Samstag, 27. August 2011

Predigt zum Israelsonntag - 28. August 2011

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 28.8.2011, über 2.Mose 19,1-6:

Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.


Liebe Gemeinde,

„Weil ich Jesu Schäflein bin,
freu' ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten,
der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt
und bei meinem Namen nennt.“

So dichtete die Herrnhuterin Henriette Maria Luise von Hayn.
So kindlich, so betulich dieses Lied erscheint, so deutlich spricht es eine Gewissheit aus, die zu den elementaren Grundlagen des Glaubens gehört: dass ich „Jesu Schäflein bin“, dass ich also zu Jesus gehöre, wie ein Schaf zu seinem Hirten. Als „Schäflein“ Jesu gehöre ich zu einer „Herde“ vieler Schäflein, nämlich zur Gemeinde, und damit gehöre ich zum Volk Gottes. Dem Volk, das im Predigttext ein „heiliges Volk“ genannt wird und im Glaubensbekenntnis „Gemeinschaft der Heiligen“.

Zwar ist es elementar, dass man mit der Taufe zur Gemeinde, zu Gott und damit zu seinem Volk, zur Gemeinschaft der Heiligen gehört, man könnte geradezu sagen: Es ist eine Binsenweisheit, eine Selbstverständlichkeit. Aber es ist keineswegs selbstverständlich, dass man sich selbst dazugehörig fühlt.

I
Wer dazugehört, bestimmen nicht wir. Das bestimmen andere.
Schon im Kindergarten, in der Grundschule entscheiden „die anderen“, ob man mitspielen darf oder nicht. Das setzt sich in der Schule fort: Kleidung oder Herkunft, die Anführer in der Klasse bestimmen, ob man dazugehört. Und es hört mit dem Schulabschluss nicht auf. Das ganze Leben entscheiden andere darüber, wer dazugehört. Überall gibt es Vereine, Gruppen, Clubs. Und selbst wenn man Mitglied ist, bedeutet das noch lange nicht, dass man dazugehört. Die anderen müssen einen mögen, akzeptieren. Man muss Einsatz zeigen, Präsenz, Engagement - sonst ist man bald „draußen“.
Selbst in der Kirchengemeinde wurde und wird oft unterschieden zwischen denen, die mitarbeiten, sich engagieren und „richtig“ zur Gemeinde gehören, und den anderen, die zwar Kirchensteuer zahlen, aber nur ab und an zum Gottesdienst kommen.

Besonders drastische Formen nahm die Frage, wer dazugehört, früher auf dem Dorf an. „Zugezogene“ wurden nicht akzeptiert, wurden wie Aussätzige behandelt und mussten sich Ablehnung und Demütigung gefallen lassen. Es half nichts, dass sie wohlhabend, erfolgreich, einflussreich waren oder sich um die Allgemeinheit verdient machten. Bis heute wird der kleine, aber feine Unterschied bemerkt und festgehalten, wer „von hier“ ist, und wer ein Zugezogener.

Am schlimmsten aber traf es zu allen Zeiten die Juden, das Volk Gottes, von dem im Predigttext die Rede ist. Sie waren Mitbürger - und dennoch Menschen zweiter Klasse. Sie wohnten im selben Ort, gingen auf die selbe Schule, sprachen die selbe Sprache - und gehörten doch nicht dazu. Viktor Klemperer, der die Schreckenszeit der Naziherrschaft in seinen Tagebüchern fest hielt, konnte es nicht fassen und begreifen, dass er, der in Deutschland geboren war, der für sein Vaterland im ersten Weltkrieg gekämpft hatte und mit Orden ausgezeichnet worden war, der deutsch sprach, fühlte und dachte, plötzlich allein seines Glaubens wegen nicht mehr Deutscher sein sollte.
Wer dazugehört, bestimmen nicht wir. Das bestimmen andere.

II
Das erlebten auch die ersten Christen. Anfangs spielte sich das, was wir heute „Christentum“ und „Kirche“ nennen, innerhalb der jüdischen Gemeinden ab, in der Synagoge. Die ersten Christen waren Juden und fühlten sich als Juden; es war völlig undenkbar, dass Nichtjuden Christen werden konnten: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, sagt Jesus (Matthäus 15,24). Aber als die Christen auf Konfrontationskurs mit der römischen Staatsmacht gingen, mussten sich die Juden von ihnen trennen. Die Christen wurden aus der Synagoge ausgeschlossen, aus dem Gottesdienst und aus der Gemeinde - und damit aus dem Volk Gottes.
Gehörten die Christen jetzt noch dazu?
Wie konnten sie überhaupt dazugehören, wenn sie aus dem Judentum ausgeschlossen waren?

Paulus, selbst Jude, fand die Lösung:
„Wenn man von Herzen glaubt und mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.“ (Römer 10,10)
Der Glaube, heißt das, begründet die Zugehörigkeit zum Volk Gottes.
Anders gesagt:
Wer die Zusage Gottes: „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ im Glauben ergreift, für den gilt sie, und der gehört dazu.

III
Kann man das glauben, wenn einen andere ausgrenzen?
Kann man sich zugehörig fühlen, wenn einem andere die Zugehörigkeit absprechen?
Ist, um noch einmal Paulus sprechen zu lassen, „das Wort dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen?“ - „Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.“ (Römer 10,8)

Das Wort, um das es hier geht, ist das Wort Gottes, die Zusage „ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“.
Gilt das auch für mich? Und wie kann ich das wissen, wie kann mir dieses Wort nahe kommen, nahe sein? - Gerade dann nahe kommen und nahe sein, wenn andere mich deutlich spüren lassen, dass ich nicht erwünscht, dass ich ausgeschlossen bin?

Es ist mir unbegreiflich, wie die christlichen Kirchen in der Nazizeit sich von ihren jüdischen Schwestern und Brüdern abwenden, sie derart im Stich lassen, denunzieren und ans Messer liefern konnten. Es ist unbegreiflich, wie die christliche Kirche Jesus als blonden, blauäugigen „Arier“ darstellen und so gründlich verdrängen und vergessen konnte, dass er Jude war.

Jeder hat wohl schon die Erfahrung machen müssen, dass es in Gruppen oft nicht um die Sache geht, sondern um Sympathien. Dass man sich als Gruppe von anderen abgrenzt, unterscheidet zwischen „uns“ und „denen“, wobei „wir“ natürlich besser sind als „die“. Die Zugehörigkeit, der Stallgeruch ist oft wichtiger als Fähigkeiten oder Leistungen.
Und andersherum: Wer dazugehören will, muss ein „Freund“ sein, muss sich duzen, muss andere mögen und gemocht werden. Es genügt nicht, dass das Engagement um eine gemeinsame Sache verbindet, es müssen andere Bindungen gesucht und geschaffen werden. „Blut ist dicker als Wasser“, heißt es, und das gilt nicht nur für Familien. Auch Gruppen suchen oft nach familiären Strukturen, nach einem Zusammenhalt, der manchmal in die bedrohliche Nähe zum Kadavergehorsam gerät. Wer dann nicht für die Gruppe ist, ist gegen sie. Wer sich dann eine andere Meinung, gar Kritik erlaubt, wird als Nestbeschmutzer gebrandmarkt. Wer sich nicht an die Spielregeln der Gruppe halten will oder halten kann, fliegt raus.

IV
„Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“. Um zum Volk Gottes, um zur Gemeinde zu gehören, braucht es keine Sympathien. Man muss sich nicht duzen. Man muss sich nicht einmal mögen. Es ist schließlich nicht irgend jemandes Stimme, der man gehorchen muss; es ist Gottes Stimme. Keine Satzung, keine Geschäftsordnung, keine Regel bildet das Volk Gottes, die Gemeinde, und hält sie zusammen, sondern Gottes Bund mit uns Menschen. Das Zeichen dieses Bundes ist für uns Christen die Taufe.
Mit anderen Worten: Wer glaubt und getauft ist, gehört zur Gemeinde. Weiter ist nichts nötig.
Sie alle gehören dazu. Zu dieser Gemeinde. Weil Sie hier sind. Weil wir gemeinsam Gemeinde sind. Es spielt keine Rolle, welcher Partei Sie angehören. Wo Sie wohnen. Welche Nationalität, Schuhgröße, welches Geschlecht und welchen Intelligenzquotienten Sie haben. Es spielt nicht nur keine Rolle. Es ist so unwichtig wie nur irgendwas.
Und darum kräht auch hier, in der Klosterkirche niemand danach, ob Sie Riddagshäuser sind oder nicht. Ganz egal, was andere sagen oder meinen.

V
„Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen. Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.“ Das Wort, das uns zusagt: Du gehörst dazu, ist uns ganz nahe. Wir können es in der Bibel lesen, und wir spüren, dass es wahr ist. Und dennoch kann es sein, dass es unendlich schwierig ist, dieses Wort auch gelten zu lassen. Denn leider können wir uns das Wort nicht selbst sagen. Um es wirklich glauben zu können, muss es uns ein anderer sagen. Ein anderer muss uns sagen: Du gehörst dazu. Du bist nicht weniger wert als wir. Wir respektieren und akzeptieren dich, und du musst uns dafür keinen Gefallen tun.

Deshalb muss das Wort gepredigt werden. Nicht nur heute, nicht nur von mir und nicht nur von dieser Kanzel. Wir alle sind in der Lage, eine solche Predigt zu halten. Indem wir Menschen einschließen, nicht ausschließen. Indem wir Menschen sein lassen, statt von ihnen zu verlangen, sie sollten sich uns anpassen. Indem wir nicht unterscheiden zwischen „wir“ und „ihr“, „innen“ und „außen“, sondern die Türen öffnen und hereinlassen, wer zu uns kommen will. „Porta patet - cor magis“, war der Leitspruch der Zisterzienser, „Die Tür steht offen - und mehr noch das Herz.“

Amen.

Sonntag, 21. August 2011

Schaffe, schaffe, Häusle baue - Predigt über Matthäus 7,24-27

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis, 21. August 2011, über Matthäus 7,24-27:

Jesus sprach: Wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, fiel es doch nicht ein; denn es war auf Fels gegründet. Und wer diese meine Rede hört und tut sie nicht, der gleicht einem törichten Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Platzregen fiel und die Wasser kamen und die Winde wehten und stießen an das Haus, da fiel es ein, und sein Fall war groß.


Liebe Gemeinde,

„schaffe, schaffe, Häusle baue“ - die Schwaben, heißt es, seien fleißige Leute. Darum fällt einem als erstes dieser Satz ein, wenn es um die Schwaben geht: Schaffe, schaffe, Häusle baue.
Aber nicht nur die Schwaben legen wert auf ein eigenes Häuschen. Ein eigenes Haus - davon träumt wohl jede und jeder im Laufe des Lebens. Wo immer ich ein leerstehendes Haus entdecke, bleibe ich stehen und überlege mir, ob man es renovieren könnte und wie es wäre, dort zu wohnen. Andere gehen durch die Neubauviertel spazieren, um sich die neuesten Häusermodelle anzusehen. Und wieder andere gestalten ihr Eigenheim, haben gerade gebaut oder sind dabei, zu bauen.

Fast jeder Mensch träumt vom „Häusle baue“, und viele setzen diesen Traum in die Tat um. Dafür nimmt man viele Entbehrungen, viel Arbeit, hohe Schulden auf sich. Es ist schließlich ein Lebenstraum. Das Haus, neben der Haut und der Kleidung unsere dritte Hülle, verkörpert einen wichtigen Teil unseres Lebens - es ist ein wichtiger Teil unseres Lebens. Entsprechend stolz ist man auf das eigene Heim, wenn es erst einmal fertig ist.

Kein Wunder, dass man auf das Haus sehr viel Zeit, Geld, sehr viel Nachdenken und Sorgfalt verwendet. Darum käme niemand, der ein Haus bauen will, auf die Idee, es auf Sand zu bauen. Weder beim Fundament des Hauses noch bei seiner Finanzierung darf etwas wackeln.
Das Gleichnis, das Jesus erzählt, erscheint beim ersten Hören deshalb irgendwie banal: Wer ein Haus baut, verwendet selbstverständlich größte Sorgfalt auf sein Fundament, auf seine Qualität. Kein vernünftiger Mensch käme auf die Idee, sein Haus auf Sand zu bauen.

II
„Das einzige Haus, das ich je zuvor besessen hatte, war ... ein Zelt, das ich gelegentlich benützte, wenn ich im Sommer Ausflüge machte, und das noch zusammengerollt auf meinem Speicher liegt“, schrieb der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau, bevor er seine Holzhütte am Walden-Teich errichtete.
Im Bilderbuch „Petterson zeltet“ entdeckt Findus, der Kater des alten Petterson, dessen Zelt auf dem Dachboden, und der alte Petterson erinnert sich, wie er früher, als er jung war, auf dem Fjell gezeltet hat, und wie schön und aufregend das war.
Das Zelt hat für uns, die wir keine Nomaden sind, keine Beduinen und keine Indianer, etwas Provisorisches - und zugleich den Geruch von Freiheit und Abenteuer. Als Kind oder Jugendlicher zeltet man, des Abenteuers wegen, um einmal die Nacht, den Wind und den Regen hautnah zu erleben - manchmal wird er allerdings zu hautnah. Die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz in Kairo und am Rothschild-Boulevard in Tel Aviv zelten. Aber nur zur Not, um besondere Aufmerksamkeit zu erregen, aus Protest.

Ab einem bestimmten Alter übernachtet man nicht mehr im Zelt, sondern logiert in festen Häusern. Das hat nicht nur mit dem Komfort zu tun, den man ab diesem bestimmten Alter braucht, vor allem, was die Schlafstelle angeht, und den ein Zelt nun einmal nicht bieten kann. Ein Zelt ist etwas Provisorisches, nur gerade gut genug, eine kurze Zeit vor Wind und Wetter zu schützen. Lange hält man es dort nicht aus, erst recht nicht, wenn es stürmisch, regnerisch oder gar kalt ist.

Aber das Provisorische hat auch seine Vorteile. Als ich von zuhause auszog, um das Studium zu beginnen, passte mein Hab und Gut in den Kofferraum eines Autos. Ich hatte wenig Geld - trotz der Unterstützung meiner Eltern immer zuwenig, um genau zu sein. Aber es reichte zum Leben, und ich war glücklich, wenn ich mir auch nichts leisten konnte.

Ein Haus erfüllt nicht nur einen Lebenstraum - es ist auch eine Belastung. Man muss Geld verdienen und sparen, um sich ein Haus leisten zu können. Man muss viel Zeit und Arbeit investieren. Man macht sich immer wieder Sorgen, ob man die Schulden zurückzahlen kann. Ob auch nichts kaputtgeht am Haus. Ob jemand einbricht.

III
Der Traum vom eigenen Heim ist ein Lebenstraum - bestimmt nicht unser einziger. Wir hatten und haben auch andere Träume: Eine große Reise. Ein Leben im Ausland. Etwas schaffen, das Dauer hat. Das Engagement für eine gute Sache, für Menschen in Not, für eine Partei, für die Gemeinde. Mehr Zeit für die Kinder, für die Eltern. Ein anderes Leben - bewusster. Ökologischer. Sinnvoller. Viele unserer Träume drehen sich um uns selbst - was wir erleben, was wir machen oder sein wollen. Es geht um Selbstverwirklichung, um Selbstfindung.

Jesus hat auch Träume gehabt. Er hat von einer anderen Welt geträumt, vom Reich Gottes. Er hat von Gerechtigkeit geträumt für Schwächere, von Heilung für Kranke, von Respekt für die, mit denen andere nichts zu tun haben wollen. Von einer liebevollen Haltung, sogar den Feinden gegenüber. Von Verantwortung für die Mitmenschen. Von Frieden auf Erden. Seine Träume drehen sich um andere - um seine Mitmenschen. Es geht um Nächstenliebe, um Barmherzigkeit.

Sind die Träume Jesu auch unsere Träume?
Oder, anders herum gefragt: Hat man, wenn das Eigenheim der Lebenstraum ist, noch Zeit und Phantasie für andere Träume? Hat man die Mitmenschen noch im Blick, oder wird der Blick verengt auf die eigenen vier Wände, die eigene Familie? Zieht das Haus, zieht der Besitz so sehr an einem, dass man keine Kraft mehr für weitere Schritte hat?

Menschen brauchen, so scheint es, ein Haus, brauchen die eigenen vier Wände, als Basis für weitere Unternehmungen. Der Gedanke, obdachlos zu sein, ist ein schrecklicher, beängstigender Gedanke. Deshalb ist das Fundament des Hauses so wichtig: Damit es Dauer hat und auch Stürmen und anderen Gewalten standhält. Erst, wenn man sein Haus bestellt hat, ist man bereit, auch anderes in Angriff zu nehmen, seine Träume zu verwirklichen.

IV
Jesus träumt von Nächstenliebe und Barmherzigkeit: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft, und deinen Nächsten wie dich selbst.“
Bei uns geraten Gott und die Mitmenschen manchmal aus dem Blick, weil unsere Träume sich zuerst um uns selbst drehen.

Ein Haus bauen - das ist ein Stück Selbstverwirklichung und Lebensgestaltung. Man erfüllt sich einen Traum und hofft, dass man anschließend glücklicher ist. Aber, wenn man ehrlich ist, geht die Rechnung nicht auf. Weder Häuser noch Autos, weder Wissen noch Leistung können uns das Glück geben, das eine simple Begegnung mit einem netten Menschen schenkt; das man durch Zuneigung und Liebe findet, die man verschenkt und die erwidert werden.
Die Hoffnung, durch Besitz, den man sich schafft, auch etwas, auch jemand zu sein, hat auf Sand gebaut. Ein tragfähiges Fundament ist allein das Leben in Beziehungen zu anderen Menschen, nahen und fernen. Besitz ist meistens eine Last, die auch die Beziehungen zu anderen belastet.

Der kluge Mensch ist nach Jesu Worten also nicht der, der sich ein festes Haus aus Stein baut. Sondern eher der, der zur Not im leichten, luftigen Zelt unterwegs ist. Weil das feste, behäbige Haus einen davon abhalten kann, vom Hören des Wortes Jesu zum Tun zu kommen. In den USA, wo es so viele streng gläubige Christen gibt, gibt es auch die größte soziale Ungerechtigkeit. Die Tea-Party-Bewegung - alles gute, gläubige Christen - kämpft mit aller Macht darum, die Steuern für die Wohlhabenden zu senken - und ebenso die Gehälter der Arbeiter und Angestellten. Sie blockiert die allgemeine Gesundheitsversorgung und alle Maßnahmen zum Umweltschutz.
Die Gier nach Besitz und die Angst, ihn zu verlieren, wenn man andere am Wohlstand teilhaben lässt, machen diese Leute blind für die Botschaft Jesu. Sie kämpfen wehement gegen Abtreibung, aber es macht ihnen nichts aus, wenn Menschen auf der Straße leben müssen. Und sie bemerken nicht einmal den Widerspruch in ihrem Handeln.

Bei uns gibt es keine Tea-Party-Bewegung. In unserer Gesellschaft ist die Verantwortung für die Schwächeren zum Glück so tief verwurzelt, dass niemand ernsthaft auf die Idee käme, die Krankenversicherung abzuschaffen, oder die Arbeitslosenunterstützung. Aber auch uns ist in wirtschaftlich schwierigen Zeiten das Hemd näher als die Jacke. Und auch bei uns wird vor allem der etwas, der sich rücksichtslos durchsetzt, der seinen eigenen Vorteil erkennt und wahrt - nicht der, der sich solidarisch mit anderen und rücksichtsvoll verhält.

V
Mancher hat vielleicht noch ein Zelt auf dem Speicher liegen. Vielleicht sollte man es wieder einmal hervorholen und auspacken, am Zeltstoff riechen und sich erinnern an Zeiten, als man viel weniger zum Leben brauchte - und trotzdem ungemein glücklich war.

Wenn es gerecht zugehen soll in der Welt, wenn alle Menschen eine faire Chance bekommen sollen, geht das nur, wenn wir, die wir so viel besitzen, bereit sind, etwas abzugeben. Man muss nicht gleich im Zelt leben. Aber man braucht auch nicht all das, was wir heute zu brauchen meinen.
Wenn wir mit leichtem Gepäck reisen - nicht in jeder Hand einen Koffer, sondern nur einen Rucksack auf den Schultern - können wir einander viel leichter die Hand reichen. Und die Energie, die Zeit und das Geld, die wir sonst ins „Schaffe“ und „Häusle baue“ stecken würden, ist viel besser dort angelegt, wo Hilfe nötig ist. Auf diese Weise bauen wir ein gemeinsames Haus für alle Menschen, auf solidem Fundament. Und kein Sturm, kein Unwetter, nichts wird es umreißen.

Amen.

Sonntag, 14. August 2011

Predigt zum Mauerbau über Jesaja 2,1-5

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 14.8.2011 (Gedenken an die Reformation der Klosterkirche am 10.8.1568), über Jesaja 2,1-5:

„Das ist’s, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem:
Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Haus Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“


Liebe Gemeinde,

die vergangenen Tage waren geprägt von der Erinnerung an den Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961. Wer die Mauer noch kannte, hat sich an die Beklemmung, die Angst, den Zorn oder die Trauer erinnert, die man in ihrer Gegenwart empfand. Die ab Mitte der 80er Jahre Geborenen kennen die Mauer und den Grenzzaun nur noch aus Erzählungen, aus den Filmen, die in den vergangenen Tagen gezeigt wurden, oder als Museumsstück. Das Gefühl, das einen in ihrer Nähe überkam, kennen sie nicht mehr. Zum Glück.
Auch die Mauer in den Köpfen sei im Wesentlichen verschwunden, stand gestern in der Zeitung zu lesen. Diese Mauer wohl. Aber es war nicht die einzige Kopf-Mauer, die errichtet wurde.
Als Martin Luther 1519 eine Kopf-Mauer niederriss, um die Kirche aus ihrer babylonischen Gefangenschaft zu befreien, wurde von der katholischen Mutterkirche eine neue errichtet, um sich von den ketzerischen Protestanten abzugrenzen. Bald bauten Luther und seine Schüler, bald bauten die protestantischen Theologen an dieser Mauer mit. Wenn man sich die Geschichte der Kirche ansieht, vom 30jährigen Krieg bis zum Nordirlandkonflikt unserer Tage, dann war diese Kopf-Mauer tödlicher, als es die Mauer, an deren Bau wir uns dieser Tage erinnern, je war.

I
Zahlreiche und schreckliche Kriege wurden aus Glaubensgründen geführt. Die tatsächlichen Gründe waren meist handfester und weltlicher Natur - Geld und Macht spielten dabei immer eine Rolle. Aber die Glaubensunterschiede lieferten den Vorwand und hielten den Konflikt in Gang.
Wenn man, wie eben, von Schwertern zu Pflugscharen und Spießen zu Sicheln hört, kann man es sich gar nicht vorstellen, dass der christliche Glaube, der so friedliche Bilder zeichnet, zu solchem Blutvergießen führen konnte. Wie geht es zusammen, dass Jesus den Frieden predigt und den Gewaltverzicht, die Kirche aber, die sich auf ihn beruft, immer neue Kriege gegen Andersdenkende geführt hat?

Menschen errichten Mauern - nicht nur Mauern und Zäune, um ihr Grundstück abzugrenzen und sich vor fremden Blicken zu schützen. Sondern vor allem Kopf-Mauern, mit denen man sich von denen abgrenzt, die anders sind, anders denken als man selbst. Man ist immer wieder versucht, zwischen „uns hier drinnen“ und „denen da draußen“ zu unterscheiden. Man sucht nach Unterschieden, nach Unterscheidungsmerkmalen. Und man findet sie. Mal ist es die Hautfarbe. Mal das Geburtsland. Mal die sogenannte „Rasse“. Und immer wieder der Glaube, die Religion. Die Verschiedenheit, das Uneinheitliche, „Multi-Kulti“ ist, so scheint es, schwer zu ertragen. Oder muss gar bekämpft werden.

Die Bibel stiftet dazu an. Denn dort wird immer wieder unterschieden zwischen dem „Volk Gottes“ und den „Heiden“ - zwischen „uns hier drinnen“ und „denen da draußen“. Aber das ist ein Mißverständnis. Die Christen zählten nämlich anfangs auch zu den Heiden. - Bis der Apostel Paulus verkündigte, dass nicht entscheidend ist, ob man zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gehört, um Teil des Volkes Gottes zu sein, sondern der Glaube. Mit einem Mal fiel die Kopf-Mauer, und Paulus schrieb das neue Gemeinschaftsmanifest: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ (Galater 3,28-29)

II
Ein genialer Schachzug des Paulus, der mit Hilfe des Glaubens die Christen ins das Volk Gottes eingepfropft hat. Und doch war es keine Willkür, die ihn trieb; die Bibel selbst spricht ja von der Aufhebung der Unterschiede. So lädt der Predigttext alle Heiden und viele Völker ins Haus Gottes und in seinen Bund ein. Und dieser Bund ist - wie könnte es anders sein, wenn die Unterschiede aufgehoben und die Kopf-Mauern eingerissen werden - ein Bund des Friedens. Ein Bund, in dem Schwerter zu Pflugscharen werden und Spieße zu Sicheln, ein Bund, in dem niemand mehr lernt, Krieg zu führen.

Ist das nicht alles ein frommer Wunsch? Immerhin spricht Jesaja von einer „letzten Zeit“. Er spricht nicht vom Hier und Heute, sondern von einem Tag, der seit den 2.700 Jahren, die vergangen sind, als Jesaja diese Zeilen schrieb, noch immer in weiter Ferne liegt, und der vielleicht nie kommen wird.
Doch das stimmt nicht.
Zwar hat sich die Vision Jesajas nicht erfüllt - nach wie vor werden viel zu wenig Waffen zu Werkzeugen umgeschmiedet, nach wie vor lernen viel zu viele Menschen, wie man andere Menschen tötet. Aber die Vision, dass Schwerter zu Pflugscharen werden, hat Menschen beflügelt und hat ihren Beitrag zum Fall der Mauer geleistet. „Schwerter zu Pflugscharen“ war nämlich das Kennzeichen der Friedensbewegung in der damaligen DDR, und Anfang der 80er trugen viele einen Aufnäher mit dem Emblem des Schmiedes auf der Jacke, der aus einem Schwert eine Pflugschar macht. Als der Aufnäher von der Staatsmacht verboten wurde, ersetzten ihn Mutige durch einen weißen Flicken, auf den sie schrieben „Hier war ein Schmied“.
Mit Humor und mit dem Mut zu kleinen Widerständen wurden Kopf-Mauern eingebrochen. Das bereitete den Fall der großen Mauer vor.

III
Mauern grenzen nicht nur aus und ab. Mauern halten auch zusammen. Erst durch Mauern entsteht ein Haus. Eine Kirche hat Mauern. Das Haus des Herrn aus dem Predigttext hat Mauern. Auch der Weg Gottes hat klare Konturen; er ist nicht beliebig: Gottes Wort, Gottes Weisung gibt eine Richtung vor, in die es geht. Gott richtet damit die Menschen aus, er weist die Völker zurecht.
Es gibt also doch ein Richtig und ein Falsch, ein Draußen und ein Drinnen!
Ja, das gibt es. Ebenso, wie es die Möglichkeit gibt, sich nicht an Gottes Weisung zu halten, seinen eigenen Weg zu gehen. Wie es die Möglichkeit gibt, Gottes Wort falsch zu verstehen und in die Irre zu laufen. Aber darüber zu richten, wer falsch liegt, darüber zu entscheiden, wer sich nicht richtig verhält, das liegt nicht in unserer Macht. Es ist allein Gottes Sache. Er wird richten und zurechtweisen, nicht wir. Und das auch nicht hier und heute, sondern zu einer anderen, „zur letzten Zeit“.
Wir haben dazu nichts zu sagen. Im Gegenteil: Auch wir könnten zu denen gehören, die etwas falsch verstanden haben, die auf dem falschen Weg sind und von Gott neu ausgerichtet oder zurechtgewiesen werden müssen.

Wir grenzen uns ab. Wir benennen, was wir als richtig, was wir als falsch erkennen. Aber wir können nicht wissen, ob wir recht haben - das weiß Gott allein. Und deshalb können wir niemals endgültige Grenzen ziehen, wir können niemanden ausgrenzen, niemanden verurteilen. Das kann allein Gott. Wenn wir uns das klar machen und wenn wir uns daran halten, dann werden die Grenzen, die wir ziehen, durchlässig sein. Wenn wir damit rechnen, dass wir uns irren könnten, wenn wir auch der Gegenseite ihr Recht und ihre Wahrheit zugestehen, verhindern wir, dass eine Kopf-Mauer entsteht.

IV
Noch immer gibt es Protestanten und Katholiken - und unzählige andere Konfessionen und Denominationen, ganz zu schweigen von den anderen Weltreligionen. Dass wir die Mauern, die uns trennen, eines Tages zu Fall bringen werden, ist nicht in Sicht - im Gegenteil: In Zeiten knapper werdender Finanzen und schwindender Mitglieder kommen manche auf die Idee, die Mauern noch etwas höher zu machen. Auf die eigene Konfession zu pochen und sich abzugrenzen von den anderen. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, mit 47 Jahren jüngster Bischof der katholischen Kirche, sagte neulich in einem Interview: „Meine Aufgabe als Bischof ist, für die Tradition der Kirche einzustehen. Da bin ich im wörtlichen Sinne konservativ. Ich möchte nichts am Zölibat ändern und am Nein zum Frauenpriestertum, nichts an der Haltung zur Sexualität. Wir müssen aber einen neuen Stil finden, das überzeugend zu sagen.“ (SZ vom 30.7.2011, S.8)
Hier werden Brücken abgerissen, auch zu den eigenen Leuten, statt Brücken zu bauen.

Die Zukunft der Kirche aber liegt nicht darin, sich einzumauern.
Selbst die Mönche des Klosters Riddagshausen, die hinter ihrer hohen Mauer lebten und niemanden ins Kloster ließen, haben trotzdem im Austausch mit der Welt gelebt. Die ersten, die Luthers aufregend neue Gedanken aufnahmen und weitertrugen, waren die Mönche und Nonnen in den Klöstern. Viele sind trotzdem im Kloster geblieben. Sie wollten nicht alles neu und anders machen, sie wollten Veränderung. Sie wollten die Mauern durchlässiger machen. Die aus Stein, und die im Kopf. Leider war die Zeit damals noch nicht reif.

V
Ist sie es heute?
Wenn man den Bischof Overbeck hört, hat man seine Zweifel. Wie sagt ein Sprichwort? „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“
Es wird wohl immer solche geben, die Mauern bauen, weil sie sich hinter Mauern sicher fühlen. Die Mauern brauchen, weil sie Angst haben vor der Weite, vor dem Wind der Veränderung. Man soll das nicht falsch nennen. Man soll nicht die Windmühlen- gegen die Mauernbauer ausspielen. Vielmehr sollen die Windmüller geduldig ihr Korn mahlen. Wenn dann der Duft von frischem Brot über die Mauern weht, kommen die anderen schon von selbst dahinter hervor. Das ist bei der Mauer, die vor 50 Jahren gebaut wurde, so gewesen. Und das wird auch die Kopf-Mauern eines Tages einreißen. Und ich bin zuversichtlich, dass wir darauf nicht bis zum Jüngsten Tage werden warten müssen.

Amen.


Foto des Aufnähers im Haus der Geschichte, Bonn/Leipzig

Sonntag, 7. August 2011

Die Lösung des Problems

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 7. August 2011, über Johannes 6,30-35:

Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? Unsre Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben steht (Psalm 78,24): »Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.« Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.


Liebe Gemeinde,

ach, wäre das schön, wenn man Probleme ganz einfach lösen könnte. Wenn Autos mit Wasser fahren würden, wenn man das klimaschädliche Kohlendioxid einfach im Boden verschwinden lassen und den radioaktiven Müll im nächsten Vulkan versenken könnte - der Ätna böte sich da gerade an ...

Ach, wäre das schön, wenn es auch eine einfache Erfindung gäbe, um Menschen satt zu machen. Angesichts der Nachrichten und Bilder aus Somalia, vor allem von verhungernden oder bereits verhungerten Kindern, ein ganz dringlicher Wunsch.
Man fragt sich, warum es überhaupt so weit kommen musste - warum eine Dürre, die vorhersehbar war, und der daraus resultierende Mangel an Nahrung, den man doch nicht erst seit einigen Wochen ahnen konnte, erst dann Hilfe auf den Plan rufen, wenn es zu spät ist: Wenn Kinder und Erwachsene sterben, verhungern.

Jesus bietet für das große Problem, wie Menschen satt werden, eine offenbar einfache Lösung an. Wir haben sie in der Evangeliumslesung gehört:
"Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."


I
Es gibt immer wieder Leute, die glauben, sie haben die einfache Lösung für ein schwieriges Problem entdeckt. Manchmal gibt es tatsächlich eine ganze simple Lösung. Im Alltag macht man immer wieder diese Erfahrung, z.B. dass ein Verschluss, den man nicht mal mit Gewalt aufbekommt, mit einem simplen Trick zu öffnen ist. Oft muss man nur diesen Trick kennen, muss wissen, wie's geht - schon meistert man die kompliziertesten Situationen.
Diese einfachen Lösungen, denkt man, müsste es doch auch für die großen Probeme geben. Man muss nur auf den Trick kommen. Und manchmal geht's einem wie Wickie: man hat einen Geistesblitz und denkt, jetzt hat man ihn gefunden, den Trick, so könnte es gehen. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt - und spätestens dann, wenn man mit jemand anderem darüber spricht -, zeigt sich, dass man doch etwas Wesentliches übersehen hat, und dass die Lösung nicht so einfach ist, wie man dachte.
Für die großen Probleme scheint es keine einfachen Lösungen zu geben. Die Reduzierung der globalen Erwärmung, die sichere Beseitigung des Atommülls, die Zukunft des automobilen Verkehrs und vor allem die Bekämpfung des Hungers - dafür hat noch niemand ein Patentrezept gefunden.

Oder vielleicht doch? Hat Jesus vor knapp 2.000 Jahren bereits die Lösung für das Problem des Hungers gefunden?
"Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."


Beim ersten Hören klingt es so. Nie mehr hungrig, nie mehr durstig sein - was für eine tolle Aussicht! So wird im Johannesevangelium kurz vorher auch die Geschichte von der Speisung der 5.000 erzählt, die von fünf Broten und zwei Fischen handelt, die Jesus unter 5.000 Menschen verteilte. Sie wurden satt davon - und am Ende blieben sogar 12 Körbe mit Brocken übrig.

II
Was bei der Speisung der 5.000 geschah, war ein Wunder.
Ein Wunder aber, das lehrt uns die Erfahrung, ist keine Lösung. Wunder gibt es zwar immer wieder, wie es in einem Schlager heißt, aber sie passieren doch so unberechenbar und zufällig, dass man sich nicht auf sie verlassen kann. Für Somalia jedenfalls steht ein Wunder noch aus. Für unsere Umwelt, für unser Klima, für die von der Atomkatastrophe in Fukushima betroffenen Menschen steht ein Wunder noch aus.

Aber ein Wunder scheint Jesus auch nicht zu meinen, wenn er sagt:
"Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."

Jesus gibt hier nichts, und er tut hier auch nichts. Kein Brotbrechen, kein Austeilen.
Körperlicher Hunger und Durst sind hier gar nicht gemeint. "Zu Jesus kommen" bedeutet dasselbe wie "an Jesus glauben". Es geht um den Glauben, nicht ums Essen - körperlichen Hunger und Durst kann der Glaube nicht stillen.

Der Hunger, den Jesus hier meint, ist ein Hunger der Seele. Den gibt es auch. Jemand ist "hungrig nach Anerkennung", sagt man, oder "hungrig nach Liebe". Man hat "Wissensdurst" oder "dürstet nach Erkenntnis". In solchen Redewendungen drücken sich Hunger und Durst der Seele aus.
Ich weiß nicht, ob man auch seelisch verhungern kann. Aber quälend und schmerzhaft kann auch der seelische Hunger sein. Und er ist nicht weniger schwer zu ertragen als der körperliche.

III
"Erst kommt das Fressen,
dann kommt die Moral"
,
singt Meckie Messer in der "Dreigroschenoper".
Wenn Menschen hungrig sind und ihnen das Lebensnotwendige fehlt, kann man nicht erwarten, dass sie sich menschlich verhalten. Wenn Hunger und Durst zu groß werden, wird alles andere zur Nebensache. Erst muss man satt sein, dann kann man sich auch wieder um Anderes kümmern.

Es gibt Ausnahmen von dieser Regel. Es gibt Menschen, die auch in extremsten Situationen ihre Menschlichkeit bewahrt haben und die dadurch zu einem Vorbild für andere geworden sind. Pater Kolbe zum Beispiel, der freiwillig für einen anderen KZ-Häftling, der von der SS willkürlich für den Hungertod ausgewählt worden war, in den Hungerbunker ging, weil dieser Familie hatte und er nicht.
Irgendetwas hatte dieser Pater Kolbe. Etwas, das ihn so gesättigt hat, dass er den Hunger, der auch ihn quälte, aushalten konnte. - Sein seelischer Hunger war gestillt. Wenn der Hunger der Seele gestillt ist, kann man offenbar körperlichen Hunger besser aushalten. Oder zumindest in Situationen, wo erst das Fressen kommt und dann die Moral, die Menschlichkeit bewahren.

Wie werden Menschen satt?
Keine Frage: Indem sie etwas essen.
Nein, das ist noch nicht die Antwort. Denn auch ein satter Mensch empfindet noch Hunger. Den seelischen Hunger, den auch eine üppige Mahlzeit nicht stillen kann.

IV
Was Jesus anbietet, wenn er sagt:
"Ich bin das Brot des Lebens.
Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten"
,
was Jesus anbietet ist etwas, das den Hunger der Seele stillen kann.
Jesus bietet sich selbst an, um den Hunger der Seele zu stillen.
Jesus bietet sich an, durch ihn die direkte Verbindung mit Gott herzustellen,
"denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben".
Der direkte Draht zu Gott, die Verbindung mit der Schöpfermacht, mit der Fülle des Lebens, stillt den Hunger der Seele. Was könnte ihn besser stillen?

Wer so mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott angesehen und anerkannt. Der kann die Anerkennung seiner Mitmenschen genießen, muss sie aber nicht um jeden Preis haben. Kann selbst andere anerkennen, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Und kann anderen Anerkennung gönnen, ohne das Gefühl zu haben, zu kurz zu kommen.

Wer so mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott geliebt. Der muss nicht alle Liebe von seinen Mitmenschen, von Partnerin oder Partner erwarten. Der kann es aushalten, wenn eine Beziehung nicht so glücklich ist wie am Anfang, kann Durststrecken und Krisen einer Beziehung ertagen und die Beziehung über diese Durststrecke hinwegtragen.

Wer so mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott angenommen, auch mit seinen Fehlern, seinem Versagen, seiner Schuld. Der findet den Mut, noch einmal von vorn anzufangen. Und der findet die Größe, auch anderen zu vergeben, auch mit anderen noch einmal von vorn anzufangen.

Wer so mit Gott verbunden ist, hat die Fülle des Lebens gefunden. Der muss nicht die Gier pflegen, wie sie an der Börse nötig ist, um immer mehr Wachstum, immer größere Gewinne zu erzielen. Der muss nicht den Neid empfinden auf das Glück und den Reichtum der anderen, mit dem die Werbung uns völlig überflüssige Dinge, völlig überdimensionierte Autos und Motoren andrehen will. Der muss nicht geizig sein, um die innere Leere durch ein volles Konto zu kompensieren.

V
Vielleicht gibt es sie ja doch, die einfache Lösung der großen Probleme. Vielleicht liegt sie näher, als wir meinen - der Trick, sozusagen, mit dem der Verschluss aufgeht.
Vielleicht liegt die Lösung darin, dass wir, die wir körperlichen Hunger nicht mehr kennen, auch erkennen, dass der Hunger unserer Seele gestillt ist. Wir sind mit Gott verbunden - auf die engste nur denkbare Weise. In jedem Abendmahl feiern wir diese Verbindung, indem wir Gott in uns aufnehmen - ihn essen, so dass er in uns ist. Mit dem Leib Christi nehmen wir Gottes Fülle in uns auf, sie ist in uns wie ein Energieball, der ausstrahlt in Liebe und Freundlichkeit und Mitgefühl.

Wenn der Hunger gestillt ist, der Hunger des Körpers wie der Seele, dann kann selbst Meckie Messer sich nicht mehr für die Unmenschlichkeit entschuldigen mit seinem Satz
"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral".
Wenn der Hunger gestillt ist, finden wir zu unserem Menschsein und zu unserer Bestimmung: Füreinander da zu sein und uns das Leben nicht zur Hölle, sondern zu einem Vorgeschmack des Himmels zu machen.

Amen.