Montag, 29. April 2019

Resilienz

Predigt zur Konfirmation am Sonntag Quasimodogeniti, 28. April 2019, über Jesaja 40,26-31:

Hebt eure Augen in die Höhe und seht!
Wer hat dies geschaffen?
Er führt das Heer der Sterne vollzählig heraus
und ruft sie alle mit Namen;
seine Macht und starke Kraft ist so groß,
dass nicht eins von ihnen fehlt.
Warum sprichst du denn, Jakob,
und du, Israel, sagst:
»Mein Weg ist dem Herrn verborgen,
und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber«?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?
Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat,
wird nicht müde noch matt,
sein Verstand ist unausforschlich.
Er gibt dem Müden Kraft,
und Stärke genug dem Unvermögenden.
Männer werden müde und matt,
und Jünglinge straucheln und fallen;
aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.


Liebe Konfirmanden,
liebe Gemeinde,

wer hat ihn sich nicht schon einmal gewünscht,
diesen extra Schub Energie!?
Wenn man nach einer langen, anstrengenden Mountainbike-Tour
gegen den Wind bergauf nach Hause radeln muss;
bei einem Handball- oder Fußballspiel, wenn es aufs Ende zugeht
und man schon so viel gelaufen ist, dass man kaum noch kann,
aber die Mannschaft noch ein Tor braucht oder eines verhindern muss:
da wäre es toll, wenn man plötzlich Flügel bekäme!
Kein Wunder, dass ein bekannter Brausehersteller mit diesem Bild des Propheten Jesaja wirbt.
Im Werbespot sieht man, wie jemand, der zu schlapp ist oder gerade schlapp macht,
nach einem kräftigen Schluck aus der Brausedose plötzlich abhebt.
Ja, das wäre was, wenn einem ab und zu Flügel wüchsen!
Sie wären auch nützlich, wenn man sich ganz schnell aus dem Staub machen muss,
weil man etwas Dummes angestellt hat
oder sich in einer peinlichen Situation befindet.

Aber leider wachsen einem keine Flügel, wenn man sie braucht.
Auch der Schluck aus der Brausedose bringt einem nicht den erhofften Energieschub -
das wäre ja auch Doping, und unfair wäre es auch.

I. Obwohl es nicht der Wirklichkeit entspricht,
ist das Bild des Propheten von den Flügeln, die einem wachsen, eines,
mit dem wohl jede* etwas anfangen kann.
Hin und wieder ist man auf solche Kraftreserven angewiesen
und muss auf sie zurückgreifen - nicht nur beim Sport.
Auch z.B. bei der Kirmes, wenn man nach zu wenig Schlaf
am nächsten Tag wieder fit sein will und muss.
Oder in der Schule, besonders vor einer Klassenarbeit.
Auch in der Familie, im Beruf gibt es Situationen,
wo man letzte Kräfte mobilisieren muss
und einen Energieschub gut gebrauchen könnte.

Und dann gibt es die Härtefälle und Schicksalsschläge im Leben,
die einen von den Beinen holen und auf die Bretter schicken.
Die einem alle Kraft rauben, so dass man nicht weiß,
wie man wieder auf die Füße kommen soll.

Ein solcher Schicksalsschlag geht auch der Geschichte vom Regenbogen voraus,
die ihr vorhin vorgelesen habt.
Gott hatte mit der Sintflut den Reset-Knopf gedrückt
und die Erde auf Werkseinstellung zurückgesetzt:
Es herrschte wieder Tohuwabohu, wie am Anfang.
Das konnte niemand überleben -
bis auf die wenigen Menschen und Tiere,
die mit Noah auf der Arche waren.
Mit ihnen macht Gott einen neuen Anfang.

Was braucht man für einen neuen Anfang?
Was braucht man, wenn man am Boden liegt
und wieder aufstehen will, aufstehen muss?
Eine Dose Brause?

II. Heute ist die letzte Gelegenheit,
euch noch etwas beizubringen,
und ich werde sie schamlos ausnutzen.
Was ich euch heute beibringen will, ist ein Wort:
Resilienz.

Resilienz ist die Fähigkeit, es erneut mit dem Leben aufzunehmen,
nachdem man zu Boden gegangen ist.
Es ist die Fähigkeit, wenn das Leben einem Zitronen gibt,
Limonade daraus zu machen.

Psychologen haben untersucht,
welche Eigenschaften nötig sind,
damit Kinder, die in schwierigen Verhältnissen,
in Armut oder mit Gewalt aufgewachsen sind,
sich aus diesen Verhältnissen befreien
und ein selbstbestimmtes, glückliches Leben führen können.
Bei den Kindern, denen das gelang,
fand man eine innere Widerstandskraft,
die man „Resilienz“ nannte.

Eine solche innere Kraft schenkt einem, wenn es gut geht, die Familie,
schenken Eltern, Geschwister, Großeltern.
Auch Lehrer*innen oder Trainer*innen, wenn sie ein Vorbild sind,
können einem zu Resilienz verhelfen.
Eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Resilienz spielt auch die Religion.
Wer in einer religiöse Gemeinschaft, eine Gemeinde, eingebunden ist,
hat eine größere innere Widerstandskraft als andere, die es nicht sind.
Das leuchtet ein:
Wer sich in einer Gemeinde aufgehoben oder sogar geborgen weiß,
fällt nicht so tief, wenn er mal zu Boden geht.
So jemand findet schnell Menschen, die ihm wieder aufhelfen,
gewinnt Kraft und Mut aus dem Wissen,
dass man an ihn denkt, ihn vermisst, für ihn betet.

III. Der Neuanfang, den Noah nach der Sintflut macht,
beginnt mit einem Gottesdienst.
Er krempelt nicht erst die Ärmel hoch,
baut ein Haus und bestellt den Acker.
Nein, zuerst wird Gottesdienst gefeiert.
Eine Gemeinde entsteht.
Was diese Gemeinde zusammenhält,
ist der Bund, den Gott mit den Menschen unter dem Regenbogen schließt.
Eine Gemeinschaft braucht etwas, das sie verbindet.
Etwas, das selbst resilient ist gegenüber den Wirren des Lebens und des Schicksals.

Eine Familie kann Halt und Geborgenheit geben.
Aber sie kann auch schweren Belastungen ausgesetzt sein,
wenn eine Beziehung zerbricht,
wenn Krankheit oder Sorgen den Alltag bestimmen,
wenn ein geliebter Mensch nicht mehr da ist.

Die Gemeinde gibt Halt und schenkt Geborgenheit,
weil sie nicht abhängig ist von den Leistungen und dem Wohlwollen Einzelner -
auch nicht der Pfarrer*in,
sondern mit Gott im Bunde ist,
der niemals müde und matt wird.

Aber, könnte man jetzt schlau einwenden,
wenn man Kraft und Ausdauer direkt von Gott bekommen kann,
wenn der Glaube Flügel verleiht,
ist die Gemeinde doch nicht nötig!
Dann kann man es sich sparen, sonntags in den Gottesdienst zu gehen
und dort möglicherweise Leute zu treffen,
die nicht zum Freundeskreis gehören.

Die Wissenschaftler, die die Resilienz entdeckten und erforschten,
fanden heraus, dass die eigene Frömmigkeit
keinen Einfluss auf die innere Widerstandskraft hat.
Was zählt, ist nicht die Stärke des eigenen Glaubens,
sondern das Eingebundensein in eine Gemeinschaft.
Auch das leuchtet ein:
Wer gelernt hat, sich mit anderen auseinandezusetzen,
Verschiedenartigkeit und Fremdheit auszuhalten
und es zu ertragen, auch mal neben jemandem zu sitzen,
den man nicht kennt oder mag,
übt damit sozusagen für den Ernstfall.
Und stellt vielleicht überrascht fest,
dass gerade die* für mich da ist, von der* man es am wenigsten erwartet hatte.

IV. Heute sagt ihr ja zu eurer Taufe.
Ihr sagt ja zu Gottes Bund mit euch,
dessen Zeichen der Regenbogen und das Kreuz sind.
Ihr sagt auch ja zur Gemeinde, und sie sagt ja zu euch.
Ihr gehört zur Gemeinschaft der Christ*innen.
Diese Gemeinschaft ist nicht nur die Gemeinde hier in Rohr.
Es ist die landesweite, bundesweite, europaweite, weltweite Gemeinschaft der Christ*innen.
Jede Kirche ist euer Zuhause.
Jede Gemeinde ist eine Gemeinschaft, in der ihr willkommen seid.
Die bereit ist, euch zu tragen und zu unterstützen,
wenn ihr bereit seid, euch auf sie einzulassen.

In der Gemeinde begegnen wir unserem auferstandenen Herrn.
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind,
da bin ich mitten unter ihnen“, sagt Jesus (Matthäus 18,20).
Wo wir uns zum Gottesdienst versammeln, da ist Jesus.
Da gibt Gott „dem Müden Kraft,
und Stärke genug dem Unvermögenden“.
Da lässt er Adlerschwingen entstehen,
mit denen wir über uns hinauswachsen.

Natürlich wachsen uns nicht wirklich Flügel.
Natürlich bekommt man nicht wirklich einen Energieschub,
wie ihn das Brausegetränk verspricht.
Was man im Gottesdienst der Gemeinde findet, ist Resilienz.
Sind Momente der Klarheit, der Schönheit;
des Wissens, dass uns nichts trennen kann von der Liebe Gottes
und dass wir uns deshalb vor nichts und niemandem zu fürchten brauchen.

V. Ihr, liebe Konfirmanden, seid schon eine Weile unterwegs.
Ihr habt einiges geschafft, viel gelernt,
habt viel vor, habt Hoffnungen und Pläne.
Eure Konfirmation heute ist ein kurzer Zwischenhalt auf eurem Weg.
Eine Gelegenheit, eine kurze Pause einzulegen, um sich zu orientieren.
Und um festzustellen, wie viele Menschen euch auf eurem Weg unterstützen
und euch dafür Gutes wünschen:
Eure Familie.
Eure Verwandten.
Eure Freund*innen.
Und auch die Menschen, mit denen ihr hier in Rohr zusammenlebt, die Gemeinde.

Hier, in der Kirche, in diesem Gottesdienst,
wachsen wir alle über uns hinaus.
Hier verleiht Gott uns Flügel.
Hier beschließen wir, bessere Menschen zu werden und zu sein -
auch euch gegenüber.
Hier beschließen wir, toleranter gegenüber euren Macken zu sein;
euch zu helfen und für euch da zu sein;
euch zu akzeptieren, wie ihr seid,
und euch die Chance zu eigenen Fehlern, eigenen Erfolgen, einer eigenen Zukunft zu geben.

Gebe Gott, dass wir unseren guten Willen auch in die Tat umsetzen!
Amen.

Dienstag, 23. April 2019

unerklärlich, aber nicht unvernünftig

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 28.4.2019, über 1.Petrus 1,3-9:

Gott sei gepriesen!
Er ist der Vater unseres Herrn Jesus Christus.
Aus Mitleid machte er uns zu seinen Kindern.
Durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten
dürfen wir auf ein Erbe hoffen,
das nicht verdirbt, rein ist und nicht vergeht;
es wird im Himmel für euch aufbewahrt.
Ihr wurdet durch Gottes Macht bewahrt
und glaubt an die Rettung, die vorbereitet wurde,
um im letzten Augenblick offenbart zu werden.
Dann werdet ihr allen Grund zur Freude haben.
Jetzt seid ihr unter Umständen ein wenig traurig,
weil ihr unterschiedlichen Prüfungen unterzogen werdet,
damit sich die Echtheit eures Glaubens erweist.
Man prüft ja auch das vergängliche Gold durch Feuer;
euer Glaube ist aber viel wertvoller.
Das Ergebnis eurer Prüfung wird euch Lob, Anerkennung und Ehre einbringen,
wenn Jesus Christus erneut erscheinen wird.
Ihn liebt ihr, obwohl ihr ihn nicht gesehen habt.
An ihn glaubt ihr, obwohl ihr ihn jetzt nicht seht.
Ihr werdet mit unaussprechlicher und verklärter Freude jubeln,
weil ihr das Ziel eures Glaubens erlangt habt,
das Seelenheil.


Liebe Schwestern und Brüder,

wozu gibt es Leid in der Welt?
Hat Leiden einen Sinn?
Kann man, soll man durch eine Krankheit, einen Verlust etwas lernen?
Und ist es Gott, der einem diese Lehre erteilt?
Denkt sich Gott etwas dabei, lässt er uns leiden, damit wir etwas lernen?

Sie merken: Wenn man sich solche Fragen stellt und ihnen nachgeht,
gerät man schnell in Teufels Küche.
Auf dem Weg des Fragens nach dem Sinn des Leidens
kommt man dahin, Gott selbst für das Leid verantwortlich zu machen.

Die Hiobsgeschichte trennt da noch fein säuberlich:
Zwar lässt Gott sich vom Satan überreden, Hiob auf die Probe zu stellen.
Das Leiden, das dadurch über Hiob hereinbricht, kommt aber nicht von Gott, sondern vom Teufel.
Das Böse ist an den Satan „outgesourct“,
damit Gott nicht zugleich gut und böse sein muss.
So, wie die Polizei erfolgreich
mit dem „guten Polizisten“ und dem „bösen Polizisten“ operiert,
sodass man quasi Zuflucht nimmt zum „guten Polizisten“,
wenn einen der „böse Polizist“ einschüchtert -
dabei vertreten beide das Gesetz.
Bei Hiob lässt Gott den Satan das Böse tun.
Trotzdem ist er mit schuld an dem, was Hiob widerfährt -
ohne Gottes Zustimmung und Erlaubnis hätte der Satan Hiob nichts antun können.

I. Wenn man davon sprechen will, dass Leiden einen Sinn hat,
kommt man letztendlich dazu, Gott für das Leiden verantwortlich zu machen.
Tatsächlich kann es ein Trost sein,
einen Sinn, eine gute Absicht hinter dem Leid zu vermuten,
sodass man es nicht als sinnloses Wüten eines blinden Schicksals erleben muss,
sondern als einen Weg, der letzten Endes zu etwas Gutem führt,
weil das Leid zu Gottes Plan gehört.
So hat man auch Jesu Leiden am Kreuz zu deuten versucht
als Wiedergutmachung der von uns Menschen begangenen Fehler und Sünden.
Gottes Zorn über unsere Verfehlungen, so lautete die Erklärung,
war so groß, dass er durch nichts beschwichtigt werden konnte,
was Menschen als Kompensation geben oder leisten konnten.
Gott selbst musste seinen Zorn beschwichtigen,
indem sein Sohn stellvertretend für uns litt.

Wenn man das so hört und sich vor Augen stellt,
wird einem erst bewusst, wie eigenartig, ja, wie schrecklich das alles klingt!
Leiden als Mittel, etwas zu lernen?
Das eigene Kind opfern, um den Vater versöhnlich zu stimmen?
In der Geschichte von der Opferung Isaaks jedenfalls
fällt Gott dem Abraham in den Arm,
als er seinen Sohn Gott zuliebe schlachten will.
Kann der Gott Abrahams, der auch der Vater Jesu Christi ist,
seine Meinung so geändert haben,
dass er zwar dem Abraham in den Arm fällt,
den eigenen Sohn aber am Kreuz opfert?

II. Der 1.Petrusbrief spricht von „Glaubensprüfungen“, die seine Leser erdulden müssen.
Damit meint er Situationen,
in denen sie wegen ihres Glaubens angefeindet oder sogar verfolgt werden.
Wenn es nicht selbstverständlich, nicht „normal“ ist, an Gott zu glauben;
wenn man dafür Spott erntet oder Kritik,
ausgegrenzt wird, Nachteile oder sogar den Tod in Kauf nehmen muss
wie die zu Ostern in Sri Lanka ermordeten Christen,
dann überlegt man sich, ob man öffentlich macht, dass man glaubt.
Wenn der Glaube Nächstenliebe lehrt,
der Staat aber Mitmenschen zu „Untermenschen“ erklärt
und verlangt, ihnen Hilfe und Menschlichkeit zu verweigern,
wie es im sog. „Dritten Reich“ der Fall war,
steht man vor der Frage, nach welchem Maßstab man sich richten soll -
dem des Glaubens oder dem der Mehrheit, des Staates.
Solche und ähnliche Situationen meint der 1.Petrusbrief,
wenn er von „Prüfungen“ spricht.

Und auch hier stellt sich wieder die Frage,
ob Gott es ist, der unseren Glauben auf solche Weise prüft -
ob man also als Christ*in Leid und Verfolgung
um des Glaubens willen auf sich nehmen und ertragen muss.
Bzw. ob das „Erbe“, „die Rettung, die vorbereitet wurde“,
ob man Lob, Anerkennung und Ehre bei Gott verwirkt,
wenn man die Glaubensprüfung nicht besteht?

III. Wie man diese Frage beantwortet, hat mit dem Sehen zu tun,
um das es an diesem Sonntag geht.
Wir erinnern uns an das Evangelium vom ungläubigen Thomas,
der sehen und seinen Finger in die Wunde legen musste,
um glauben zu können.
Der 1.Petrusbrief lobt, wie Jesus es tut, seine Leser,
die Jesus lieben und an ihn glauben, ohne ihn gesehen zu haben.
Mit „sehen“ ist also nicht nur das Hingucken gemeint.
Wenn Thomas den Finger in die Wunde legt, ist das auch ein Sehen:
Es ist die Einsicht.
Thomas will verstehen, was passiert ist.
Er will verstehen, was er glaubt.
Er sucht nach einer Erklärung für das rätselhafte Geschehen,
das die Jüngerinnen Jesu und später seine Jünger berichteten.

Auch das Leid möchte man verstehen.
Leid ist ohnehin unerträglich,
aber wie soll man sinnloses, nutzloses Leiden ertragen?
Wenn man dem Leiden einen Sinn abgewinnen kann,
erscheint es nicht völlig sinnlos.
Dann hat dieser Mensch nicht umsonst gelitten,
dann ist er nicht vergeblich gestorben.

Aber das Leiden ist sinnlos.
Es gibt dabei nichts zu lernen oder zu gewinnen.
Es ist blanker Zynismus zu behaupten, Leiden hätte einen Sinn.
So etwas kann nur jemand sagen, der nicht davon betroffen ist.
Wenn man im Leiden drinsteckt, fragt und sucht man nach einem Sinn,
so wie man „warum?“ fragt, wenn ein Mensch, den man liebte, stirbt.
Aber wie es auf die Frage nach dem Warum keine Antwort gibt,
so gibt es auch keine auf die Frage nach dem Sinn des Leidens.
Und jeder, der von außen versucht, dieses Schicksal zu erklären,
erweist sich entweder als Zyniker
oder macht sich lächerlich
durch seine Einfalt, seine Ahnungslosigkeit.

Leid und Tod sind nicht zu verstehen.
Sie ergeben keinen Sinn, weil sie Feinde des Lebens sind.
Jesus starb nicht am Kreuz, um dem Leiden einen Sinn zu geben
und uns mit dem Tod zu versöhnen.
Sondern um diese beiden Feinde des Lebens endgültig bloßzustellen,
zu besiegen und auszuschalten.

Jesus litt und starb völlig sinnlos.
Nicht, weil Gott es so wollte.
Sondern weil die menschliche Natur zwangsläufig alles Schöne,
alles Fremde, alles Zarte und Wehrlose zerstören und vernichten muss.
Jesus litt und starb an uns Menschen.
Und die Tatsache, dass er auferstand,
setzt nicht unseren Hass auf das Fremde,
unseren Drang zur Gewalt,
unsere Zerstörungswut ins Recht,
gibt ihnen keinen auch noch so entfernten Sinn.
Im Gegenteil: Erst, wer diese Sinnlosigkeit erleidet,
wird fähig zum Mitleid mit dem Gekreuzigten;
zum Mitleid mit den Opfern der Terroranschläge in Sri Lanka,
zum Mitleid mit jeder gequälten Kreatur.

IV. Leid und Tod sind sinnlos.
Erst, wenn man das begreift
und nicht mehr bei jedem Unfall, jedem Unglück hingafft,
nicht mehr in den körperlichen und seelischen Wunden herumbohrt,
erst dann erkennt man, welches Geschenk uns Gott mit unserem Leben gemacht hat.
Und erst, wenn wir unser und jedes Leben achten und wertschätzen gelernt haben,
werden wir Menschen im Leid wirklich beistehen können.
Weil wir sie dann nicht mehr vertrösten müssen.
Weil wir keinen Sinn finden müssen, wo keiner ist.
Wir können einfach da sein,
sodass Menschen Freude empfinden in allem Leide.
Wir können das, weil wir keine Angst mehr haben müssen vor Leid und Tod
und deshalb auch keine Erklärung, keinen Sinn mehr suchen müssen
in dem, was absolut sinnlos ist.

Man kann das gar nicht deutlich genug sagen:
Sobald man anfängt, Leid verstehen oder ihm gar einen Sinn unterstellen zu wollen,
gibt man ihm einen Wert und eine Würde, die es nicht hat.
Mit einem solchen „Verständnis“ für das Leid wurde und wird
jede Unmenschlichkeit und Unbarmherzigkeit gerechtfertigt,
von der Prügelstrafe bis zur Massenvernichtung.
Die Erklärung und Verklärung des Leides schafft Märtyrer und Terroristen.

V. „An ihn glaubt ihr, obwohl ihr ihn jetzt nicht seht“.
Glaube kommt ohne Sehen aus.
Glaube verzichtet auf Erklärungen.
Er verzichtet aber nicht auf die Vernunft.
Mit Hilfe der Vernunft erkennt der Glaube,
wo ihm Lieblosigkeit, Unmenschlichkeit, Unbarmherzigkeit
untergeschoben werden sollen.
Mit Hilfe der Vernunft wehrt er sie ab und alle, die es nicht lassen können, in Wunden zu bohren.

Der Glaube macht uns zu Protestanten.
Wir protestieren für das Leben.
Wir protestieren gegen Leid und Tod.
Wir legitimieren sie nicht mit dem Deckmäntelchen irgendeines Sinnes.
Wir machen sie nicht salonfähig, indem wir sie als Gottes Wille deklarieren.
Wir gewöhnen uns nicht an sie.
Sondern jeden Augenblick treten wir gegen sie an,
indem wir darauf bestehen, dass Gott Leben will und nicht den Tod.
Denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden,
damit Leid und Tod ein für allemal besiegt sind.

Amen.

Montag, 15. April 2019

Mutprobe

Predigt zur Konfirmation von J. am Sonntag Palmarum, 14. April 2019, über Jesaja 40,26-31:

Schaut hinauf zum Himmel und seht, wer das geschaffen hat.
Er führt das Heer der Sterne einen nach dem anderen herauf.
Er nennt sie alle mit Namen.
Er kann so viel und hat so große Fähigkeiten, dass keiner von ihnen verloren geht.

Warum sagst du, Jakob, und sprichst du, Israel:
Gott sieht nicht, wie es mir geht?
Und: Meinen Gott kümmert es nicht, was richtig für mich ist?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?:
Gott ist ein ewiger Gott, Schöpfer der entlegendsten Weltgegenden.
Er wird nicht müde, er wird nicht matt.
Für seinen Verstand gibt es nichts Unerforschtes.
Er gibt dem Müden Kraft und dem, der nichts schafft, größere Fähigkeiten.
Sogar junge Menschen werden müde und matt.
Selbst Jugendliche stolpern und fallen.
Die aber auf Gott vertrauen, gewinnen neue Kraft.
Ihnen wachsen Flügel wie die eines Adlers.
Sie laufen, aber sie ermatten nicht.
Sie wandern, aber sie ermüden nicht.


Liebe Schwestern und Brüder,
lieber J.,

mit der Konfirmation ist man kein Kind mehr.
Man ist auch noch nicht erwachsen.
Aber die Kindheit hat man definitiv hinter sich gelassen.
Im Deutschunterricht kommen jetzt die „Klassiker“ dran,
Lessing, Schiller und „Jöthen“.
Auch zuhause liest man keine Bücher mehr, die im Milieu der Kinder spielen
wie „Die Kinder von Büllerbü“ oder „Michel aus Lönneberga“.

Aber manchmal begleiten einen Bücher,
die man als Kind gelesen hat, in die Erwachsenenzeit hinein.
Manche dieser Bücher versteht man als Erwachsener viel besser,
oder man versteht sie noch einmal ganz anders
und gewinnt sie auf neue Weise lieb.
„Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner ist für mich so ein Buch.
Die Schüler, die darin die Hauptrolle spielen, sind in deinem Alter, J.
Aber die Zeit, in der das Buch spielt, ist die deiner Urgroßeltern.
„Das fliegende Klassenzimmer“ schrieb Erich Kästner vor Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933.

Ich erwähne dieses Buch, weil mich Dein Konfirmationsspruch daran erinnert hat:
„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Auch im „fliegenden Klassenzimmer“ geht es ums Fliegen, wie der Titel bereits andeutet.
Es geht darin um die Flügel, die die Phantsie wachsen lassen kann.
Es geht um einen „Engel namens Böckh“.
Und um einen Jungen, der fliegen will.
Er heißt Uli von Simmern und ist der Kleinste in der Klasse.
Darum wird er von manchen gehänselt und nicht für voll genommen.
Einmal stecken ihn Mitschüler sogar in einen Papierkorb,
das sie an einen Seil am Kartenhalter hochziehen,
und lassen ihn damit „fliegen“.
Der Fachlehrer, der sich durch den Streich seinen Unterricht nicht stören lassen will,
irgnoriert den in der Luft baumelnden Jungen
und trägt ihn sogar als unentschuldigt fehlend ins Klassenbuch ein.

Wieviel Spott, wieviel Demütigungen kann man ertragen?
Uli jedenfalls hat davon genug und beschließt, es allen zu zeigen.
Für die große Pause kündigt er an, dass er fliegen wolle.
Das spricht sich herum, der Pausenhof ist gerammelt voll,
als Uli mit einem Regenschirm auf das hohe Klettergerüst steigt.
Seine Freunde warnen ihn, aber Uli springt.
Natürlich stülpt sich sein Schirm sofort um,
Uli kracht ungebremst auf den Asphalt des Schulhofes.
Zu seinem Glück bricht er sich nur das Bein,
muss aber das Weihnachtsfest im Krankenhaus verbringen.

Uli will beweisen, dass er kein Feigling ist.
Dass er nicht weniger Respekt verdient als die anderen,
obwohl er anders - kleiner - ist.
Der Beweis glückt, aber zu welchem Preis!
Es hätte für Uli schlimm ausgehen können.

Viele von uns haben ähnliche Erfahrungen gemacht wie Uli,
wenn auch hoffentlich nicht so dramatisch und gefährlich wie bei ihm.
Viele von uns hatten das Gefühl, sich vor anderen beweisen zu müssen.
Man musste eine Grenze überschreiten, um dazugehören zu dürfen.
Man musste sich die Achtung, den Respekt der anderen verdienen.
Warum ist es nötig, solche Mut- oder Kraftproben abzulegen?
Warum muss man anderen beweisen, dass man ebenso stark, ebenso mutig, ebenso trinkfest ist wie sie
--- dass man genauso ist wie sie?
Muss man so wie die anderen sein, um dazuzugehören?
Muss man so wie die anderen sein, um jemand zu sein?

Eine Antwort auf diese Fragen gibt dein Konfirmationsspruch:
„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Gott, so sagen diese Sätze, verleiht einem Menschen Kraft und Ausdauer,
gibt ihm Flügel, mit denen er über sich hinauswachsen kann.
Aber wofür gibt Gott einem diese Kraft und Ausdauer,
wozu verleiht Gott Flügel?
Damit man es den anderen zeigen kann?
Damit man beweisen kann, dass man genauso ist wie sie?

„Gott sieht nicht, wie es mir geht.
Meinen Gott kümmert es nicht, was richtig für mich ist.“
Das ist die Ausgangssituation.
Das Gefühl, allein zu sein, auf sich gestellt zu sein.
Nicht einmal von Gott gesehen und ernst genommen zu werden,
nicht einmal ihn an seiner Seite zu wissen.
Es ist ein Gefühl, das zum Erwachsenwerden dazu gehört.
Man nennt es Weltschmerz:
„Keiner mag mich, keiner versteht mich, keiner hat mich richtig lieb“.
Außenstehende nehmen dieses Gefühl nicht ernst.
Sie wissen, dass es nicht wahr ist.
Denn sie, die Eltern und Großeltern, die Geschwister und Freunde,
mögen und verstehen und haben richtig lieb.
Aber wen der Weltschmerz gepackt hat, kann das nicht sehen.
Der fühlt sich missverstanden und alleingelassen,
und alles, was die anderen unternehmen, um das zu ändern, bestätigt dieses Gefühl nur.

Viele haben den Weltschmerz erlebt und erlitten.
Wenn man so richtig darin versunken ist, kommt man kaum wieder heraus.
Weil es ja niemanden gibt, der einen versteht,
lässt man sich von niemandem etwas sagen,
nicht einmal vom Propheten Jesaja.
Wie soll der einen auch verstehen, so lange, wie der schon tot ist!
Doch Weltschmerz kannte man auch zu Jesajas Zeiten.
Lasst uns deshalb hören, was er dazu sagt:
„Schau hinauf zum Himmel und sieh, wer das geschaffen hat.
Er führt das Heer der Sterne einen nach dem anderen herauf.
Er nennt sie alle mit Namen.
Er kann so viel und hat so große Fähigkeiten, dass keiner von ihnen verloren geht.“
Jesaja weitet den Blick.
Er überredet einen dazu, den Kopf zu heben,
von der Nabelschau eines sich gekränkt, verlassen und missverstanden Fühlenden
hinaus in die Welt und über die Welt hinauf ins Sternenzelt.
Jesaja fragt mit den Worten des Abendliedes (EG 511,1):
„Weißt du, wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?“
und gibt zur Antwort:
„Gott der Herr hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet.
Kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.“
So, wie Gott in der unermesslichen Zahl der Sterne
jedem einzelnen einen Namen gab
und jeden einzelnen im Blick hat -
sogar den Asteroiden B 612,
auf dem der kleine Prinz mit seinem Schaf und seiner Rose lebt -
so ist auch keine und keiner von uns ihm zu klein oder zu unbedeutend.
Gott kennt jede und jeden von uns,
„kennt auch dich und hat dich lieb.“
Und weil Gott auch den kleinsten Asteroiden kennt,
dürfen wir, die wir viel mehr sind als Asteroiden oder Spatzen oder Schafe
davon ausgehen, dass Gott unser Wohlergehen nicht egal ist,
auch und gerade wenn wir uns einsam und verlassen fühlen.

 

Kinderbücher, Kinderlieder - das ist doch nichts für Erwachsene!
Erwachsenen muss man die Sache auf andere Weise erklären.
Mit einer scharfsinnigen Beweisführung bestechen,
mit theologischen oder philosophischen Argumenten überzeugen.
Aber die Wahrheit, dass wir von Gott Geliebte sind, lässt sich nicht erweisen.
Man kann sie nur ergreifen.
Und so, wie wir als Eltern in unseren Kindern das Vertrauen anlegen und wecken,
mit dem sie ihr Leben meisten und bestehen können,
so legen Kinderbücher und Kinderlieder Grundsteine für das Vertrauen auf Gott,
für den Glauben an das Gute, an die Wahrheit, an Liebe und Menschlichkeit.
Sie lehren uns eine Haltung, mit der man dem Weltschmerz begegnen kann:
Wenn man sich ganz einsam und verlassen fühlt, den Kopf zu heben
in die Sterne zu schauen und daran zu denken,
dass Gott sie alle gezählt hat wie die Haare auf unserem Kopf.
- Nicht, dass Gott Langeweile hätte und sich mit solcher Zählerei die Zeit vertriebe!
Vielmehr so: Wie wir über das erste graue Haar erschrecken,
oder uns sorgen, wenn wir mehr Haare als sonst in der Bürste finden,
ebenso nimmt Gott Anteil an jedem Moment unseres Lebens,
und es ist ihm nicht egal, wie es uns geht - wir sind ihm nicht egal.

Nun müsste ich wohl sagen, dass es keine Mutprobe braucht, um zu Gott zu gehören.
Und tatsächlich stellt die Taufe keine große Herausforderung dar.
Es braucht keinen Mut, um sich taufen zu lassen.
Kleine Kinder erschrecken sich höchstens vor dem kalten Wasser.
Es ist keine Mutprobe nötig, um zu Gott zu gehören.
Aber es ist unglaublich viel Mut nötig, um zu glauben.
Viele Menschen bringen diesen Mut nicht auf.
Denn es bedeutet, sich auf ein Wort zu verlassen.
Ein Wort, das die Brücke über einen Abgrund bildet.
So, wie man sich auf die drei Worte „Ich liebe dich“ verlässt.
Aber manchmal wird man enttäuscht.
Manchmal stellt sich heraus, dass diese drei Worte nicht mehr wahr sind.
Sich dann noch einmal auf ein „Ich liebe dich“ einzulassen,
erfordert viel Mut - oder großen Leichtsinn,
wie man ihn entwickelt, wenn man verliebt ist.
Die Wahrheit, dass wir von Gott Geliebte sind, kann man nicht erweisen.
Glauben bedeutet, darauf zu vertrauen,
dass Gottes Liebe gilt und dass sie mir gilt.
Es ist nur ein Wort, auf dem man wie auf einer Brücke
über einen schwindelerregenden Abgrund geht.
Erst, wenn man die Brücke betritt, erfährt man, dass sie trägt.
Man kann es nicht wissen, ohne den Schritt zu tun,
Deshalb ist es so schwer, zu glauben.
Gott gibt uns dazu die Kraft, den Mut und die Ausdauer,

Die Kraft, die Gott verleiht, die Flügel, die er wachsen lässt,
helfen einem eher nicht, es den anderen mal so richtig zu zeigen,
wie Uli von Simmern es versuchte.
Sie helfen vielmehr, die „Mühen der Ebene“ zu bestehen.
Sie helfen einem, das Richtige zu tun und dabei zu bleiben,
auch wenn alle anderen das Falsche tun, wie es nach 1933 in unserem Land geschah.
Sie helfen, sich über die Masse zu erheben.
Nicht, um etwas Besseres zu sein,
sondern um besser sehen zu können, wohin der Weg führt, den alle gehen,
und in welcher Richtung im Verhältnis dazu der eigene Weg liegt.
Und schließlich helfen sie einem,
hin und wieder den Kopf gen Himmel zu heben
über den unendlichen Sternenhimmel zu staunen
und an den zu denken, der sie alle gezählt
und der auch unser Leben im Blick hat.

Donnerstag, 11. April 2019

Was mein Gott will

Predigt am Palmsonntag, 14.4.2019, über Jesaja 50,5-9:

Der Herrgott hat mir das Ohr geöffnet.
Ich sträube mich nicht.
Ich weiche nicht zurück.
Meinen Rücken bot ich den Schlägern dar
und meine Wange denen, die meinen Bart rauften.
Ich verbarg mein Gesicht nicht
vor Beleidigungen und Spucke.

Aber der Herrgott hilft mir,
darum werde ich nicht beschämt werden.
Darum habe ich mein Gesicht steinhart gemacht.
Ich weiß, dass ich nicht beschämt werde.
Mein Anwalt tritt heran.
Wer will mit mir prozessieren?
Lasst uns zusammen vor Gericht treten!
Wer will mein Prozessgegner sein?
Der trete mit mir vor den Richter!
Sieh, der Herrgott hilft mir.
Wer ist der, der mich verurteilen will?
Sieh, alle zerfallen wie Kleidung,
die Motte frisst sie.


Liebe Schwestern und Brüder,

mit dem Palmsonntag treten wir in die Karwoche ein.
Nach dem langen Vorlauf der Passionszeit,
in der Leiden und Tod angekündigt wurden,
kommt nun das Leid tatsächlich über Jesus.
Der Unterschied zwischen Passionszeit und Karwoche ist wie der
zwischen dem Wissen, dass man krank werden kann
und dem tatsächlichen Kranksein.
Jeder weiß, dass man irgendwann einmal ernsthaft krank werden kann -
eine Blinddarmentzündung, ein Beinbruch, ein Schlaganfall.
Aber jeder denkt auch dabei:
„Ich aber nicht!“

Die Karwoche zerschlägt die Illusion des „Ich aber nicht!“.
Sie lässt uns beinahe hautnah erfahren,
wie zerbrechlich das Glück ist.
Wie leidvoll das Leben sein kann.
Wie böse wir Menschen sein können,
und wie leicht die Grenze zur Unmenschlichkeit überschritten wird,
die niemals überschritten werden darf
und doch ungezählte Male überschritten wurde und wird.

I. Der Predigttext ist ein Beispiel für das Überschreiten dieser Grenze.
Ein Beispiel unmenschlicher Bosheit,
die sich schnell dort zeigt,
wo Menschen das Menschsein abgesprochen wird,
wo zwischen Menschen erster und zweiter Klasse,
zwischen „Herrenmenschen“ und „Untermenschen“ unterschieden wird.
Schläge, Ziehen und Ausreißen der Haare, Bespucken
sind Ausdruck der Verachtung und des Hasses,
in die der andere sich gesteigert hat.
Gewalt ist ja keine Form, sich auseinanderzusetzen.
Gewalt will zwingen und bezwingen,
Gewalt will vernichten und auslöschen.

Hier kommt noch etwas anderes ins Spiel.
Zu der Gewalt kommt die Demütigung.
Das Haareziehen, das Bespucken sollen dem Unterlegenen zeigen,
wie schwach, wie wehrlos, wie völlig ausgeliefert er ist.
Es soll ihm zeigen, wie sehr man ihn verachtet.
Und das ist vielleicht noch schlimmer als die Schläge.
Schläge tun weh, sie hinterlassen blaue Flecke oder sogar Narben.
Aber der Schwerz vergeht irgendwann.
Demütigungen verletzen die Seele,
und diese Verletzungen heilen nie,
man kann sie auch niemals vergessen.

II. In der Karwoche erinnern wir uns daran,
dass Jesus so gedemütigt wurde, und das in aller Öffentlichkeit.
Er, der am Palmsonntag wie ein König begrüßt worden,
als König in Jerusalem eingezogen war,
bekommt am Karfreitag eine Krone aus Dornen ins Haar gedrückt,
bekommt den Stock, mit dem man ihn verprügelte, als Szepter in die Hand,
wird seiner Kleider beraubt und in ein lächerliches Kostüm gesteckt.
Und natürlich bespuckt man ihn auch.
Man zeigt damit:
Dieser, der sich als König ausgab, ist völlig gescheitert.
Für seine Anmaßung bekommt er unseren gerechten Zorn zu spüren.
Für seine Unfähigkeit, sich zu wehren,
sich durch ein Wunder zu retten, unsere Verachtung.

Jesus wehrt sich nicht.
Er lässt alles über sich ergehen.
Heute, an Palmarum, erinnern wir uns daran,
dass er sehenden Auges auf dieses Ende zuging.
Er wusste, was ihn erwartete,
und versuchte nicht, sein Schicksal zu wenden,
dem Unheil zu entgehen.
Wie der Beter bei Jesaja macht er sein Gesicht hart wie Stein,
um die Schläge, die Beleidigungen, das Bespucktwerden zu ertragen.

III. Warum lässt Jesus es überhaupt so weit kommen?
Warum zieht er so provokant in Jerusalem ein,
dass alle Welt denken muss, er komme als Messias,
als der verheißene König Israels,
der das Reich Davids wieder aufrichtet und Frieden bringt,
wenn er diese Hoffnungen gar nicht erfüllen kann?
Müssen da die Menschen nicht zurecht enttäuscht von ihm sein?
Sehen die Frommen nicht zurecht ihren Glauben in den Schmutz getreten
und ins Lächerliche gezogen,
wenn Jesus aus dem Messias eine Art Clown macht?
Ist daher seine Ausstaffierung als Narrenkönig mit Dornenkrone
nicht die Quittung für sein lästerliches Verhalten?

Jesus zieht macht- und gewaltlos in Jerusalem ein,
aber seine Provokation ist dafür um so mächtiger und gewaltiger.
Das scheint auch seine Absicht zu sein.
Jesus legt es geradezu darauf an, die Leute vor den Kopf zu stoßen.
Er hatte ja keinen Moment vor, den Erwartungen der Leute zu entsprechen,
die sie mit dem Kommen des Messias verbanden.
Er enttäuscht alle Erwartungen; damit macht er sich alle zu Feinden.

So ist es bis heute.
Bis heute enttäuscht Jesus die Erwartungen, die man in ihn setzt.
Auch wir wurden schon von ihm enttäuscht.
Auch wir hatten mehr von ihm erwartet.
Wie oft haben wir ihn, oder Gott in seinem Namen,
um etwas oder für jemanden gebeten.
Wie oft hatten wir gehofft, dass er wenigstens dieses eine Mal
eingreifen und unser Schicksal oder das eines geliebten Menschen ändern würde.
Jedes Mal wurden wir enttäuscht.
Jedes Mal waren wir gezwungen, die Bruchstücke unseres Glaubens wieder aufzusammeln
und unseren Glauben neu zusammenzusetzen.
Auch das ist eine Demütigung,
wenn man erleben muss,
dass der eigene Glaube offenbar zu naiv, zu schlicht war;
dass man das offenbar nicht von Gott erwarten kann, was man erwartete.
Dass, was man vom Glauben zu wissen meinte, offenbar anders zu verstehen war.

IV. Die Karwoche führt den Glauben in eine ausweglose Situation.
Einerseits ist man voller Mitleid mit dem Leidenden.
Andererseits gibt es auch in uns einen Teil,
der zwar nicht „kreuzige ihn!“ schreit,
der aber auch die Wut darüber kennt und empfindet,
in seinen Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht worden zu sein.

Aus einer ausweglosen Situation gibt es keinen Ausweg.
Und doch findet Gott einen Ausweg.
Diesen Ausweg deutet Jesaja an:
„Der Herrgott hat mir das Ohr geöffnet.
Ich sträube mich nicht.
Ich weiche nicht zurück.“
Es ist die Einwilligung in Gottes Willen.
„Dein Wille geschehe“, wie wir im Vaterunser beten.
Auch Jesus sagt es im Garten Gethsemane,
als seine Verhaftung und damit seine Qualen und sein Tod unmittelbar bevorstehen:
„Ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst“ (Matthäus 26,39).

Diese Einwilligung in Gottes Willen geschieht nicht freudig, nicht begeistert.
Aber sie geschieht.
Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis,
dass es neben meinem Willen noch einen anderen Willen gibt,
den es zu berücksichtigen gilt.
Und dass dieser zweite - Gottes - Wille ein Recht hat,
das dem meines Willens mindestens ebenbürtig ist.
Das klingt, als wäre es nichts Besonderes.
Aber jeder, der sich einmal dem Willen eines anderen beugen musste;
der seine Interessen zugunsten seines Partners, seines Kindes, seiner Eltern zurückstellte,
weiß, das es alles andere als einfach ist.
Natürlich, in guten Zeiten und aus Liebe tut man es gern.
Aber wenn es einen etwas kostet;
wenn man nicht einsieht, warum man dem anderen seinen Willen lassen soll;
wenn es Mühe macht oder das eigene Leben einschränkt, wird es schwer.

Jesus willigt in den Willen seines Vaters ein,
der ihn ins Leid und in den Tod führt,
weil er die Hoffnung hat, dass Leid und Tod nicht das Ende sein werden.
So hält auch der Beter bei Jesaja seinen Buckel und seine Wange hin,
weil er weiß, dass er das überstehen wird.
Er vergleicht seine Situation mit einem Gerichtsverfahren.
Eben ist er zwar noch der Angeklagte,
den man behandelt wie einen schlimmen Verbrecher, wie Abschaum.
Aber das Verfahren wird erweisen, dass er im Recht ist.
Das Gericht wird ihn freisprechen, das ist sicher.
So sicher, dass der Beter keinen Ankläger fürchtet.
Mit Gott als Anwalt an seiner Seite nimmt er es mit jedem auf.

V. In Gottes Willen einwilligen - wie soll das gehen?
Woher soll man wissen, was in der jeweiligen Lage Gottes Wille ist?
Jesus mag Gottes Willen gekannt haben, er war ja Gottes Sohn.
Aber wie sollen wir wissen, wie sollen wir erkennen, was Gott von uns will?

„Der Herrgott hat mir das Ohr geöffnet“, heißt es bei Jesaja.
Wem Gott das Ohr öffnet, der kann hören, was Gott von ihm will.
Der hört dann zum Beispiel folgendes:

„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was Gott von dir fordert, nämlich
Gottes Wort halten und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8).

Die Orientierung an Gottes Wort,
bei der die Liebe der Maßstab und das Ziel ist,
und das nicht als Bestimmer und Besserwisser,
sondern in aller Demut:
das ist der Weg, Gottes Willen zu tun.

Dabei kann man Fehler machen.
Dabei kann man sich irren - wir sind nur Menschen.
Aber wer auf diesem Weg geht und versucht, darauf zu bleiben,
kann sicher sein, dass Gott nicht von seiner Seite weicht.
Kann darauf vertrauen, dass er alles, was ihm auf diesem Weg widerfährt,
aushalten kann und überstehen wird.
Weil am Ende Gott auf ihn wartet.
So, wie Gott auch auf Jesus wartete;
wie nach der Dunkelheit und Verzweiflung des Karfreitags
der Ostermorgen kam.