch großartiges Wort auch. Unter allen Gütern wohl das Höchste und Begehrteste.

Freiheit bedeutet, tun, denken und sagen zu können, was man will; nicht tun, nicht denken, nicht sagen zu müssen, was man nicht will. Freiheit bedeutet, nicht eingeschränkt zu werden und sich nicht einschränken zu müssen, bedeutet weiten Horizont, unbegrenzte Möglichkeiten, Raum zur Entfaltung.
Das ist das Ideal von Freiheit. Das wäre Freiheit, wenn man der einzige Mensch auf Erden wäre.

So fühlte sich Adam, bevor es Eva gab. Adam fühlte sich auch sehr einsam, ohne Eva. Er sehnte sich nach einem Gegenüber. Doch schon mit einem anderen, zweiten Menschen - auch wenn es diese oder dieser eine andere ist, den man über alles liebt und mit dem man sein Leben teilen möchte -, schon mit einem zweiten Menschen stößt die eigene Freiheit an die Freiheit der oder des anderen.

So ist jede Beziehung auch ein Prozess des Aushandelns von Spielräumen: Wie weit kann ich gehen, ohne deine Freiheit einzuschränken? Wie weit kannst du gehen, ohne meine Freiheit einzuschränken? Eine Beziehung erfordert Kompromisse: Der Preis der Zweisamkeit ist die Einschränkung der Freiheit.

Man kann es auch positiv formulieren: Wer nicht allein sein möchte, geht auf einen anderen Menschen zu. Im Zugehen auf die andere, den anderen verlässt man den eigenen Raum, die eigenen Möglichkeiten, den eigenen weiten Horizont zugunsten eines gemeinsamen Raumes, neuer, gemeinsamer Möglichkeiten, eines neuen, gemeinsamen Horizontes. Man gibt nicht nur Freiheit auf, man gewinnt auch neue, gemeinsame Freiheiten.

Nun leben wir nicht nur in Zweierbeziehungen. Wir leben auch in Gruppen, in Gemeinden, in einer Gesellschaft, also mit einer großen Anzahl von Menschen in unterschiedlichen Konstellationen mehr oder weniger dicht zusammen. Unsere Freiheit stößt dabei an viele andere Freiheiten und findet an ihnen ihre Grenze.

So dürfen wir z.B. nicht mit 100 Stundenkilometern durch die Ortschaft rasen. Die überwiegende Mehrheit sieht ein, dass das eine richtige und wichtige Einschränkung unserer Freiheit ist. Manche möchten sogar, dass man zukünftig nur noch mit 30 Stundenkilometern statt mit 50 durch den Ort fahren darf, weil sich dadurch die Zahl der Unfälle um 2/3 verringern würde. Darüber verhandeln wir miteinander. Wenn sich eine Mehrheit für diese neue Grenze findet, wird sie eingeführt. Das ist Demokratie: Die Beschneidung der Freiheiten Einzelner zugunsten der Freiheit aller.
Wer zu denen gehört, die sich deswegen einschränken müssen, mag sich ärgern oder gar aufregen. Aber meistens sieht man doch ein, dass die Einschränkung sinnvoll und begründet ist.

Freiheit ist also nie absolut. Solange man mit anderen zusammenlebt - und das ist auf unserer Erde die einzige Möglichkeit, zu leben - müssen Freiheiten untereinander ausgehandelt werden. Dieses Aushandeln von Freiheiten nennt man auch Politik: Menschen versuchen, ihre Freiheiten durchzusetzen oder zu verteidigen und tun sich mit denen zusammen, die dieselben Freiheitsinteressen haben. Denn eine Gruppe ist stärker als ein*e Einzelne*. In einer Gesellschaft hätte man als Einzelne* kaum eine Chance, die eigene Freiheit zu verteidigen oder durchzusetzen.

Auch im Glauben geht es um Freiheiten, die ausgehandelt werden müssen. Neben den Freiheiten der Menschen untereinander sind es unsere Freiheiten gegenüber Gott. Alles, was in der Bibel unter dem Stichwort „Sünde” firmiert, ist im Grunde die Frage, wo meine Freiheit mit der Freiheit Gottes in Konflikt gerät. 

Hier schafft eine Gemeinde Sicherheit. Mit ihren Traditionen eröffnet sie einen Handlungsspielraum, der sich bereits bewährt hat. Indem sie festlegt, was man darf oder nicht darf, was man tun oder lassen muss, bietet sie die Gewähr, dass man auf dem richtigen Weg ist, solange man in der Gemeinde bleibt und sich an die Regeln hält.
Was aber passiert, wenn jemand neue Regeln einführt - oder gar Regeln, die „immer schon” galten, außer Kraft setzt?

Die ersten Christen waren Jüdinnen und Juden, wie auch Paulus ein Jude war. Sie waren Mitglieder einer jüdischen Gemeinde. Dann gab es Nichtjuden, die sich zur jüdischen Gemeinde hielten, aber den letzten Schritt, den Übertritt, nicht gehen konnten oder wollten. Gerade unter ihnen gewann Paulus viele Anhängerinnen und Anhänger. Unter ihnen erhob sich die Frage, ob man Christin sein könne, ohne Jüdin oder Jude zu sein. Ist man auch dann ein Kind Gottes, wenn man nicht zu Gottes erwähltem Volk gehört? Kurz: Wird man von Gott erwählt, auch wenn man nicht die Voraussetzungen zur Erwählung, das Halten der Gebote, erfüllt? In diesem speziellen Fall: Muss man als Mann beschnitten sein, um zur Gemeinde zu gehören?

Paulus predigte eine neue Gotteskindschaft, die nicht im Halten der Gebote bestand, sondern im Glauben an Christus. Nicht nur, wer sich den Geboten, also auch der Beschneidung, unterwarf, gehörte zur Gemeinde. Auch, wer an Christus glaubte, gehörte dazu, ohne dass er oder sie ein einziges Gebot erfüllte.
Der Glaube an Christus reichte aus - sola fide, und solus Christus. Christus, der stellvertretend für uns die Gebote erfüllt hatte, sodass wir das nicht mehr tun mussten. Das war damals eine neue, aufregende Idee - so wie Luthers Rückbesinnung auf Paulus und seine Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben allein eine neue, aufregende Idee war.

Diese neue Idee spaltete die Gemeinden, obwohl das weder Paulus', noch später Luthers Absicht war. Man musste sich zu dieser Idee verhalten, konnte ihr nicht neutral gegenüberstehen. Die einen nahmen sie begeistert auf: Gotteskindschaft ohne Beschneidung:  Darauf hatten sie so lange gewartet! Es waren die, die bisher nicht zur Gemeinde gehörten. Nichtjuden. Und Frauen.
Andere waren verunsichert: Wie konnte, was über Generationen richtig war, und worauf sich Eltern, Großeltern und Vorfahren verlassen hatten, plötzlich nicht mehr richtig sein, nicht mehr gelten?
Unter diesen Zweiflern gab es die, die dem Neuen nicht trauten. Sie wagten es nicht, sich auf diese neuen Ideen zu verlassen, die von vielen Alten, Erfahrenen abgelehnt wurden und die so vielem widersprachen, was man gelernt hatte.
Und es gab die Pragmatiker, die zweigleisig fuhren: Das Neue tun und das Alte nicht lassen. So konnte einem nichts passieren, man stand man auf jeden Fall auf der richtigen Seite.

Gerade gegen diese Pragmatiker wendet sich Paulus. Sie verzichten auf die neu gewonnene Freiheit, wenn sie weiter dem Judentum angehören wollen, und verspielen damit die Freiheit,  die nur der Glaube an Christus schenkt. Denn Glauben bedeutet, sich allein auf Christus zu verlassen, ohne Absicherung, ohne Netz und doppelten Boden. Nur, wer die Sicherheiten und alten Bindungen aufgeben kann, findet die Freiheit, die der Glaube schenkt. Solange man am Alten festhält, kann man den Schritt zum Neuen hin nicht gehen - im Gegenteil: Man bleibt dem Alten verpflichtet und muss nach seinen Regeln leben.

Die Freiheit, die der Glaube an Christus schenkt, macht darum einsam, indem sie aus den alten, gewohnten Bindungen löst. Aus den Unfreiheiten, an die man sich gewöhnt hatte und die scheinbar zum Leben gehörten. Doch sie führt in eine neue Gemeinschaft. Die Gemeinschaft derer, die aus der selben Freiheit leben und die anderen ihre Freiheit lassen können. Für den christlichen Glauben ist es gleichgültig, wie man sich kleidet, was man isst, wen man liebt. Für den christlichen Glauben liegt die Grenze der Freiheit nicht in Äußerlichkeiten, sondern in der Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen, und in der Barmherzigkeit. 

Liebe und Barmherzigkeit bestimmen die Grenzen meiner Freiheit. Und weil Liebe und Barmherzigkeit die Grenzen setzen, schränken sie meine Freiheit nicht ein. Vielmehr eröffnen sie mir neue Freiheiten: Mit anderen entdecke ich neue Räume, neue Möglichkeiten und mache mich auf zu neuen Horizonten.

Samstag, 23. Oktober 2021

Um des lieben Friedens willen

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2021, über Matthäus 10,34-39

Liebe Schwestern und Brüder,

das Gegenteil von Frieden ist? Krieg - so jedenfalls versteht man gemeinhin das Wort „Frieden”: Frieden ist die Abwesenheit von Krieg. Wo aber kein Friede herrscht, da gehen Menschen aufeinander los. Mit der Drohung des Krieges im Hinterkopf wird Frieden gefordert, auch da, wo gar kein Krieg herrscht. Meine Oma z.B. seufzte jedesmal, wenn wir Geschwister uns stritten: „Könnt ihr nicht einmal Frieden halten!?” Für sie war unser Streit eine Störung ihrer Ruhe, ihres Friedens.

Auch wer „um des lieben Friedens willen” nachgibt, steckt ja nicht sein Messer weg oder begräbt das Kriegsbeil. Man verzichtet nur auf den Streit, auf die Auseinandersetzung, wer recht hat. Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Frieden ist auch, wenn kein Streit herrscht. 

Wenn Frieden mit der Abwesenheit von Streit gleichgesetzt wird, bekommt jeder Streit einen  Beigeschmack von etwas Schlimmem, weil immer auch der andere Gegensatz von Krieg und Frieden mitschwingt. Dann wird aus einer Meinungsverschiedenheit, einer Auseinandersetzung darum, was wahr oder richtig ist oder was jetzt zu tun wäre unter der Hand ein Kampf auf Leben und Tod. Und das will ja keiner.

Deshalb ist Streiten so verpönt, ist uns der Friede heilig in der Familie, im Freundeskreis, in der Gemeinde. So heilig, dass wir alle Unterschiede - die es ja gibt und die sich gar nicht vermeiden lassen, wenn verschiedene Menschen zusammen leben - zudecken und unter den Teppich kehren. Aber unterschiedliche Meinungen und Lebensweisen lassen sich nicht verdrängen. Sie wollen heraus, sie  müssen heraus, weil man sonst daran erstickt. Aber man will auch keine Unruhestifter:in sein. Man will nicht diejenige sein, die den Frieden stört.

Vielleicht wird deshalb so viel getuschelt und hinter dem Rücken über andere geredet, statt mit ihnen zu reden. Vielleicht bewegen wir uns deshalb nur noch in unserer „Bubble”, der Blase von Gleichgesinnten, in der man sich nicht mit anderen Meinungen auseinandersetzen muss.

Aber leider ist man nicht einmal in der eigenen Blase, im eigenen Freundeskreis oder der Familie vor Streit sicher:
„Ich bin gekommen,
den Menschen zu entzweien mit seinem Vater
und die Tochter mit ihrer Mutter
und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.”

Jesus, so scheint es, trägt den Streit in die Familien. Dabei ist das gar nicht nötig: Es knallt oft genug zwischen Eltern und Kindern. Gelegenheiten dazu finden sich immer, und sie brauchen gar nicht groß  zu sein: Die Unordnung im Zimmer, die Leistungen in der Schule, politische  Meinungsverschiedenheiten oder einfach die Frage, wer recht hat, bieten immer wieder einen Anlass.

Immer wieder stellen die Erwachsenen dabei fest, dass ihre Kinder so ganz anders ticken als sie. Während die Jugendlichen daran verzweifeln, dass die Erwachsenen scheinbar nicht begreifen können oder wollen, warum sie sich nicht so verhalten können, wie die es von ihnen erwarten. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Bewegung „Fridays for Future”: Viele Erwachsene sehen darin nichts als Schuleschwänzen und halten die Ängste und Befürchtungen, die die Jugendlichen formulieren, für übertrieben.

Es ist wohl immer wieder so, dass Jugendliche erleben müssen, dass ihre Ängste und Befürchtungen von den Erwachsenen nicht ernst genommen werden. Das war vor 40 Jahren auch nicht anders, als wir Angst vor einem Atomkrieg hatten und vor dem Waldsterben durch den „sauren Regen”. Auch vor einem Klimawandel wurde damals, Anfag der 80er Jahre, schon gewarnt. Aber die Erwachsenen meinten, wir würden übertreiben, und außerdem würden wir die Zusammenhänge nicht durchschauen und sollten erst einmal so alt werden wie sie.

Und die Jugendlichen? Damals wie heute blieb ihnen nur, nachzugeben - um des lieben Friedens willen - oder mit dem Elternhaus zu brechen. Aber diesen Schritt wagten und wagen nur Wenige.

Umso erstaunlicher, dass Jesus diese Konsequenz von seinen Anhänger:innen fordert:
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich,
der ist meiner nicht wert;
und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich,
der ist meiner nicht wert.”

Jesus erwartet von seinen Anhänger:innen Konsequenz, er erwartet, dass sie Rückgrat zeigen und zu ihm stehen. Das haben in den Anfängen der Christenheit viele Gläubige so verstanden, dass sie sich zu ihrem Glauben um jeden Preis bekannten, selbst, wenn ihnen dadurch Lebensgefahr drohte. So sind viele für ihr Bekenntnis zu Christus ermordet worden. Sie wurden zu Märtyrer:innen, die man wegen ihres Mutes verehrte und zu Vorbildern für die anderen Gläubigen machte.

Aber ich fürchte, die Märtyrer haben Jesus missverstanden. Jesus verlangt von uns nicht, dass wir unser Leben opfern und für unseren Glauben sterben. Jesus hat sich gerade deshalb für uns geopfert und ist am Kreuz gestorben, damit wir keine Opfer mehr bringen müssen, damit wir uns nicht mehr opfern müssen, und auch andere nicht.
Das Rückgrat, das Jesus verlangt, erwartet er an anderer Stelle. Er selbst hat viele Beispiele dafür gegeben, wenn er Kranke am Sabbat heilte oder seine Jünger in Schutz nahm, die am Sabbat arbeiteten, indem sie Ähren rauften, um die Körner essen zu können.

Jesus erwartet von seinen Anhäner:innen, dass sie den richtigen Zeitpunkt zum Handeln, den kairos, nicht verpassen. Natürlich hätten die Kranken auch an einem anderen Tag geheilt werden, die Jünger hätten den Gürtel enger schnallen und aufs Essen verzichten können. Aber Jesus will keine Opfer, sondern Barmherzigkeit. Er will, dass geholfen wird, wenn geholfen werden kann - und dass Menschen nicht auf später vertröstet werden.

Um der Liebe Christi willen sollen wir nicht vorübergehen, wenn wir Hilfe leisten könnten. Das kann bedeuten, dass wir jemanden verteidigen, die oder der angefeindet wird, oder uns wenigstens abwenden, wenn andere lästern.
Das kann bedeuten, dass wir Hilfe anbieten, wenn wir sehen, dass sie jemand nötig hat, oder wenigstens unsere Nachbarin fragen, wie es ihr geht.
Das kann auch bedeuten, dass wir für unser Klima auf eine Flugreise verzichten, oder wenigstens die Jugendlichen ermutigen und unterstützen, wenn sie für eine Zukunft unseres Planeten auf die Straße gehen.
Es kommt dabei nicht auf die Größe der Tat an, sondern darauf, dass wir sie tun und nicht um des lieben Friedens willen tatenlos bleiben.

Der Friede, den Jesus bringt, ist nicht die Abwesenheit von Krieg oder Streit. Er ist eine Atmosphäre der Liebe, der Barmherzigkeit, die jedem Menschen seine Würde und seinen Platz zum Leben lässt. Die anderen nicht Angst macht, sondern Ängste und Sorgen ernst nimmt und teilt und die Ursachen dafür beseitigen will. 

Diesen Frieden bringt uns Jesus, wenn wir es wagen, in seinem Sinne zu handeln.

Amen.


Samstag, 16. Oktober 2021

Denk an deinen Gott!

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 17. Oktober 2021, über Kohelet 12,1-7


Liebe Schwestern und Brüder,

„Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat! Denk an ihn in deiner Jugend, bevor die Tage kommen, die so beschwerlich sind!”

An Jugendliche wendet sich der Prediger. An junge Leute, die ihr Leben noch vor sich haben. Sie strotzen vor Kraft, sind voller Energie und Tatendurst. Sie fürchten keine Herausforderung, haben keine Angst vor Veränderungen, sind neugierig auf Unbekanntes. Ist man jung, denkt man nicht ans Altwerden. Das Leben liegt vor einem als weite, unübersehbare Fläche Zeit, fast eine Ewigkeit.

So waren wir auch mal. Doch mit den Jahren ist die Kraft geschwunden. Die Neugier auf das Neue ist nicht mehr so groß wie früher. Wir kennen unsere Grenzen; auf manchmal schmerzliche Weise haben wir sie erfahren. Die weite Fläche Zeit ist zusammengeschrumpft, schneller, als wir es uns versahen. Noch ist sie wie ein großer Acker, dessen Ende man nicht sieht. Aber wir wissen inzwischen: Er hat eins, und wir gehen darauf zu.

Jeder Mensch muss das Altwerden erleben und erleiden. Erleben, dass die Wächter des Hauses, die Arme, zu zittern anfangen, und die starken Männer, die Beine, sich krümmen. Die Müllerinnen, die Zähne, fallen aus. Zum Glück setzt der Zahnarzt neue ein, sodass die Müllerinnen auch im Alter noch arbeiten können. Die Frauen, die durch die Fenster schauen, die Pupillen, werden im Alter kurz- oder weitsichtig oder vom Grauen Star heimgesucht. Auch dagegen gibt es Abhilfe. Ebenso kann man die beiden geschlossenen Türen, die zur Straße führen, die Ohren, wieder gängig machen. Nur die Stimme - das Geräusch der Mühle - wird immer klappriger.

„Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreißt!”

Unser Leben ist endlich. Während es einem als Kind und junger Mensch auch vorkommt, als würde man ewig leben, blickt man im Alter auf mehr Jahre zurück, als man noch vor sicht hat. Immer öfter und immer stärker wird einem bewusst, dass die Lebenszeit begrenzt ist. Man wird vielleicht nicht alles zuende bringen, was man beginnt.

Bei solchen Gedanken kann man melancholisch werden und mit dem Prediger feststellen: „Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind!”, denn die Zeit zerrinnt uns zwischen den Händen; wir können nichts festhalten. Es erscheint einem alles sinnlos. Wozu ist man da, wenn doch nichts bleibt außer einem Windhauch?

Der Prediger, so pessimistisch und zuweilen zynisch er auch ist, lässt uns dennoch nicht mit diesen düsteren Gedanken allein. Seine Mahnung: „Denk an deinen Gott!” will uns aus dem Grübeln herausreißen, in das der Prediger selbst uns versetzt hat.

„Denk an deinen Gott!” Vordergründig lenkt diese Aufforderung ab, bringt einen auf andere Gedanken. Damit das funktioniert, muss Gott für uns ein Thema sein. Darum heißt es: „Denk an deinen Gott!” Wenn Gott uns nichts bedeuten würde, wenn wir keine Beziehung zu Gott hätten, würde uns die Aufforderung nichts nützen. Dann könnte der Prediger auch sagen: „Denk an einen rosa Elefanten!” - ein netter Versuch, uns abzulenken, aber keine Hilfe.

„Denk an deinen Gott!” Was bewirkt das Denken an Gott? Zweierlei. Etwas nach innen, und etwas nach außen. Nach innen erinnert es uns daran, dass Gott der Schöpfer ist. Gott hat uns das Leben geschenkt. Gott verdanken wir, was wir haben und sind. Das schmälert nicht unsere Lebensleistung. Aber es erinnert uns daran, dass es auch ganz anders hätte kommen können. Dass unser Geburtsort, unsere Herkunft, unsere Erziehung nicht unser Verdienst sind, sondern ein Geschenk, für das wir dankbar sein dürfen.

Ebenso sind unsere Handicaps, sind die Steine, die uns in den Weg gelegt wurden oder die wir uns selbst in den Weg legten, ist das, worunter und woran wir leiden nicht unsere Schuld, schon gar keine Strafe, sondern ebenso unverdient wie das Glück. Dieses Glück hat Gott auch denen zugedacht, die in ihrem Leben zu wenig davon erfahren haben.

Die Erinnerung an Gott, der uns geschaffen und unser Leben gewollt hat, ruft uns ins Gedächtnis, was Gott über seine Schöpfung sagte: „Siehe, es war sehr gut.” Gott findet uns gut. Nicht eine ideale, perfekte Version von uns, die wir nie erreichen können und werden. Sondern uns so, wie wir sind. Mit allen Augenringen und Falten, allen Ängsten und Fehlern. Gott findet uns nicht nur gut so, wie wir sind - Gott liebt uns sogar. Liebt uns über alle Maßen. So sehr, dass sein Sohn für uns sein Leben opferte, damit wir leben können und keine Angst haben müssen vor dem Verrinnen der Zeit, vor den Lasten des Alters. Und auch nicht vor dem Tod.

Wenn wir an Gott denken, erinnern wir uns daran, dass wir gut genug sind, und dass wir geliebt werden. Das kann uns trösten und ermutigen, wenn das Verrinnen der Zeit uns mutlos macht. Das ist die Wirkung nach innen.

„Denk an deinen Gott!” An Gott zu denken hat auch Wirkungen nach außen. Es ruft uns in Erinnerung, was Gott für uns möchte: Dass wir die Liebe, mit der Gott uns liebt, an andere weitergeben. Dass wir die Note „Sehr gut”, die Gott uns und seiner Schöpfung gibt, auch anderen geben. Nicht, weil wir das Recht hätten, andere zu beurteilen. Sondern weil Gottes „Sehr gut” uns die Schönheit und Güte seiner Schöpfung erkennen lässt. Eine Schönheit und Güte, die jedes Lebewesen besitzt, wenn man nur hinsieht.

So bleibt unser Leben sinnvoll auch im Alter, selbst, wenn wir gebrechlich werden. Denn hinsehen können wir selbst dann noch - und es anderen zeigen, dass wir sie sehen. Durch ein Lächeln. Durch unsere Aufmerksamkeit, unser Interesse. Durch Mitgefühl und Freundlichkeit. Wenn wir das tun, erhalten wir etwas zurück: Einen Dank. Ein Lächeln. Anerkennung.

Und damit schließt sich der Kreis. Dank, Anerkennung, Freundlichkeit wirken nach innen.  Sie vertreiben das Gefühl der Melancholie, der Sinnlosigkeit. Sie machen uns glaubhaft, wovon Gott uns überzeugen will: Dass wir gute, liebenswerte Menschen sind.

Amen.

Samstag, 2. Oktober 2021

Verbundenheit

Predigt an Erntedank, 3. Oktober 2021, über 2.Korinther 9,6-15

Liebe Schwestern und Brüder,

„kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.” Ich weiß nicht, ob Sie diesen Spruch kennen. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob es gut ist, diesen Spruch zu kennen; er hat ein ziemliches „Geschmäckle”.

Denn wenn man tatsächlich mit jemandem befreundet ist, braucht man diese Erinnerung nicht. Geschenke sind ein Ausdruck der Zuneigung, der Wertschätzung. Guten Freunden gibt man nicht bloß ein Küsschen, man möchte ihnen auch eine Freude machen, ihnen zeigen, dass sie einem viel bedeuten. Darum schenkt man ihnen etwas, auch wenn sie gerade nicht Geburtstag haben.

Wenn es aber keine Freunde sind, denen man etwas schenkt, bekommt das Geschenk ein Geschmäckle: Will sich da jemand anbiedern, sich Freundschaft quasi erkaufen? Will er durch das Geschenk eine Verbindlichkeit schaffen, sodass man dem Schenkenden einen Gefallen schuldet? Oder geht es gar um Bestechung? Geschenke, die nicht von Herzen kommen, die nicht im Rahmen einer Freundschaft  überreicht werden, machen zu recht misstrauisch: Was führt die Geberin, der Geber damit im Schilde?

II

Paulus sammelt bei der Gemeinde in Korinth Geld für eine Kollekte, die er der Gemeinde in Jerusalem schenken will. Nach Jesu Tod und Auferstehung sind die Jünger in Jerusalem geblieben. Um sie herum hat sich die erste Gemeinde gebildet. Und weil es die Gemeinde der Jünger war - derer, die Jesus persönlich gekannt hatten -, war sie die wichtigste und maßgebliche. 

Die Gemeinden, die Paulus in Handelsstädten wie Korinth, Ephesus oder Thessaloniki gegründet hatte, waren größer als die in Jerusalem, und viel wohlhabender. Aber Paulus war kein Jünger der ersten Stunde. Und er wich in wichtigen Glaubensfragen von der jerusalemer Gemeinde ab. Bei ihm durften auch Nichtjuden zur Gemeinde gehören, und er legte keinen Wert auf die Befolgung jüdischer Rituale und Gebote wie das der Beschneidung.
Paulus predigte Freiheit, auch von den Traditionen der Vorväter und von dem, was man gemeinhin als nötig für den Glauben ansah.

Wollte Paulus sich durch die Kollekte bei der Jerusalemer Gemeinde anbiedern? Wollte er erreichen, dass sie seinen Sonderweg akzeptierten und anerkannten? Das hatte Paulus gar nicht nötig. Er war so sehr davon überzeugt, dass er Jesus richtig verstanden hatte, dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, andere um Erlaubnis oder Zustimmung zu bitten, nicht einmal die Jünger.

III

Trotzdem ist es Paulus wichtig, einen guten Draht zu der jerusalemer Gemeinde zu halten. Auch wenn seine Gemeinden anders glauben und anders leben als die Gemeinde der Jünger, will er die Verbindung nach Jerusalem erhalten und pflegen. Er sammelt eine Kollekte ein, um sie als Zeichen des guten Willens und der Verbundenheit zu übergeben. Und weil die Jerusalemer das Geld dringend brauchen.

Offenbar sehen die Korinther nicht so recht ein, warum sie eine Gemeinde, die sie gar nicht kennen, mit ihrem Geld unterstützen sollen. Paulus muss ihnen jedenfalls mächtig um den Bart gehen, um sie zum Spenden zu überreden. Dabei trägt er ganz schön dick auf:
„Euer Einsatz bei diesem Projekt zeigt, dass ihr in eurem Glauben bewährt seid, und dafür werden die, denen ihr dient, Gott preisen. Sie werden ihn dafür preisen, dass ihr euer Bekenntnis zum Evangelium von Christus ernst nehmt und eure Verbundenheit mit ihnen und allen anderen auf eine so großzügige und uneigennützige Weise zum Ausdruck bringt. Und wenn sie für euch beten, werden sie das voll Sehnsucht nach euch tun, weil Gott seine Gnade in so reichem Maß über euch ausgeschüttet hat.”

Wenn man das so hört, ist es fast ein bisschen peinlich. Wie kann eine Spende ein Ausdruck des Glaubens sein? Dazu noch einer, der anderen Respekt und Lob abnötigt?

IV

Es ist nicht bekannt, was aus der Kollekte wurde, die Paulus von den Korinthern erbeten hat. Wurde viel, wurde wenig gespendet? Ist das Geld überhaupt jemals in Jerusalem angekommen? Aber wenn die Kollekte angekommen ist, dann, so bin ich mir sicher, hat sie auch Bewunderung und Dankbarkeit ausgelöst. Denn damit haben die Jerusalemer sicher nicht gerechnet, dass eine Gemeinde, die weit von ihnen entfernt ist, an sie denkt - noch dazu eine Gemeinde, auf die die Jerusalemer sozusagen ein wenig hinuntersahen, weil sie aus Nichtjuden, aus Heiden, bestand. Und die nun der Jerusalemer Gemeinde zeigte, dass sie ihr das nicht übel nahm, dass sie sich um Verbundenheit bemühte und helfen wollte.

Die schreckliche Flutkatastrophe im Ahrtal mit über hundert Todesopfern hat eine große Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Viel Geld ist für die von der Katastrophe Betroffenen gespendet worden. Zu den ersten Spendern gehörten Kirchen aus Afrika. Über 20.000,- Euro haben sie in kurzer Zeit  gesammelt. Das klingt nicht nach viel. Aber wenn man die Wirtschaftsleistung und das  Monatseinkommen in den armen Ländern Afrikas in Betracht zieht, muss man an die Zahl mindestens zwei Nullen anhängen; und dann ist es eine ganz beträchtliche Summe.

Was macht diese Spende, die nach unseren Maßstäben vergleichsweise bescheiden ist, so besonders? Von Afrika aus gesehen ist Deutschland sehr weit weg. Dazu ist es ein ungleich viel reicheres Land, das Hilfe aus Afrika nicht nötig hat - im Gegenteil: Es fließt jedes Jahr ein Vielfaches dieser Spende an Hilfsgeldern und -gütern nach Afrika. Dennoch haben die afrikanischen Kirchen gesammelt und das Geld gespendet. Sie zeigen damit: Wir fühlen mit euch, und wir fühlen uns euch verbunden, über alle Differenzen und über die große Entfernung hinweg. Diese Geste des Mitgefühls und der Solidarität wiegt so viel schwerer als der Betrag der Spende. Sie beeindruckt. Sie macht dankbar. Sie macht Mut.

So ist es ja auch mit Geschenken, die wir erhalten: Spüren wir, dass sie von Herzen kommen, spielen Wert oder Größe keine Rolle. Denn darauf kommt es nicht an, sondern auf die Verbundenheit, die damit zum Ausdruck gebracht wird.

V

Jeden Sonntag sammeln wir eine Kollekte im Gottesdienst. Zweimal im Monat bleibt das Geld nicht in unserer Gemeinde, sondern geht an andere Gemeinden, Einrichtungen oder Projekte - heute, wie jedes Jahr zu Erntedank, an Brot für die Welt. Meistens kennen wir die Empfänger der Spende nicht. Die Empfänger brauchen das Geld - sie planen es in ihren Haushalt ein. Mehr noch als unsere Spende brauchen sie unser Interesse und unsere Verbundenheit.

Nicht für alle Hilfsprojekte kann man Interesse aufbringen, nicht für alle kann man spenden. Es hilft aber schon, von ihnen zu wissen, mit ihnen solidarisch zu sein.

Unser Glaube richtet sich nicht nur nach innen, auf unser persönliches Verhältnis zu Gott. Unser Glaube wendet sich auch nach außen, in Verbundenheit und Solidarität mit anderen Menschen, anderen Gemeinden. Diese Verbundenheit, wenn man sie erlebt, führt zu Dankbarkeit. So, wie man dankbar ist für ein Geschenk, für einen Besuch oder dafür, dass man nicht allein gelassen wurde, als man Hilfe brauchte. Darum leben wir als Christ*innen nicht für uns, nicht in unserem Ort, in unserer Gemeinde allein. Wir leben vernetzt mit anderen Christ*innen in unserer Nachbarschaft, in den Nachbarorten und -gemeinden bis hinaus in die Oekumene, die große, weite Welt. Diese Vernetzung schafft Verbundenheit. Verbundenheit weckt Dankbarkeit. Dankbarkeit stärkt unseren Glauben, und der Glaube verändert uns, verändert die Welt.