Samstag, 31. Dezember 2022

Schenken und Scheiden

Ansprache zum Altjahrsabend 2022 über Römer 8,31-39


Liebe Schwestern und Brüder,


eine Woche liegt der Heilige Abend bereits zurück.

Die Vorräte an Keksen und Stollen haben sich spürbar gelichtet.

Die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum sind verschwunden,

verpackt, verteilt, schon in Benutzung.

Auch das Geschenkpapier ist entsorgt

oder fürs nächste Mal ordentlich zusammengelegt.

Warum schenkt man sich eigentlich etwas zu Weihnachten?


Wer der Tradition verhaftet ist,

wird die Heiligen Drei Könige als Grund anführen

mit ihren Geschenken von Gold, Weihrauch und Myrrhe.

Ein:e Pragmatiker:in wird argumentieren,

dass schenken müsse, wer selbst etwas geschenkt bekommen wolle.

Und ein:e Romantiker:in, dass ein Geschenk

ein Zeichen der Zuneigung oder der Wertschätzung sei.


Schenken kann man jeden Tag.

Dass ausgerechnet Weihnachten der Tag des Schenkens ist,

könnte man mit der Erinnerung an die Geschenke

der Heiligen Drei Könige für das Jesuskind erklären.

Der heutige Predigttext aus dem 8. Kapitel des Römerbriefes

bietet eine andere Erklärung an, die gut zum Jahreswechsel passt.

Darin ist vom Schenken und Scheiden die Rede.

Hören wir, was Paulus an die Römer schreibt:


„Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein?

Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat,

sondern hat ihn für uns alle dahingegeben –

wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?

Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen?

Gott ist hier, der gerecht macht.

Wer will verdammen?

Christus Jesus ist hier, der gestorben ist,

ja mehr noch, der auch auferweckt ist,

der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt.


Wer will uns scheiden von der Liebe Christi?

Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger

oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?

Wie geschrieben steht:

»Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag;

wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«

Aber in dem allen überwinden wir weit

durch den, der uns geliebt hat.

Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben,

weder Engel noch Mächte noch Gewalten,

weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,

weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur

uns scheiden kann von der Liebe Gottes,

die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.”


Der Jahreswechsel ist ein Scheiden

zwischen dem Gewesenen und dem Kommenden.

Man lässt das alte Jahr hinter sich

und bereitet sich auf das neue vor, so gut es geht.

Wenn es auf Reisen geht, packt man für alle Eventualitäten:

für gutes Wetter und für schlechtes;

für das Faulenzen am Strand und für den Restaurantbesuch;

für Sonnen- und für Regentage;

Schwimmsachen und Wanderzeug.


Unser Schenken an Weihnachten

könnte man auch verstehen als eine Vorbereitung

auf das kommende Jahr.

Dann wären der neue Pullover oder Schal,

die Spielsachen oder die Elektronik,

ja selbst die oft verspotteten Socken und Krawatten

sozusagen das Reisegepäck.


Unser Schenken an Weihnachten ist auch eine Antwort

auf das Geschenk, das Gott uns an Weihnachten macht.

Gott schenkt uns seinen Sohn.

Und mit ihm, so schreibt es Paulus, schenkt er uns „alles”.

Was ist das, „alles”?

Ist es wirklich alles, was wir uns vorstellen können,

alles, was wir uns nur wünschen könnten?

Gottes Sohn ist nicht das Sams,

das unterschiedslos alle Wünsche erfüllt,

die einem nur einfallen können.

Gott schenkt uns seinen Sohn nicht,

um unsere Konsumträume zu erfüllen.


Das „Alles”, das Paulus meint,

ist alles, was wir zum Leben brauchen.

Und das ist in Martin Luthers Erklärung

zur vierten Bitte des Vaterunsers eine ganze Menge:


„Alles, was not tut für Leib und Leben,

wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh,

Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut,

fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen,

fromme und treue Oberherren, gute Regierung,

gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre,

gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen”.


Wenn wir auch Martin Luthers Aufzählung heute

etwas moderner formulieren und z.B. um

„gutes WLAN” oder „Internet” ergänzen würden,

ist es doch das, was wir auch 2023 brauchen werden.


Wir werden es nötig haben.

Denn Paulus zählt auf,

was einem im Laufe eines Jahres so begegnen kann:


„Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger

oder Blöße oder Gefahr oder Schwert”.


Auch diese Aufzählung würde man heute modernisieren

und ergänzen um den Krieg in der Ukraine

oder den Klimawandel.


All diese persönlichen, gesellschaftlichen und globalen

Nöte und Probleme können uns nicht scheiden von Gottes Liebe,

schreibt Paulus.

„Liebe” klingt erst einmal nach nicht viel.

Liebe nimmt sich gegenüber den Problemen,

denen wir im kommenden Jahr gegenüberstehen werden,

klein und ohnmächtig aus.


Gottes Liebe aber ist es,

durch die wir den Herausforderungen und Problemen

überhaupt begegnen, durch die wir uns ihnen stellen können.

Denn sie gibt uns einen Standpunkt,

auf dem wir stehen und von dem aus wir handeln können.


Dieser Standpunkt lautet:

Gott liebt uns.

Wir haben Gottes Liebe gewonnen -

nicht aufgrund einer Leistung

oder weil wir an einer Lotterie teilgenommen haben.

Sondern weil Gott uns seinen Sohn geschenkt hat.

Mit Gottes Liebe haben wir alles gewonnen,

was es im Leben zu gewinnen gibt.

Natürlich kann man noch im Lotto gewinnen,

kann Preise gewinnen, Ansehen und Anerkennung,

vielleicht sogar den Nobelpreis.

Gottes Liebe übersteigt all diese Gewinne weit,

weil sie uns annimmt, so wie wir sind.

Weil sie uns unsere Fehler verzeiht.

Weil es ihr nichts ausmacht,

dass wir nicht haben, was andere haben;

nicht können, was andere können;

nicht den Erfolg haben, den andere haben.


Gottes Liebe befreit uns von all diesen Ansprüchen,

vom ängstlichen Schielen auf das,

was die anderen tun oder sagen.

So eröffnet sie uns neue Möglichkeiten.

Wir können im neuen Jahr neue Wege beschreiten.

Wir können Dinge anders machen, als wir sie bisher taten.

Wir können selbst anders, wir können andere werden.

Gottes Liebe gibt uns das Recht, ein:e andere:r zu sein.


Gottes Liebe ist aber noch mehr:

Sie ist eine Macht.

Eine Macht, die unsere Vorstellungen weit übersteigt.

Wir können uns nicht vorstellen,

wie es Frieden geben kann in der Ukraine - Gott kann es.

Wir trauen uns und unseren Mitmenschen nicht zu,

rechtzeitig die nötigen Schritte gegen den Klimawandel zu ergreifen.

Aber Gott vertraut darauf, dass wir es tun werden.

Gott glaubt an uns.


Sein Zutrauen, seine Liebe sind die Energie,

die uns durch das vor uns liegende Jahr tragen wird.

Es gibt tatsächlich nichts,

was uns von dieser Liebe Gottes trennen kann.

Alle Katastrophen, alle Schicksalsschläge,

alles eigene und fremde Leid, das wir uns vorstellen können,

werden uns nicht von Gott und seiner Liebe scheiden.

Es wird immer ein Licht da sein,

das uns nach Hause leuchtet.


Am Ende des alten Jahres schenkt Gott uns seinen Sohn.

Mit ihm schenkt er uns alles.

Die Fülle von Gottes Liebe, die dieses Kind ist,

verdrängt und vertreibt alles Nichtige.

Nichts wird uns scheiden von der Quelle des Lebens,

von Gott und seiner unendlichen, unbedingten Liebe zu uns.

Montag, 26. Dezember 2022

aus Gottes ewgem Rat

Liedpredigt am 2. Weihnachtstag, 26.12.2022, über EG 30: Es ist ein Ros entsprungen

Noten und Text der 1.Strophe des Liedes „Es ist ein Ros entsprungen”


Liebe Schwestern und Brüder,


de gustibus non est disputandum -

über Geschmack lässt sich nicht streiten .

Das gilt auch für die Frage, welches das schönste Weihnachtslied ist.

Ein Lied, auf das wir uns alle verständigen könnten

und das zumindest zu den Favoriten

für das schönste Weihnachtslied gehört,

ist das Lied „Es ist ein Ros entsprungen”.

Besonders in dem vierstimmigen Satz,

den der Wolfenbüttler Hofkapellmeister Michael Praetorius ihm gab

und den wir jetzt von der Orgel gespielt hören:


<Orgel>


Was macht diese Melodie so schön?

Es ist wohl ihre Schlichtheit.

Dreimal kommt darin die selbe Phrase vor.

Ihr erster Teil setzt sehr hoch an, mit dem c,

und klingt wie eine Rezitation:

„Es ist ein Ros entsprungen”.

Darauf folgt eine absteigende Tonleiter:

„Aus einer Wurzel zart”.

Wenn man sie so singen würde, wäre das Lied langweilig.

Aber es heißt:

„Aus eíner Wurzél zart”.

Nachdem wir zweimal diesen ersten Melodieteil gesungen haben,

folgt eine kurze zweite Melodie, die bis zum C hinabsteigt:

„und hat ein Blümlein bracht”.

Dann folgt zum dritten Mal der erste Melodieteil,

mit dem das Lied schließt.

Dadurch wird die kurze, zweite Melodie besonders herausgehoben,

weil sie so anders ist als der dreimal wiederholte erste Teil.

Und damit wird auch das, was sie sagt, hervorgehoben:

„und hat ein Blümlein bracht” in der ersten und

„aus Gottes ewgem Rat” in der zweiten Strophe.


Das Lied ist ein Rätsellied -

für uns natürlich nicht; wir wissen ja, wer das Blümlein ist.

Aber auch wenn wir die Lösung kennen,

macht das Rätsel das Lied noch einmal interessanter:

Wer ist diese Rose aus der Wurzel Jesse,

und wer das Blümlein, das diese Rose hervorbringt?

Singen wir gemeinsam die erste Strophe

und achten wir dabei auf das Rätsel, das sie stellt:


<Orgel: 1. Strophe>


Der Liedtext bezieht sich auf eine

der alttestamentlichen Weissagungen,

die in der Christvesper gelesen werden.

Bei Jesaja heißt es im 11. Kapitel:

„Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais

und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.”

Jesaja spricht von einem Reis, nicht von einer Rose.

Und von einer Blüte sagt er auch nichts.

Trotzdem ist diese Bibelstelle die Vorlage für das Lied.

Nur nicht in der Fassung, wie sie in der hebräischen Bibel steht.


Ende des 4., Anfang des 5. Jahrhunderts übersetzte Hieronymus

das alte Testament in die damalige Verkehrssprache Latein.

Es entstand die Vulgata, die in der katholischen Kirche

bis heute der maßgebliche Bibeltext ist.

Dort lautet die Stelle bei Jesaja:

„Es wird ein Reis aus der Wurzel Jesse hervorgehen

und eine Blume aus ihrer Wurzel aufgehen.”

In diesem Satz verbirgt sich ein Wortspiel:

„Reis” heißt auf Latein „virga“.

„Virga” erinnert an das lateinische Wort für Jungfrau, „virgo”.

Weil das Reis, virga, so ähnlich klingt wie die Jungfrau, virgo,

wurde das Reis aus der Wurzel Jesse mit Maria gleichgesetzt.

Im Mittelalter wurde dann aus dem Reis die Rose.

Das Rätsel, das die erste Strophe aufgibt, lautet also:

„Was ist das: Aus einer Wurzel entspringt eine Rose,

und auf dieser Rose blüht eine Blume?”


Die zweite Strophe gibt uns die Antwort auf das Rätsel.

Wir hören vom Chor, wie die Antwort lautet:


<Chor: 2. Strophe>


Wer ist die Rose, und wer ist die Blume?

Die zweite Strophe sagt: Das Kind, von Maria geboren, ist die Blume.

Aber diese Strophe verrät uns nicht, wer die Rose ist.

Das liegt daran, dass die Strophe, die in unserem Gesangbuch steht,

nicht die originale zweite Strophe ist.

In der ursprünglichen Fassung lautet die zweite Strophe so:


„Das Röslein, das ich meine,

davon Jesaja sagt,

ist Maria, die reine,

die uns das Blümlein bracht.

Aus Gottes ewgem Rat

hat sie ein Kind geboren

und blieb ein reine Magd.”


Diese Strophe löst das Rätsel:

Die Rose ist Maria, ihr Kind ist die Blume.

Warum singen wir es dann nicht so?

Michael Praetorius und den Theologen seiner Zeit

war in dieser Strophe zu viel von Maria die Rede.

Das ist kein Wunder.

Das Lied entstand in katholischen Gemeinden

in der Gegend von Trier, wo es mündlich weitergegeben wurde.

1587 schrieb es ein Kartäusermönch zum ersten Mal auf.

Durch die Kartäuser gelangte es nach Köln,

wo es 1599 in einem katholischen Gesangbuch gedruckt erschien.

Schon wenige Jahre später hatte Michael Praetorius es

in Wolfenbüttel kennengelernt und 1609 seinen vierstimmigen Satz

mit der von ihm geänderten zweiten Strophe veröffentlicht.

Damals waren die Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten

viel schärfer als heute, oft unversöhnlich.

Alles, was an die jeweils andere Konfession erinnerte, war verpönt.

Deshalb musste Maria für uns Protestanten

in den Hintergrund treten.


Das wäre aber gar nicht nötig gewesen.

Das Lied handelt ja nicht von Maria.

Wir haben vorhin gesehen,

dass der zweite Melodieteil des Liedes

den wichtigsten Gedanken der Strophe markiert.

Der ist in der evangelischen Fassung der selbe wie in der katholischen:

„aus Gottes ewgem Rat”.


Dieser ewige Rat ist unser Heil:

Gott will, dass wir glücklich sind,

dass unser Leben gelingt.

Diesen Entschluss hat er vor aller Ewigkeit getroffen.

Das bedeutet: Gott will auf jeden Fall Gutes für uns.

Krankheit, Leid und Tod sind nichts, was von Gott kommt,

um uns, wie man früher glaubte, zu erziehen oder zu bestrafen.

Wenn Gott vor Ewigkeiten unser Heil beschlossen hat,

spielt es keine Rolle, was wir tun oder wer wir sind,

weil Gottes Entschluss über uns

und über unser Leben bereits fest steht.

Diesen ewigen Entschluss Gottes verkörpert das Kind,

das von Maria geboren wurde,

damit wir unser Glück auch fassen können.


Zu unserem Glück brachte Maria Gottes Sohn zur Welt.

Durch ihn leben wir trotz aller Schwierigkeiten,

die das Leben uns bereitet,

trotz aller Fehler und falschen Entscheidungen unsererseits,

trotz aller Steine, die uns in den Weg gelegt werden,

trotz Gefährdung, Krankheit und Tod.


Das bringt die dritte Strophe zum Ausdruck,

die nicht ursprünglich zum Lied gehörte.

Pastor Friedrich Layritz ergänzte sie 1844,

damit man länger Freude an der schönen Melodie haben sollte.

Lassen sie uns diese 3. Strophe gemeinsam singen:


<Orgel: 3. Strophe>


Das Leben, das Glück kann uns nicht jedes Kind schenken -

so glücklich uns ein Kind machen kann,

so lebendig wir uns durch dieses Kind fühlen.

Das Leben, das Glück schenkt nur Gottes Sohn.

Das ist ein großes Geheimnis.

Dass es ein Geheimnis ist,

dass dieses Kind in der Krippe Gottes Sohn ist,

zeigt seine wunderbare Geburt:

Es wurde nicht wie alle Kinder gezeugt,

und es kam auch nicht wie alle Kinder auf die Welt.

Es wurde von einer Jungfrau geboren,

wie es auch im Glaubensbekenntnis heißt:

„Geboren von der Jungfrau Maria”.


Die Jungfrauengeburt bringt zum Ausdruck,

dass Jesus selbst ein Wunder ist

und dass mit ihm etwas ganz und gar Einmaliges und Einzigartiges,

Gott selbst, zur Welt kam.

Diskussionen über das Wunder der Jungfrauengeburt -

ob das überhaupt möglich ist,

und wie man sich das vorstellen soll -

gehen am Sinn der Sache vorbei.


Wir sollen uns nicht mit der Frage beschäftigen,

ob und wie das möglich ist.

Es gilt auch nicht zu glauben, dass es möglich war.

Es gilt zu staunen über das Geheimnis,

über das Rätsel, das uns die Geburt aus der Jungfrau Maria aufgibt.


Wer das Lied als Rätsellied singt,

fragt nach Maria und findet mit der Mutter das Kind.

In diesem Kind begegnet uns Gottes ewiger Rat:

Gottes Liebe zu uns,

die seit unvordenklichen Zeiten feststeht.

Das ist des Rätsels Lösung.


<5. Strophe: Chor: Amen>


__________

Anmerkung:

Der Predigt liegt der Beitrag von Hansjakob Becker zugrunde in: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchenlieder, Hgg. Hansjakob Becker, Ansgar Franz, Jürgen Henkys, Hermann Kurzke, Christa Reich, Alex Stock, München (C.H.Beck), 2009, ISBN 978 3 406 59247 8, S. 135-145. Der Schluss der Predigt zitiert den Schluss des Beitrages: „Es ist ein Ros entsprungen ist ein Rätsellied. Es fragt mit der Tradition nach Maria. Wer mit dem Lied diesen Weg geht, findet mit der Mutter das Kind und begegnet in diesem Kind (Jes 9,5) … leibhaftig Gottes ewgem Rat. Das ist des Rätsels Läsung” (S. 145, Hervorhebungen vom Autor).


Samstag, 24. Dezember 2022

ein Traum wird wahr

Predigt in der Christnacht, 24.12.2022, über Ezechiel 34,25:

Ostheimer-Krippe mit Jesuskind, daneben ein Stück Tafelkreide


„Ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen”,

spricht Gott,

„und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten,

dass sie sicher in der Steppe wohnen

und in den Wäldern schlafen können.”


Liebe Schwestern und Brüder,


die Weihnacht ist die Nacht der Wünsche.

Manche sind heute wahr geworden.

Es waren wohl vor allem die Wünsche der Kinder,

die sich heute erfüllten.

Wir haben uns mit ihnen gefreut,

als ihre Augen beim Auspacken leuchteten.

Sie spielen jetzt gerade noch mit ihren Geschenken,

oder schlafen mit der neuen Puppe,

dem neuen Schmusetier im Arm.


Was ist mit unseren Wünschen?

Haben die sich heute Nacht erfüllt?

Je älter man wird, desto weniger braucht man,

desto weniger wünscht man sich.

Man freut sich über ein selbst gemaltes Bild

von Kind oder Enkelkind,

man hat doch sonst alles - was sollte man noch brauchen?


Gleichzeitig werden die eigenen Wünsche unbescheidener:

Man wünscht sich Gesundheit - aber wer sollte die schenken?

Man wünscht sich Frieden - aber wer soll den bringen?

Man wünscht sich ein Ende des Streites, ein Ende der Einsamkeit,

ein Ende der Sorgen, der Krankheit, der Angst -

aber wer könnte sie herbeiführen?


Weil wir Erwachsene und daher vernünftig sind,

haben wir zwar nicht aufgehört,

solche Wünsche insgeheim zu hegen.

Aber wir haben aufgehört, daran zu glauben,

dass sie sich erfüllen könnten.

Alle Erfahrungen, die wir gemacht haben -

die wir machen mussten - sprechen dagegen.


„Ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen”,

spricht Gott,

„und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten,

dass sie sicher in der Steppe wohnen

und in den Wäldern schlafen können.”


Die Weihnacht ist die Nacht der Wünsche.

Wir haben die Weissagung des Propheten gehört

von einem Bund des Friedens,

von der Ausrottung des Bösen auf Erden,

von Sicherheit in Steppe und Wald.

Weil wir Erwachsene und daher vernünftig sind,

haben wir sie zwar gehört,

aber wir glauben nicht daran.

Wie auch? Seit zehn Monaten erleben wir

quasi vor der eigenen Haustür,

wie sinnlos es scheint, auf Frieden zu hoffen.


Und doch ist Weihnachten einer der wenigen Tage im Jahr,

an denen wir wenigstens hinhören,

auch wenn wir es nicht glauben können.


Werden wir uns bewusst,

dass wir gerade einem Traum gelauscht haben,

fällt uns vielleicht auf, wie wir für einen Moment

die Sehnsucht gespürt haben, dieser Traum möchte wahr werden.

Wir erinnern uns wehmütig an andere Momente,

in denen diese Sehnsucht auch zu spüren war.


Wir haben nicht verlernt, zu träumen.

Und obwohl wir Erwachsene und daher vernünftig sind,

brauchen wir den Traum.

Nicht nur des Nachts, um die Ereignisse des Tages zu verarbeiten.

Sondern auch den Tagtraum, der uns zeigt, was sein könnte.


„Ich will einen Bund des Friedens mit ihnen schließen”,

spricht Gott,

„und alle bösen Tiere aus dem Lande ausrotten,

dass sie sicher in der Steppe wohnen

und in den Wäldern schlafen können.”


Der Prophet, der diese Wort aufschrieb, hat den Krieg erlebt.

Er hat Angst vor bösen Tieren empfunden -

vor Wölfen, Schakalen oder Löwen

und vor dem Menschen, der des Menschen Wolf ist.

Er hat sich ausgeliefert gefühlt in der Steppe,

wo man sich nirgends verstecken kann,

weil es weit und breit keinen Baum, keinen Strauch gibt -

so, wie wir uns heute den Algorithmen ausgeliefert fühlen,

der flächendeckenden Überwachung, der niemand entgeht.

Und er hat sich nach der Geborgenheit des Schlafes gesehnt

ohne das Dröhnen von Stiefeln auf dem Pflaster,

ohne das Geheul von Sirenen, ohne die Schüsse, die Explosionen.


Der Traum des Propheten macht deutlich,

wie unerträglich, wie leidvoll die Wirklichkeit ist.

Und er zeigt, was statt dessen sein könnte.

Er macht nicht nur schmerzlich bewusst, was fehlt,

sondern lässt auch sehen, was sein könnte.


Auch wir haben Träume,

die uns vor Augen führen, was wir nicht ertragen können,

nicht mehr länger ertragen wollen,

und die uns zeigen, was statt dessen sein könnte.


Auch Gott hat einen Traum.

Gott, der sich die Welt, der sich den Menschen erträumte,

sieht, wie der Mensch Wege geht, die seine Schöpfung zerstören;

sieht, wie der Mensch seine Mitmenschen behandelt:

Wie er sie ausnutzt, verachtet, verletzt und tötet.

Dieser Unmenschlichkeit des Menschen

setzt Gott seinen Traum entgegen:

das Kind in der Krippe,

das mit seiner Schwäche und Hilflosigkeit

unsere Liebe wecken soll. Unser Mitgefühl.

Das Kind, das uns eine neue Welt aufschließt:

das Reich Gottes,

eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit,

von der die Propheten sprachen,

von der auch wir einmal geträumt,

an die wir einmal geglaubt haben.


Sie fragen sich vielleicht schon die ganze Zeit,

was Sie mit dem Kreidestück tun sollen,

das Sie am Eingang bekommen haben.

Erinnern Sie sich? Als Kind hätten Sie keine Sekunde überlegt,

was man damit wohl anfängt:

Sie hätten auf die Straße ein Hüpfekästchen gemalt,

und schon hätte das Spiel begonnen.

Sie hätten Monster gezeichnet oder alberne Gestalten.

Sie hätten ihre Träume gezeichnet:

Ein Haus mit Garten und schiefem Schornstein,

ein Auto, ein Flugzeug.


Ein Kind kann sich mit einem Stück Kreide

viele Träume erfüllen.

Ich möchte Sie mit diesem Stück Kreide dazu einladen,

Ihren Träumen wieder zu trauen.

Nicht so erwachsen, nicht so vernünftig zu sein,

dass Sie nicht mehr an Träume glauben.´


Zu träumen bedeutet, Leid und Schmerz zu empfinden,

weil das Leben, die Welt nicht so sind, wie sie sein sollten.

Zu träumen bedeutet auch, zu sehen, wie es anders sein könnte:

Wie Gottes Reich des Friedens und der Gerechtigkeit

unter uns Gestalt gewinnt.


Machen Sie es wie damals, als Sie Kind waren:

Zeichnen Sie Ihren Traum, schreiben Sie ihn auf.

Wenn Sie das Kreidestück von heute Nacht

morgen oder übermorgen in Ihrer Tasche,

auf der Anrichte, auf dem Küchentisch wiederfinden,

erinnern Sie sich daran, zu träumen.

So, wie das Kind in der Krippe sich uns erträumt

als Menschen, fähig zu Liebe,

zu Vergebung, Selbstlosigkeit, Gerechtigkeit,

Großzügigkeit und Güte.


Im Traum des Kindes in der Krippe sind wir gut.

Wir brauchen es bloß noch zu werden. Amen.

wir brauchen einander

Predigt am Hl. Abend, 24.12.2022, über Lukas 2,14

Blick in den Schweriner Dom zur Christmette


Liebe Schwestern und Brüder,


„Ehre sei Gott in der Höhe

und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“,


singen die Engel bei den Hirten auf dem Felde.

Friede auf Erden - das ist ein Wunsch,

den man das ganze Jahr über haben kann.

Seit dem 24. Februar, seit 10 Monaten, begleitet er uns dauerhaft.

Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten,

mit all den unglaublichen Grausamkeiten

gab es eine Vielzahl von Kriegen -

als hätten die Schrecken des Weltkrieges nicht gereicht,

den Schwur zu halten, den damals viele gelobten:

„Nie wieder Krieg!“


Wir haben uns daran gewöhnt,

dass immer irgendwo Krieg herrscht.

Aber seitdem ist uns kein Krieg so nahe gekommen,

keiner so nahe gegangen wie der,

der der Ukraine von Russland aufgezwungen wurde.

Um so dringender der Wunsch nach Frieden,

gerade an Weihnachten.


Wer könnte Frieden bringen an Weihnachten?


Knecht Ruprecht mit seinem Sack voller Äpfel,

Nuss und Mandelkern?

Er hat auch eine Rute bei sich,

um damit böse Kinder zu bestrafen.

Diese Art der schwarzen Pädagogik,

die den Willen der Kinder brechen

und ihnen den Willen der Erwachsenen aufzwingen will,

ist heute glücklicherweise verpönt.

Frieden ist mit der Rute nicht zu erreichen.


Der gutmütige, lachende, harmlose Santa Claus,

den wir bei uns „Weihnachtsmann“ nennen,

hat den rutenschwingenden Knecht Ruprecht abgelöst.

Der Weihnachtsmann ist für alle Geschenke zuständig,

die sich heute Abend unterm Christbaum finden:

X-Box und iPhone, Lego und Barbie,

Kuscheltier, Kuscheldecke, Kuschelkissen … -

Sie werden ja gleich sehen,

was der Weihnachtsmann Ihnen heute gebracht hat.

Das ganze Spektrum unserer Konsumgüter -

aber den Frieden, den bringt auch der Weihnachtsmann nicht.


Wer bleibt denn noch, uns an Weihnachten den Frieden zu bringen?

Das Christkind!

Auch das Christkind bringt Geschenke,

wie es im Gedicht von Anne Ritter heißt:

„Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen!
Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee,
mit rot gefrorenem Näschen.

Die kleinen Hände taten ihm weh,
denn es trug einen Sack, der war gar schwer,
schleppte und polterte hinter ihm her -


Das Christkind hat mit dem Christus-Menschenkind,

dessen Geburt wir heute feiern, nur den Namen gemein.

Ein Neugeborenes wäre nicht in der Lage,

durch den Schnee zu stapfen, der Kälte zu trotzen

und einen schweren Sack hinter sich her zu ziehen.

Dazu müsste es erst viele Jahre alt werden.


Ein neugeborener Säugling kann gar nichts tun.

Ein Neugeborenes ist angewiesen auf die Zuwendung seiner Eltern.

Es braucht Nähe, Wärme, Nahrung, Schutz, Liebe.

Es ist völlig abhängig.


Abhängigkeit - das ist etwas, was wir auf keinen Fall wollen.

Wir wollen das Gegenteil: Unabhängigkeit.

Unabhängigkeit ist für uns gleichbedeutend mit Freiheit.

Ein freies, selbstbestimmtes Leben

scheint nur führen zu können,

wer von niemandem abhängig ist,

wer auf niemanden Rücksicht nehmen muss.

Unabhängigkeit - das ist die Losung unserer Zeit.


Aber diese Unabhängigkeit ist eine Illusion.

Wir sind abhängig, und wir bleiben es unser Leben lang.

Im privaten Leben wie als Gesellschaft.

Als Einzelne können wir nicht leben

ohne den Schutz und die Absicherungen, die uns der Staat gewährt.

Wir brauchen die gewachsenen Strukturen der Gesellschaft:

wir brauchen Gesundheitsversorgung, Schulen, Geschäfte,

Banken, Versicherungen, Versorgungsbetriebe,

die uns Wasser und Strom liefern,

den Müll und das Abwasser entsorgen.

Wir brauchen die Liebe eines anderen Menschen,

brauchen Anerkennung, Lob, Respekt -

all das können wir uns nicht selbst geben.


Und als Staaten leben wir gemeinsam auf einem Planeten,

den wir nur gemeinsam retten können - retten müssen,

weil wir sonst zusammen untergehen.

Als Menschen unterschiedlicher Herkunft bereichern wir einander.

Wir erweitern unseren Horizont.

Damit entwickeln wir die Ideen, die es braucht,

um sich neuen Herausforderungen zu stellen.


Unabhängigkeit als Freiheit zu verstehen,

verkennt die Wirklichkeit´.

Unabhängigkeit als oberstes Ziel

ist eine groteske Form des Selbstbetruges.

Wir können nicht ohne andere Menschen leben;

wir können als Staat nicht ohne andere Staaten existieren;

wir können nicht ohne unsere Umwelt leben.


Das Christus-Menschenkind in der Krippe erinnert uns daran,

dass wir abhängig sind voneinander,

dass alle mit allen zusammenhängen.

Wenn man diese Abhängigkeit erkannt und begriffen hat,

versteht man, dass man sich selbst schadet, wenn man anderen schadet.

Das Leid anderer bedeutet, dass auch wir werden leiden müssen,

oder unsere Kinder.

„Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen,

das tut ihnen auch”, sagt Jesus.


Wer begriffen hat, dass alles mit allem zusammenhängt,

wird anderen, wird der Umwelt,

wird den Mitmenschen nicht schaden wollen.

Der Verzicht darauf, anderen zu schaden -

das ist der erste Schritt zum Frieden.


So also bringt das Christus-Menschenkind den Frieden:

Indem es sich uns ausliefert in seiner Schwachheit und Hilflosigkeit

und damit das Beste in uns weckt:

Unsere Liebe. Unser Mitgefühl. Unsere Hilfsbereitschaft.


„Friede auf Erden!”

Die Engel verkündigen die Weihnachtsbotschaft

und die Hirten, die zur Krippe eilen,

finden den Frieden auf Heu und auf Stroh.

Treten auch wir zur Krippe.

Lassen wir uns anrühren vom Christus-Menschenkind,

gestehen wir uns ein, dass wir abhängig sind von unseren Mitmenschen,

und freuen wir uns darüber!

Lassen wir uns bewegen zum Frieden. Amen.


Sonntag, 18. Dezember 2022

Grund ewiger Freude

Predigt am 4. Advent, 18.12.2022, über Philipper 4,4-7:

Freuet euch in dem Herrn allewege,

und abermals sage ich: Freuet euch!

Eure Lindigkeit lasst kund sein allen Menschen!

Der Herr ist nahe!

Sorgt euch um nichts, sondern in allen Dingen

lasst eure Bitten in Gebet und Flehen

mit Danksagung vor Gott kundwerden!

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,

bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.



Liebe Schwestern und Brüder,


„nun lach doch mal!” heißt es,

wenn der Gesichtsausdruck nicht zur Stimmung passt.

Man war in Gedanken woanders,

bei den Sorgen, die eine:n täglich begleiten;

bei einem Problem, das nach einer Lösung verlangt,

oder einfach nur ganz bei sich.


„Nun lach doch mal!”

Manche können das, auf Knopfdruck lachen.

Schauspieler:innen sowieso.

Aber gespielte Fröhlichkeit ist keine echte Freude -

die empfindet man ohnehin nur selten.

Jetzt, an Weihnachten, ist so eine Zeit.

Da kann man in Gesichter blicken, die vor Freude leuchten.


Echte, wahre Freude - was ist das überhaupt?

Muss man sie denn von der gespielten,

der aufgesetzten Fröhlichkeit unterscheiden?

Ist es nicht egal, ob die Freude echt oder aufgesetzt ist -

Hauptsache, lustig!?


Mir jedenfalls ist es nicht gleichgültig.

Dazu ist echte, wahre Freude ein zu seltener Gast bei mir.

Wann freut man sich schon mal von Herzen?

Wann ist man erfüllt von diesem warmen Gefühl,

das die Augen strahlen lässt und das Gesicht leuchten?

Das Dankbarkeit weckt für ein Geschenk,

für diesen besonderen Menschen,

für den einmaligen Moment in der Natur,

auf dem Wasser, im Theater oder Konzert?


Wie passt die wahre Freude, dieser seltene Gast,

mit Paulus’ Aufforderung zusammen, allezeit fröhlich zu sein?

Anders gefragt:

Wie soll Freude zur Lebenshaltung werden können,

wenn sie sich so selten einstellt?


Die Antwort auf diese Frage findet sich in den Worten

„in dem Herrn”.

„In dem Herrn”, das verweist auf eine Quelle der Freude,

die sich außerhalb unserer Reichweite befindet.

Eine Quelle, die wir nicht beeinflussen können,

die nicht in unserer Macht steht.


Die Freude, die Paulus meint, ist also keine,

die von außen in uns angestoßen wird,

durch besondere Erlebnisse,

oder meinetwegen durch die Aufforderung:

„Nun lach doch mal!”.


Es ist eine Freude, die von innen kommt,

aus uns selbst heraus.

Aber ohne, dass wir sie „gemacht” hätten.

Sie ist vielmehr die Antwort auf eine Erfahrung,

die wir mit dem Herzen machen.

Eine Erfahrung, die Paulus „in dem Herrn sein” nennt,

oder an anderen Stellen: „in Christus sein”.


Die Geburt des Christus-Menschenkindes,

die wir an Weihnachten feiern,

ist die Ursache dieser Freude.

Darum variieren die Lieder,

die wir in diesen Tagen singen,

Paulus’ Aufforderung in unterschiedlicher Weise.

In der Adventszeit sangen wir:

„Er ist die rechte Freudensonn,

bringt mit sich lauter Freud und Wonn” (EG 1,3)

oder „Ihr lieben Christen, freut euch nun,

bald wird erscheinen Gottes Sohn” (EG 6,1).

Heute werden wir zum Ausgang singen:

„Tochter Zion, freue dich!” (EG 13,1)

An Weihnachten wird es dann heißen:

„Freuet euch, ihr Christen alle” (EG 34,1),

„Nun singet und seid froh” (EG 35,1)

und natürlich „O du fröhliche” (EG 44,1).


Ein neugeborenes Menschenkind weckt Freude.

Man kann gar nicht anders,

als dieses bezaubernde Wesen aus ganzem Herzen anzuhimmeln.

Gestandene Erwachsene werden beinahe kindisch,

wenn sie einen Säugling sehen;

sie brabbeln „Dutzi, dutzi, du!”,

als wären sie nicht mehr ganz zurechnungsfähig.

Diese zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit

ist eine Folge wahrer Freude:

Sie überwältigt, lässt Stand, Rang und Namen vergessen.

Man verliert dabei unter Umständen sogar die Contenance

- und schämt sich kein bisschen dafür.


Doch nach durchwachten Nächten,

vollen Windeln und Erbrochenem auf der Schulter

bekommt diese Freude Risse.

Spätestens wenn aus dem wundervollen Wesen

eine freche Göre oder ein Rotzbengel geworden ist,

mischen sich in die Freude auch Ärger und Zorn.

Wenn man dann so richtig sauer ist,

fällt einem, wenn es gut geht, wieder ein,

wie man damals dahingeschmolzen ist vor Liebe

beim Anblick dieses kleinen Wunders.

Wie unglaublich lieb man es hatte - und immer noch hat.


Das beseitigt nicht die Ursache des Ärgers.

Aber es relativiert sie.

Der Ärger verliert nun nicht mehr sein Maß,

schießt nun nicht mehr übers Ziel hinaus,

weil man dem geliebten Menschen zwar die Meinung sagen,

ihm aber nicht wehtun möchte.

Genau das ist gemeint, wenn Paulus schreibt:

„Eure Lindigkeit lasst kund sein allen Menschen!”:

Wir erkennen, wenn es gut geht, in dem nervigen Nachbarn,

dem unhöflichen Jugendlichen, der unheimlichen Ausländerin,

dem fiesen Lehrer, der bedrohlichen Polizistin

den Menschen wieder, der wir selbst sind,

genauso liebenswert, genauso bedürftig der Liebe

wie wir.


Diese Liebe, die wir unseren Liebsten gegenüber empfanden

und hoffentlich immer noch empfinden

wird vom Kind in der Krippe in uns geweckt.

Es ist die Liebe, mit der es uns liebt.

Obschon noch ein schwacher, hilfloser Säugling,

lässt uns das Kind in der Krippe sehen und erfahren,

dass es unseretwegen zur Welt kam.

Um uns, Sie und mich, spüren zu lassen,

um es uns, Ihnen und mir, zu zeigen,

was wir einander mit Worten sagen:

Ich habe dich lieb.


Das Kind in der Krippe teilt es uns ohne Worte mit:

Ich habe dich lieb.

Du bist ein besonderer Mensch.

Dein Leben ist unendlich wertvoll.

Nicht, weil du soundso viel besitzt,

dies oder das geleistet hast.

Sondern weil ich dir dieses Leben geschenkt habe,

damit du Glück, Freude und Schönheit erfährst.

Damit du dich allezeit freuen kannst in mir.


Das Kind in der Krippe schenkt uns seine Liebe.

Wenn wir dieses Geschenk annehmen können,

wird es uns zu einer Quelle immerwährender Freude.

Was auch immer geschehen mag:

Wir sind Gott recht so, wie wir sind.

Unser Leben ist gelungen, ist vollkommen,

so bruchstückhaft, vergeblich oder eingeschränkt

es uns auch manchmal erscheinen mag.


„Freuet euch in dem Herrn allewege,

und abermals sage ich: Freuet euch!”

Wie man in Christus, der Quelle der Freude, lebt?

Paul Gerhard verrät es uns in seinem Weihnachtslied

„Ich steh an deiner Krippen hier”.

Dazu braucht es nur einen einzigen, innigen Wunsch:

„So lass mich doch dein Kripplein sein;

komm, komm und lege bei mir ein

dich und all deine Freuden” (EG 37,9).


Amen.

Samstag, 10. Dezember 2022

unendliche Weiten

Predigt am 3. Advent, 11. Dezember 2022, über Jesaja 40,5:

Die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.



Liebe Schwestern und Brüder,


„die Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen”, betet Salomo bei der Weihe des jerusalemer Tempels (1.Kön 8,27). Gott, so sagt es Salomos Gebet, ist noch größer als das Weltall, das doch unvorstellbar groß ist. Schon die Entfernung eines Lichtjahres kann man sich nicht vorstellen;

noch weniger die 78 Milliarden Lichtjahre, die das Universum groß sein soll.


Gott, weit größer als das Weltall, kommt auf die Erde, wird ein Mensch, ein winziger Punkt im Unendlichen. Wie soll man das begreifen? Vielleicht kann uns dabei ein Vergleich aus der Astronomie helfen: Physiker haben berechnet, wie groß der Punkt gewesen sein könnte, der kurz vor dem Urknall das darstellte, was später das Universum werden sollte mit all seinen Galaxien, Sonnen und Planeten. Sie errechneten, dass dieser Punkt etwa so groß gewesen sein müsste wie ein Mensch.


Bevor überhaupt etwas existierte, war das, was zu diesem „Etwas” werden sollte - Physiker sprechen von einer „Singularität” - etwa so groß wie ein Mensch. Ist das nicht ein wunderbarer Vergleich für die Menschwerdung Gottes?! In dem Kind in der Krippe kam Gott, der das Universum weit übersteigt, zu uns auf die Erde, „wohnte unter uns”, wie Johannes schreibt, „und wir sahen seine Herrlichkeit” (Joh 1,14).


„Die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden,

und alles Fleisch miteinander wird es sehen.”


Der allmächtige Gott gibt sich uns Menschen zu erkennen. Seine unvorstellbare Größe konzentriert sich in einer Singularität: einem Baby. Das ist ein wenig enttäuschend. Wenn Gott Mensch wird, müsste er Superman sein oder Wonderwoman. Gottes übermenschlichen Kräfte müssten diesem Supermenschen aus den Augen strahlen; sie müssten gleichsam aus jeder Pore quellen. Wie die Singularität kurz vorm Urknall müsste dieser Supermensch zum Bersten voll göttlicher Kraft sein.


Statt dessen liegt da in der Krippe ein hilfloses, schutzbedürftiges Baby. Ein Baby, angewiesen auf Liebe, Wärme, Rücksicht, Nahrung, Schutz und Freundlichkeit. Ein Kind, dessen Leben schon in den ersten Wochen bedroht ist. Wo ist sie geblieben, die gewaltige Größe, Energie und Macht Gottes?


Sie befindet sich in diesem Kind. Jede:r, die/der Mutter oder Vater geworden ist, die/der einen Säugling im Arm halten durfte, hat diese unglaubliche Macht gespürt: Ist dahingeschmolzen vor Liebe. Wurde augenblicklich ein besserer Mensch. Wuchs meilenweit über sich hinaus. Bekam übermenschliche Kräfte - konnte nächtelang ohne Schlaf auskommen, kilometerweit durch die Wohnung laufen, das schreiende Kind im Arm. Konnte Todesängste ausstehen, wenn irgendetwas mit dem Kind nicht stimmte, bis die Großeltern, eine Freundin oder die freundliche Kinderärztin Entwarnung gaben.


In einem Gedicht, das Benjamin Britten vertont hat, heißt es über das Kind in der Krippe:


„With tears he fights and wins the field,

his naked breast stands for a shield;

his battering shot are babish cries,

his arrows looks of weeping eyes,

his martial ensings Cold and Need,

and feeble flesh his warrior’s steed.”


Auf deutsch:


„Mit Tränen kämpft es und behält das Feld,

die nackte Brust dient ihm als Schild.

Mit seinen Schrein durchbricht es Wälle,

Tränenblicke sind seine Pfeile;

seine Standarten Frieren und Bedürftigkeit,

als Schlachtross dient sein schwacher Leib.”


Ja, ein hilfloses, kleines Kind hat unglaubliche Macht. Gerade weil es so zerbrechlich und bedürftig ist,

weckt es das Beste in uns. Das ist Gottes Herrlichkeit. Nicht das Übermenschliche, das Wunderbare, Großartige und Außergewöhnliche. Sondern die schlechthinnige Abhängigkeit, das bedingungslose Vertrauen auf das Gute im Menschen, auf unsere Liebe.


Gottes Herrlichkeit ist es, weil es eine Singularität ist: Nie zuvor und nie wieder hat Gott sich in unsere Hände gegeben - im vollen Bewusstsein, dass „das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf” (Gen 8,21). Und doch voller Zuversicht, dass sein Vertrauen unsere Liebe wecken wird. Unsere Liebe ist die Resonanz der Liebe Gottes zu uns, der Wiederhall, das Mitschwingen, das Echo von Gottes Liebe. Seine Liebe ist stärker als aller Hass, alle Gemeinheit, alle Gewalt; stärker sogar als der Tod.


Gott offenbart uns seine Herrlichkeit jeden Tag. Immer dann, wenn wir uns bewusst werden, dass wir abhängig sind und dass das nichts Schlechtes ist, sondern der Weg Gottes, uns seine Herrlichkeit zu zeigen. Wir erfahren Gottes Herrlichkeit in der schlechthinnigen Abhängigkeit, in der wir Menschen auf diesem Planeten leben. Wir sind abhängig von einander, anhängig von anderen; wir sind abhängig von unseren Mitgeschöpfen, den Tieren und Pflanzen, abhängig von unserer lieben Mutter Erde, diesem so wunderbaren und so zerbrechlichen blauen Planeten.


Wer diese Abhängigkeit leugnet und nicht wahrhaben will; wer meint, seinen Weg allein gehen zu können oder zu sollen, trennt sich nicht nur von seinen Mitmenschen, nicht nur von der Schöpfung, sondern auch vom Schöpfer.


Wiederum gibt Gottes Herrlichkeit sich uns zu erkennen, wo uns angesichts eines Kindes das Herz aufgeht. Wo wir uns unsere eigene Schwäche eingestehen und Hilfe annehmen können. Wo wir die Schwäche anderer nicht ausnutzen, sondern ihnen helfen, daraus eine Stärke werden zu lassen.


Eines Tages, so verheißt es Jesaja, werden alle Menschen das begreifen. Bis dahin erinnert uns alle Jahre wieder das Christus-Menschenkind daran, wo Gottes Herrlichkeit zu finden ist.

Sonntag, 4. Dezember 2022

Die Stimme des Liebsten

Predigt am 2. Advent, 4. Dezember 2022, über Hoheslied 2,8: 
Maria mit Kind. Holzfigur im Meininger Museum


Die Stimme meines Liebsten, sieh da, er kommt! 

Liebe Schwestern und Brüder,

manche Menschen erkennt man an ihrer Stimme: Nachrichtensprecher. Radio-Moderatorinnen. Erzähler von Hörbüchern. Sängerinnen und Sänger. Man erkennt sie, denn man hört sie täglich. Ihre Stimmen haben sich eingeprägt. 
 Dann gibt es Menschen mit einer besonderen, einer unverkennbaren Stimme. Mit einem sogenannten „Sprachfehler” wie der Schischyphusch aus Wolfgang Borcherts Erzählung. Oder mit einer besonders hohen, besonders tiefen, besonders schrillen oder tragenden Stimme. Einer Stimme, die man nie vergisst. 
Und dann gibt es die Stimme des Liebsten, der Liebsten. Die Stimmen der Eltern und Großeltern, der Kinder und Enkel, des Freundes oder der Freundin. Auch sie hört man täglich oder regelmäßig. Auch sie können unverwechselbar sein, einen besonderen, einzigartigen Klang besitzen. Aber nicht deshalb würde man sie jederzeit wiedererkennen unter tausenden anderer Stimmen. Sondern weil man den Menschen liebt, dem diese Stimme gehört. Und damit auch seine oder ihre Stimme. Die Liebe zum Liebsten, zu seiner oder ihrer Stimme macht diese Stimme für uns so besonders. 

 An der Stimme erkennt man den geliebten Menschen, bevor man sie oder ihn sieht. Mit 300 Metern in der Sekunde breitet sich der Schall aus. So schnell kann niemand laufen. Die Stimme kündigt an, dass der Liebste da ist, sie eilt ihm voraus. 
 In der Adventszeit erwarten wir das Kommen eines ganz besonderen Menschen. Eines Menschen, der von sich sagte: „Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch” (Johannes 15,9). Jesus ist die Liebe Gottes zu uns Menschen, zu jeder und jedem Einzelnen von uns, die in der Krippe greifbar, be-greifbar wird. Die ein Mensch wird und unter uns wohnt. Die als liebenswertes Kind in der Krippe unsere Liebe weckt, wie das alle Kinder tun. So, indem er unsere Liebe weckt, wird Jesus unser Liebster. Im ersten Teil des Weihnachtsoratoriums singt der Alt: „Bereite dich, Zion, mit zärtlichen Trieben,den Schönsten, den Liebsten bald bei dir zu sehn.” 

Es klingt ungewohnt und eigenartig, von Jesus als dem „Liebsten” zu sprechen. Das wirkt ein bisschen zu dick aufgetragen, ist ein bisschen zu viel des Überschwanges. Das passt nicht zu unserer norddeutschen Mentalität, die eher zurückhaltend ist. Doch auch ein zurückhaltender Mensch empfindet Liebe, kann dahinschmelzen vor Liebe, er zeigt das bloß nicht nach außen und spricht nicht gern darüber. 

Die Stimme meines Liebsten, sieh da, er kommt! 

Ja, er ist im Kommen, der Schönste, der Liebste, das Gottes-Menschenkind. Seine Stimme eilt ihm voraus. Aber wann hören wir sie, seine Stimme, und wie? Woran erkennen wir, dass es seine Stimme ist unter den vielen, die täglich auf uns eindringen? 
 Ist Jesu Stimme eine innere Stimme? Ist sie, wie Herman van Veen singt, ein „Trommler, der beharrlich in dir schlägt. Der dich bei aller Gegenwehr auch durch Feindeslager trägt. Hör auf ihn, er sagt dir was. Wenn er sich nicht mehr regt ist das ein Zeichen dafür, dass sich gar nichts mehr bewegt” ? (Herman van Veen, Herz
 Es könnte das Herz sein, mit dem wir die Stimme Jesu wahrnehmen. Früher beteten die Kinder: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand drin wohnen als Jesus allein”. Aber woher weiss man, dass es Jesus ist, den man im Herzen hat, sodass es manchmal heftig schlägt? Und wie ist er da hinein gekommen, in unser Herz? 

Jesu Stimme begegnet uns in den Worten der Bibel. Hinter und zwischen und in den Worten der Schrift steht das eine Wort Gottes, das Jesus Christus ist. Durch dieses Wort hat Gott die Welt geschaffen. Mit diesem Wort spricht er uns gerecht. In diesem Wort schenkt er uns das Leben. Aus den Worten der Bibel spricht er zu uns, Gottes Sohn. Wir hören seine Stimme in den Worten der Propheten. Wir erkennen ihn wieder im Gottesknecht, der den glimmenden Docht nicht auslöscht und das geknickte Rohr nicht zerbricht. Der nicht schreit und nicht ruft, dessen Stimme man nicht auf der Straße hört (Jesaja 42,3.2). Wir hören seine Stimme aus Worten wie „Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir“ (Johannes 10,11.27) oder „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende” (Matthäus 28,20). Seine Stimme erklingt in den Worten, die diese Worte der Schrift nachzusprechen versuchen von der Zeit Jesu bis heute: In Predigten und Bekenntnissen, in Gebeten und Liedern. Sie wird zu Musik, die unser Herz erfüllt und es pochen lässt vor Vorfreude: 

Die Stimme meines Liebsten, sieh da, er kommt! 

Amen.