Freitag, 13. Mai 2016

„Projekt Einheit“

Predigt am Pfingstmontag, 16.5.2016, über Genesis 11,1-9
(Erstmals gehalten am 16.5.2010)


Liebe Schwestern und Brüder,

Das waren noch Zeiten!
Als die Welt noch neu und nett war,
als das Wünschen noch geholfen hat
und aus Wünschen – einfach so – Tatsachen wurden.
Als nichts und niemand die selige Einheit störte,
alle eins und sich einig waren.
Als die Welt noch in den Kinderschuhen steckte
und nichts diese Harmonie bedrohte:
Einerlei Sprache und einerlei Worte.
Und, so darf man wohl ergänzen, einer für alle und alle für einen. 
Ein fast paradiesischer Zustand.
Ohne falschen Zungenschlag.
Alle gehören dazu, alle sind gleich, alle sind eins.

Und doch ist diese innige Einheit bedroht.
Vielleicht, weil es nicht zum Aushalten ist,
wenn alles sich versteht, alle gleich sind.
In ihrer glückseligen Harmonie der Einigkeit und des Einsseins ahnen die Menschen,
dass es noch etwas anderes gibt als diese fraglose Übereinstimmung, dieses Einerlei.
Sie ahnen, dass da ein „Mehr“, dass da noch Anderes ist,
dass dieses „Mehr“ ihre Einheit zerstören könnte, und sie haben Angst davor:

Sie sprachen:
- Auf! Lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, damit wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst über die ganze Welt zerstreut.“
Die selige Einheit scheint eine bedrohte Einheit zu sein.
Es gibt die dunkle Ahnung: „wir werden über die ganze Welt zerstreut.“
Die Einheit könnte aufgelöst werden in Vielheit,
wodurch und von wem auch immer.
Denn jenseits der symbiotischen Verbundenheit,
jenseits des paradiesischen Einheitstaumels gibt es das Andere, das Fremde.
Und das könnte die Harmonie zerstören,
auseinanderbrechen lassen.
Das, was als äußerliche Bedrohung erahnt wird,
setzt nach innen in Bewegung.
Die unbewusste, träumerische Einigkeit muss erarbeitet, erhalten und gegen mögliche Störenfriede behauptet werden.
Es braucht eine Aufgabe und ein Ziel,
um den Zusammenhalt untereinander zu sichern.
Und das ganze muss einen Namen bekommen
– jeder muss wissen, wie das Ganze heißt, zu dem er gehört.
Es gilt, sich gemeinsam einen Namen zu machen,
eine Identität zu erlangen.
Und so muss her, was seitdem immer wieder helfen soll,
Identität zu stiften, Verbundenheit zu zeigen:
Ein Projekt.
Ein Projekt muss her um das,
was selbstverständlich gegeben war:
einerlei Sprache und Worte, nach innen und außen zu behaupten.
Ein Projekt muss her, das die Einheit festigen – ja, neu begründen soll.
Ein Projekt, um sich einen Namen zu machen, um in die Geschichte einzugehen.
Ein Turm, ein riesiger Turm.

Und Gott sprach:
- Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr unausführbar sein von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Auf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner die Sprache seines Gefährten verstehe! So zerstreute sie Gott von dort über die ganze Welt, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen.“

Das wunderbare Projekt
- der Turm, der bis an den Himmel reicht -,
das die Einheit, die Identität
so anschaulich und einprägsam verkörpern sollte –
das Projekt misslingt.
Gott macht einen Strich durch die Rechnung der Menschen.

Aber warum?
Weil der Turm zu hoch werden könnte,
kratzen an den Wolken,
kratzen an Gottes Thron, an Gottes Geheimnis?
Weil Gott Sorge hätte,
die Menschen könnten ihm zu nahe kommen,
könnten sein Geheimnis ergründen,
seine Macht infrage stellen, es mit ihm aufnehmen wollen?
- Ach, was wäre Gott für ein kleinlicher,
was für ein allzu menschlicher Gott,
wenn er um seine Größe bangen müsste,
wenn er nur um dieser Größe willen
die Sprache der Menschen verwirrt hätte.
Wenn aber Neid nicht Gottes Beweggrund ist –
warum stoppt er dann das ehrgeizige Projekt der Menschen? 
Warum zerstört er mutwillig diese wunderbare Einheit?

Dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr unausführbar sein von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun.“
„Einigkeit macht stark.“
Wenn Menschen sich einig sind,
wenn alles auf ein Kommando hört,
dann sind wir zu allem fähig.

Gott kennt seine Menschen.
Gott kennt uns nur allzu gut:
Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf“.
Eine unschuldige Einigkeit und Einheit
wie in seligen Säuglingszeiten gibt es unter uns Menschen nicht.
Wenn Gleichheit zum erklärten Ziel wird,
wenn der Rausch der totalen Harmonie ausbricht,
kann niemand mehr entrinnen.
„Seid umschlungen, Millionen“ -
diese Umarmung kann und wird Menschen erdrücken,
ihnen die Freiheit nehmen,
die sie brauchen wie die Luft zum Atmen.
Denn sprechen alle die gleiche Sprache,
dann marschieren auch bald alle im gleichen Schritt –
und dann müssen alle auch das gleiche denken.

Wenn der Traum von gegenseitiger Verständigung, Einheit und Brüderlichkeit zur grandiosen Idee wird,
eine weltumspannende Einheit sei herstellbar und machbar,
dann wird aus Sehnsucht Zwang,
aus Harmonie Tyrannei,
die sich mit Macht gegen alles durchsetzt, das ihr im Weg steht, 
und die dazu ohne Scheu über Leichen geht.
Weil es nun ein höheres gibt als das Leben des Einzelnen,
ein Ziel, dem alle dienen, alle sich unterordnen müssen:
Der Turm. Das Volk. Der Staat.

Wenn dieser große Rausch der totalen Harmonie um sich greift, 
muss man einen kühlen Kopf bewahren.
Muss man dem Rausch Grenzen setzen.
Muss man die Menschen vor sich selbst schützen,
indem man die Wirklichkeit ins Spiel bringt.
Die Wirklichkeit – das ist die Verschiedenheit, die Getrenntheit; 
die Wirklichkeit – das sind die Unterschiede, die Differenz.
Wir Menschen waren niemals eins.
Wir waren schon immer so, wie wir auch heute sind:
Keine und keiner ist so wie der andere,
nicht einmal die Geschwister einer Familie,
nicht einmal eineiige Zwillinge.
Das ist manchmal schmerzhaft und traurig,
denn oft sehnen wir uns nach fragloser, grenzenloser Einheit.
Gerade in Liebesbeziehungen sehnen wir uns nach diesem Einssein –
und gerade da schmerzt es besonders, wenn wir merken:
Dieses Einssein, das wir miteinander erleben,
gibt es nur in besonderen Momenten.
Im Alltag, in der Wirklichkeit, herrscht die Differenz, die Andersartigkeit –
gerade auch bei zweien,
die sich lieben und die gemeinsam durchs Leben gehen wollen. 
Völlige Einigkeit zwischen Menschen
kann und wird es niemals geben, nicht einmal zwischen zweien.

Gott kennt seine Menschen.
Und behält einen kühlen Kopf.
Gott schützt die Menschen vor sich selbst,
indem er die Wirklichkeit ins Spiel bringt.
Gott macht die Unterschiede, die es immer schon gab,
hörbar und spürbar:
Nicht alle sprechen die gleiche Sprache,
nicht alle träumen den gleichen Traum,
nicht alle arbeiten am gleichen Projekt,
die Menschen sind verschieden – Gott sei Dank!

Verklungen das Lied „alle Menschen werden Brüder“?
Aus der Traum von der weltumspannenden Einigkeit und Brüderlichkeit? -
Und das ausgerechnet an Pfingsten,
dem Fest des einen, des einenden Heiligen Geistes?
Des Geistes, der alle eins sein lässt,
egal, wer wir sind und woher wir kommen,
egal, welche Sprache wir sprechen?
Ist Pfingsten nicht die große Gegengeschichte zur Sprachverwirrung von Babel?

Nein und Ja.
Pfingsten ist nicht die große Gegengeschichte zu Babel,
weil auch in der Pfingstgeschichte
die Differenzen nicht einfach aufgehoben werden:
Sie fingen an zu predigen in anderen Sprachen“
und „Jeder hörte die Apostel in seiner eigenen Sprache reden“. 
Auch wenn der Heilige Geist über die Menschen ausgegossen wird – 
die gleiche Sprache sprechen sie noch lange nicht.
Im Gegenteil: Die Vielfalt bleibt erhalten –
ja, es kommen noch Sprachen hinzu:
Das Reden in Zungen, in unverständlichem Lallen und Brabbeln, das der Heilige Geist verleiht.

Die Unterschiede der Sprachen und Kulturen,
die Individualität der Menschen bleibt erhalten.
Und damit wird deutlich:
Der Mensch wird nicht etwas durch die Gruppe, zu der er gehört. 
Größe erlangt der Mensch nicht durch Zugehörigkeit oder Abstammung.
Der Satz „ich bin stolz, Deutscher zu sein“,
will wieder an Babel anknüpfen.
Aber der Turm zu Babel ist längst zu Staub zerfallen.
Nur der Name, den die Menschen sich damit machen wollten,
ist geblieben:
Daher heißt ihr Name Babel, weil Gott dort die Sprache der Welt verwirrt hat und sie von dort zerstreut hat über die ganze Welt.“
Babel steht für das gescheiterte Projekt
einer verordneten Brüderlichkeit,
eines gemeinsamen Ziels, dem sich alle unterordnen,
damit sie so eins und einig werden.

Und zugleich schreibt Babel die Verschiedenheit fest – Verschiedenheit:
die Basis unseres Reichtums an Gaben und Fähigkeiten,
die Basis unserer Schönheit.
Der Mensch ist nicht etwas durch die Gruppe, zu der er gehört. 
Der Mensch ist etwas, weil er Gott gehört.
Weil Gott ihn in einmaliger Schönheit und Besonderheit geschaffen und ins Leben gerufen hat,
und weil wir das von unserer Mutter Eva
und unserem Vater Adam geerbt haben:
Die Individualität, die Verschiedenheit,
die immer andere Sprache, die jede und jeder von uns spricht – 
auch wenn wir scheinbar alle die gleiche Sprache sprechen.

Und doch ist Pfingsten auch eine Gegengeschichte zu Babel.
Denn die Pfingstgeschichte zeigt,
dass Verschiedenheit nicht in die Zerstreuung führen muss, 
sondern dass auch Verschiedenheit eine Gemeinschaft begründen kann.
Die Unterschiede zwischen uns Menschen bleiben,
sie werden von Pfingsten nicht aufgehoben –
und dennoch ist Verständigung möglich.
Bezogen auf eine Mitte, bezogen auf Christus
müssen Unterschiede nicht aufgehoben,
sondern können ausgehalten werden.
Die ersehnte Einheit und Harmonie
kann nicht durch noch so fantastische Projekte erarbeitet,
nicht durch noch so fanatischen Glauben erzwungen werden.
Die Einheit ist eine geschenkte Einheit.
Eine Einheit in der Vielfalt.
Hergestellt nicht durch uns Menschen,
sondern durch den, der uns annimmt
und unsere Mitte ist und uns alle eins sein lässt:
durch Christus und seinen Heiligen Geist.

Amen.

Dies ist unser Haus!

Predigt am Pfingstsonntag, 15. Mai 2016, über Apostelgeschichte 2,1-18
(erstmals gehalten am 23. Mai 2010)

Liebe Gemeinde,

draußen ist draußen
und drinnen ist drinnen.
Wir sind hier zusammen in einem Raum;
wir singen und beten miteinander,
hören Gottes Wort, essen und trinken
und erinnern uns an Jesus.
Hier ist gut sein.

Und draußen?
Da sind andere, Fremde.
Da herrschen andere Regeln,
da herrscht ein anderer Geist.

I
So werden die Menschen gedacht haben,
die in einem Haus in Jerusalem versammelt waren:
die Jünger Jesu, Männer und Frauen,
die Jesus nachgefolgt waren,
darunter die 12 Apostel mit Maria, seiner Mutter
und seinen Brüdern.
Zusammen in einem kleinen Raum,
so groß wie ein Wohnzimmer.
Eine kleine Gemeinschaft,
verbunden durch das,
was sie gemeinsam erlebt hatten.
Verbunden durch die Angst, aufzufallen,
Ärger zu bekommen,
verfolgt, verhaftet zu werden.
Hier, im Haus, fühlten sie sich sicher.
Hier konnten sie abwarten,
wie die Sache Jesu weiter gehen würde.
Er hatte ihnen versprochen:
Ich will auf euch senden, was mein Vater verheißen hat.
Ihr sollt in der Stadt bleiben,
bis ihr ausgerüstet werdet mit Kraft aus der Höhe.“

Und plötzlich geschah ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.“
Da kommt etwas vom Himmel.
Die Verheißung des Vaters.
Kraft aus der Höhe.
Und verändert diese eingeschlossene,
in sich gekehrte,
ängstliche Gemeinschaft.
Von außen kommt etwas nach innen,
dringt in ihre Runde ein.
Was ist das?
Ein Wind ist zu hören, ein unheimliches Brausen.
Auch zu sehen ist etwas:
Es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer;
und er setzte sich auf einen jeden von ihnen.“

Weißer Mann sprechen mit gespaltener Zunge“,
das kennen wir aus Indianerfilmen,
und es bedeutet nichts Gutes:
Wem das ins Gesicht gesagt wird, der lügt.
Hier aber weisen die gespaltenen Zungen auf die Fähigkeit hin,
in mehr als einer Zunge,
mehr als einer Sprache sprechen zu können:
Sie wurden alle erfüllt vom heiligen Geist
und fingen an, zu predigen in andern Sprachen,
wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“

Eine Kraft, ein neuer Geist
breitet sich aus im Haus,
und plötzlich fliegen die Türen auf.
Die ängstlichen Jüngerinnen und Jünger gehen nach draußen, denn die neue Sprache
kann man nur außerhalb des Hauses sprechen.
Die Jünger fallen auf durch ihre Fremdsprachen­kenntnis,
durch ihr Einfühlungsvermögen,
und sie haben keine Angst.
Andere Leute können sie verstehen.
Sie finden Worte,
mit denen sie anderen klar machen können,
worum es geht.
Die hören erstaunt, wie die Jünger
in ihren Zungen von den großen Taten Gottes reden.“

II
Draußen ist draußen
und drinnen ist drinnen.
Der Geist kommt von außen zu denen innen
und weht dann mit ihnen nach außen.
Grenzen werden überwunden.
Grenzen der Sprache:
Menschen reden miteinander,
die sich bis dahin nicht verständigen konnten.

Fast 2000 Jahre sind seither vergangen.
Die Jüngerinnen und Jünger
sind von drinnen nach draußen gegangen
und haben, getrieben von Gottes Geist,
von Gottes großen Taten erzählt,
haben Mission betrieben
und das Evangelium verkündet.
Gemeinden sind entstanden und Kirchen,
das Christentum hat sich über die ganze Erde ausgebreitet
- eine Erfolgsgeschichte.
Auch eine Geschichte der Fehler und Irrtümer,
der Verbrechen und der Grausamkeiten.

Fast 2000 Jahre sind vergangen,
und der Glaube hat sich über die Welt ausgebreitet.
Aber die Welt hat sich verändert.
Heute würde der brausende Pfingstgeist
wohl niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken
– da müssen schon ganz andere „Events“ her.

Heute geht es um die Frage,
wie Gottes Geist Menschen erreicht,
die schon Christinnen und Christen sind,
die Gottes Geist bei der Taufe empfangen haben,
aber von ihm nicht mehr bewegt werden.

III
Draußen ist draußen
und drinnen ist drinnen.
Kirche spielt nicht nur in der Gesellschaft
eine immer geringere Rolle.
Kirche ist auch vielen getauften Christinnen und Christen egal.
Kirche hat zu den großen Problemen unserer Zeit
keine einfachen Lösungen,
keine einprägsamen Sprüche.
Sie hat den Menschen von heute nichts mehr zu sagen,
oder wird nicht mehr gehört.

Woran liegt das?
Sind wir nicht mehr so eine Gemeinschaft,
wie es damals die Jüngerinnen und Jünger Jesu waren?
Sind wir nicht mehr vom Heiligen Geist beseelt?
Sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche,
die Pastorinnen und Pastoren,
nicht einfallsreich, nicht fleißig genug?
Sind wir als Kirche nicht einladend genug,
gehen wir zu wenig auf andere zu?

Es liegt nicht an unserem Machen, Wollen oder Tun,
wenn Menschen sich fragen,
wozu Kirche gut sein soll.
Es liegt an unserem Selbstbewusstsein.
Es ist uns nicht bewusst,
und wir sind uns selbst nicht bewusst,
dass dies unser Haus,
dass dies unsere Gemeinde, unsere Kirche ist.
Dass wir alle Kirche sind und Kirche gestalten,
dass wir alle Verantwortung dafür tragen
und nicht nur die,
die von unseren Kirchensteuern dafür bezahlt werden.

Es liegt an unserem Kirche-Sein,
ob Kirche noch etwas bedeutet oder nicht.
Wieso sollten andere in die Kirche kommen,
wenn wir selbst nicht hingehen?
Wieso sollten andere etwas mit dem Glauben anfangen,
wenn wir selbst nicht viel damit anfangen können?
Wieso überlassen wir die Kirche und den Glauben
den hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?

Pfingsten ist das Fest,
das uns daran erinnert,
dass Kirche keine Veranstaltung ist,
kein Event, und auch kein Museum.
Kirche lebt von denen und durch die,
die Kirche sein wollen.
Man nennt das „Priestertum aller Gläubigen“.
Und das Pfingstfest erinnert uns daran:
an das Priestertum aller Gläubigen.
Es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott,
da will ich ausgießen von meinem Geist auf alle Menschen;
und eure Söhne und Töchter sollen weissagen,
und eure Jugendlichen sollen Gesichte sehen,
und eure Alten sollen Träume haben.“

IV
Draußen ist draußen
und drinnen ist drinnen.
Dass der heilige Geist das verändert hat,
ist schwer zu glauben.
Nicht nur für die, die drinnen sind,
sondern auch für die draußen.

Jesus hat den Armen das Evangelium verkündigt;
er hat den Gefangenen gepredigt, dass sie frei sein sollen,
den Blinden, dass sie sehen sollen,
den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen.
Er hat uns die Gnade Gottes zugesagt.
Von nun an sind wir frei von Ansprüchen anderer;
niemand darf uns sagen,
so und so musst du sein,
damit Gott und die Menschen dich lieben.
Wir sind frei, weil Gott uns mit seinem Geist anspricht.
Wir sind frei und gerade deshalb in der Lage,
anderen Menschen das weiter zu geben,
was wir selbst bekommen haben,
selbst denen, die uns fremd sind
und die wir nicht leiden können.
Wir selbst waren arm, gefangen,
blind und zerschlagen,
und wir sind es immer wieder.
Wir leben aus der Kraft des Heiligen Geistes,
der uns hilft, unsere Hilflosigkeit, unser Leid zu tragen.
Wir leben aus der Kraft dieser Gemeinde,
in der wir einander tragen,
in der wir uns gemeinsam versichern,
dass Gottes Geist unter uns ist.
Wir leben davon,
dass Gott uns mit seiner Fülle beschenkt
– vielleicht fehlt uns nur, das zu erkennen,
und vielleicht müssen auch andere das zu sehen lernen,
um selbst zu schenkenden,
hilfsbereiten Menschen zu werden.

Nach süßem Wein, so klingen diese Worte
- so wie damals, als man Petrus vorwarf, betrunken zu sein.
Der Geist macht Mut,
Rechenschaft zu geben von der Hoffnung,
die seit Jesu Auferstehung in uns ist:
Der Hoffnung,
dass wir nicht auf Kosten anderer leben müssen,
sondern das eigene Leben
und das Leben der Gesellschaft
auf Gerechtigkeit aufbauen können.

Der Geist ermutigt uns dazu,
die Grenzen zwischen Drinnen und Draußen zu öffnen:
Fremde und Fremdes hereinzulassen,
und zu den Fremden hinauszugehen.
Das Fremde, die Fremden,
das sind immer weniger exotische Menschen
aus fernen Ländern,
deren Sprache wir nicht sprechen.
Fremde Menschen,
das sind immer mehr die Menschen,
die manchmal nur ein paar Straßen von uns entfernt leben,
in einem anderen Stadtteil.
Menschen, die scheinbar eine andere Sprache sprechen,
weil sie ihre Muttersprache
auf der Schule nicht richtig lernen konnten.
Vielleicht, weil sie nicht wollten.
Vielleicht, weil sie nicht konnten.
Vielleicht, weil man ihnen keine Chance gab.

Gottes Geist schickt uns von drinnen nach draußen,
aus unseren guten Stuben
hinaus auf die Straße, wo wir Menschen begegnen;
aus unserer bürgerlichen Sattheit, unserem Wohlstand
zu denen, die Hunger haben nach Bildung,
nach Arbeit, nach Respekt und Anerkennung.

Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Wind und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen zerteilt, wie von Feuer; und er setzte sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an, zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen.“

Innen und außen
- ein neuer Geist und viele, vielfältige Gaben.
Und die Predigt nicht so sehr mit Worten,
sondern vor allem mit Taten
- Taten der Mitmenschlichkeit
und der Liebe.

Amen.

Sonntag, 8. Mai 2016

Freiraum schaffen!

Predigt am Sonntag Exaudi, 8. Mai 2016, über Epheser 3,14-21:

Ich beuge meine Knie vor dem Vater,
von dem jedes Geschlecht im Himmel und auf Erden den Namen empfängt,
dass er euch gebe
nach der Fülle seiner Herrlichkeit
Kraft für den inneren Menschen, 
damit ihr durch seinen Geist stark werdet
und damit Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne
in Liebe, die fest verwurzelt und fundiert ist,
damit ihr imstande seid,
mit allen Heiligen ihre Dimensionen zu begreifen,
und zu erkennen, 
dass die Liebe zu Christus alle Erkenntnis übertrifft,
damit ihr erfüllt werdet
mit aller Fülle Gottes.
Dem aber, der imstande ist, Größeres zu tun als alles, 
was immer wir bitten oder ausdenken mögen
durch die Kraft, die in uns wirksam ist,
dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus
für alle Geschlechter von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.

(Eigene Übersetzung, vgl. http://offene-bibel.de/wiki/Epheser_3)


Liebe Schwestern und Brüder,

„mach dich nicht breiter als dein Hemd ist“, 
schimpfte mein Vater,
wenn ich am Küchentisch oder auf dem Sofa zuviel Platz beanspruchte.
Jeder Mensch braucht ein Plätzchen, wo er leben kann,
braucht einen gewissen Freiraum um sich herum
und einen Raum für sich allein:
das eigene Zimmer, in das man sich zurückziehen kann.
Wenn man diesen Raum nicht hat,
wenn andere einem zu sehr „auf die Pelle“ oder „auf die Bude“ rücken, bekommt man Platzangst.

I
Der Mensch braucht nicht nur äußerlichen Raum um sich herum, man braucht auch innerlichen Raum: 
einen Spielraum für den inneren Menschen, der Möglichkeiten der Entscheidung und des Handelns eröffnet.
Diesen Spielraum muss man sich erst erarbeiten.
Er wächst, wie man selbst wächst.
Als kleines Baby hat man nur eine einzige Möglichkeit: schreien.
Ein Baby schreit, wenn es Hunger hat und wenn die Windel voll ist, wenn es auf den Arm genommen werden will und wenn es Bauchschmerzen hat. Als Vater oder Mutter ist man anfangs schwer im Stress, weil man das Schreien nicht deuten kann und erst herausfinden muss, was der Grund dafür ist.
Mit zunehmendem Alter wachsen die Ausdrucksmöglichkeiten, und die Handlungsalternativen nehmen zu. Die hohe Schule des Ausdrucks und der Handlungsmöglichkeiten ist der Flirt, wo man, aber besonders frau, mit Nähe und Distanz, mit Locken und sich Entziehen spielt, mit Blicken, Gesten, Düften und Worten.

Diese Anziehung und dieses Knistern, die Erotik, die ein Flirt entfacht, kann man auch auf geistiger Ebene erleben. 
Sie stellen sich ein, wenn man eine neue Erkenntnis gewonnen hat: Wenn man erkannte, dass man Dinge noch einmal ganz anders sehen und verstehen kann.
Es ist aufregend, ausgetretene Bahnen des Denkens zu verlassen;
es ist befreiend, Denkverbote und Tabus, „das haben wir immer schon so gemacht“ und „das gehört sich so“ über Bord zu werfen.

Die ehemalige DDR-Bildungsministerin Margot Honecker, die am Freitag in ihrem chilenischen Exil gestorben ist, stand für das Gegenteil: Sie wollte die Verengung des Denkens auf das, was die Partei zu denken vorgab - die Partei, die immer recht hatte. Sie wollte Betonköpfe erziehen, die die Mauern schon in ihre Hirne eingezogen hatte.
Frühere Schüler Margot Honeckers finden sich jetzt in der AfD. Der AfD ist die von den 68ern errungene Freiheit des Denkens zu bunt, das langhaarige, hippiehafte ist ihr ein Gräuel. Sie möchte alles schwarz-weiß haben; rot-grün kann sie überhaupt nicht leiden. Nur gegen deren Mischfarbe hat sie nichts einzuwenden …

II
Räume, Freiräume schafft der heutige Predigttext aus dem Epheserbrief. Er ist ein Gebet - die Kniebeuge, die der Verfasser im ersten Satz vollzieht, ist eine Geste des Betens. Wir kennen sie aus der katholischen Kirche und vom Karfreitag.
Der Verfasser bittet nicht direkt um Räume. Aber das ganze Gebet ist voller Worte, die mit Raum zu tun haben: die Fülle und das Wohnen, Wurzeln, Fundament und Dimensionen, Erfülltwerden, und am Schluss noch einmal die Fülle.
Es werden also, genau genommen, keine Räume eröffnet, sondern gefüllt, und zwar ziemlich reichlich. Die Epheser, für die der Autor betet, sollen geradezu überschüttet werden mit - - - ja, womit denn?

Wer „Harry Potter“ kennt - die Bücher las oder die Filme gesehen hat -, weiß, dass der böse Lord Voldemord sich darüber lustig macht, dass es immer wieder die Liebe ist, auf die der Unterschied zwischen ihm, dem Bösen, und Harry Potter, dem Guten, hinausläuft. Harrys Fähigkeit, zu lieben, die der Böse nicht hat, schützt ihn, wie die Liebe seiner Mutter ihn vor Lord Voldemords Todesfluch bewahrt hatte.

Auch in biblischen Texten taucht in schöner Regelmäßigkeit die Liebe als das Geheimnis auf, das hinter und über allem steht. Man kann es bald nicht mehr hören. Ist nicht schon alles über die Liebe gesagt? Gibt es keine anderen Themen, über die sich zu schreiben und nachzudenken lohnte?

III
Für einen heranwachsenden Menschen ist die Liebe die wichtigste Sache überhaupt, und furchtbar aufregend: Der erste Kuss, das erste Verliebtsein geben Rätsel über Rätsel auf. Man hat Angst, etwas falsch zu machen, man hat Angst, ausgelacht zu werden, man hat Angst, verletzt zu werden, man hat vor ziemlich allem Angst, was mit der Liebe zusammenhängt - und kann doch nicht anders: 
man muss es probieren.
Es wird aber nicht besser nach der ersten Beziehung, dem ersten Kuss, denn mit jedem neuen Partner ist wieder alles neu und anders und aufregend und peinlich. Erst, wenn man in einer festen Beziehung lebt, meint man, nun hätte man das Problem mit der Liebe endlich gelöst und hinter sich gelassen.
Ein schwerer Irrtum.
Die Liebe lässt sich nicht in eine Beziehung einsperren oder in einen Ehering fesseln. Sie ist lebendig, verändert sich und will immer wieder neu gelebt, geliebt und entdeckt werden - auch und gerade zwischen Partnern, die ihr halbes Leben miteinander verbracht haben.

Liebe gibt es aber nicht nur exklusiv zwischen Zweien. 
Die Liebe ist zu groß und zu mächtig, als dass sie sich in Zweisamkeit erschöpfen würde.
Heute ist Muttertag: Wir denken dankbar an unsere Mütter und an die Liebe, mit der sie uns erfüllten.
Wer Geschwister hat, musste sich diese Liebe der Mutter mit den anderen teilen. Dafür hat er/sie eine andere Art der Liebe gewonnen: Die Liebe zwischen Geschwistern, die sogar große Entfernungen und lange Zeiten des Getrenntseins übersteht und überbrückt.

IV
Der Predigttext schließlich spricht von der Liebe zu Christus. Im Griechischen ist dieser Ausdruck doppeldeutig: Er kan sowohl die Liebe zu Christus meinen als auch die Liebe Christi, die Liebe, mit der Christus uns liebt. Aber das kommt letzten Endes auf's gleiche hinaus. Denn Christus lieben können wir nur, weil Christus uns liebt. Umgekehrt geht es nicht: Christus liebt uns nicht deshalb, weil wir uns furchtbar viel Mühe geben würden, ihn zu lieben.

Wie soll man sich diese Liebe Christi vorstellen?
Nonnen im Kloster trugen einen Ring am Finger; sie waren mit Christus verlobt und verstanden sich als „Bräute Christi“. In frommem Überschwang hat manche diese Liebe zu Christus nicht nur geistlich aufgefasst - jedenfalls könnten die Schriften mittelalterlicher Mystikerinnen gut als erotische Literatur durchgehen.

Auf jeden Fall ist die Liebe Christi keine „Kopfsache“.
Das Gebet bittet am Ende um die Erkenntnis, „dass die Liebe zu Christus alle Erkenntnis übertrifft“. 
Ein schönes Wortspiel.
Aber wie erkennt man denn nun, dass es gar nicht auf das Erkennen ankommt? Ist das nicht ein Widerspruch?

Als Heranwachsende/r macht man sich viele Gedanken über die Liebe. Manche/r versucht, im Kopf zu lösen, was sich dann in der Begegnung mit der oder dem anderen ereignen soll. Erst mit dem Alter und der Erfahrung lernt man, dass man sich einfach fallen lassen kann in dieses überwältigende Gefühl, in die Arme der oder des anderen.
Manchmal erleidet man dabei allerdings eine schmerzhafte Bauchlandung. Manche/r, der zu oft so hart fiel, hat es verlernt, sich fallen zu lassen …

Auch in die Liebe zu Christus kann man sich nur fallen lassen. Es führt kein gedanklicher Schritt zu ihm hinüber.
Der Glaube, der die Voraussetzung zu dieser Liebe ist, ist ein Sprung - und ein ziemlich riskanter noch dazu, so als spränge man über einen tiefen, garstigen Graben, und das ohne Netz und doppelten Boden. Denn der Glaube widerspricht vielem von dem, was wir als wahr und richtig gelernt haben.
In den Augen derer, die auf Zahlen vertrauen, macht er einen zum naiven Trottel. Der Glaube bringt manchmal all die Peinlichkeiten und Verletzungen zurück, die man mit den ersten Liebeserfahrungen abgelegt zu haben glaubte.
Aber ohne diese Verletzlichkeit, ohne die Bereitschaft, sich bis auf die Knochen zu blamieren, kommt man zu Jesus nicht hinüber.

V
Kein Wunder, dass viele gern auf den Glauben verzichten!
Wer will sich schon zum Affen machen,
wer will sich so verletzlich machen, so verletzt werden,
wie es viele überzeugte Christen als Schülerinnen und Schüler im System der Margot Honecker erleben mussten?

Zum Glück ist der Glaube keine bewusste, willentliche Entscheidung. Er überfällt einen - wie die Liebe. Und wie bei der Liebe kann man gar nichts dagegen tun. Denn hinter ihm steht eine Kraft, die Menschen niemals bändigen und unter ihre Kontrolle bringen werden: der Geist Gottes, dessen Kommen wir am kommenden Sonntag feiern.
Dieser Gottesgeist ermutigt und befähigt uns zum Sprung über den Graben in den Glauben. 
Er gibt uns Kraft, auf die Liebe zu vertrauen - trotz aller Enttäuschungen und Verletzungen, die wir erlitten haben.

Wer von dieser Liebe erfüllt ist, gewinnt Spielräume. 
Erlebt eine solche innere Weite, 
dass Raum selbst in der kleinsten Hütte ist; 
dass am Krankenbett oder im Sterbezimmer keine Platzangst aufkommt; 
dass Asylantenheime und Moscheen keine Angst einflößen; 
dass jede Kirche zum Zuhause wird.

Wer von dieser Liebe erfüllt ist, braucht sicherlich weiterhin seine Freiräume und sein eigenes Zimmer.
Aber sein Herz ist so groß und weit geworden,
dass es Platz für alle Menschen hat.
Nicht nur für den Liebsten oder die Liebste,
nicht nur für die eigenen Kinder und Enkel,
nicht nur für Familie und nahe Verwandte,
nicht nur für Freunde und Bekannte -
alle Menschen finden darin Platz.
Sogar die finden Mitgefühl und Liebe, die beides eigentlich nicht verdient haben, weil sie selbst nicht dazu fähig sind.

VI
Die Liebe Christi macht auf eine nüchterne Art betrunken.
Man vergisst zu fragen, was man davon hat, was man dafür bekommt, oder ob der andere die Liebe überhaupt verdient.
Sie eröffnet neue Räume, 
die Spielräume und Auswege zugleich sind 
in einer Gesellschaft, 
die nur nach den Kosten, nach dem Wert und nach dem Preis fragt. Die etwas nur tut um des Gewinns willen oder um des Nutzens willen, aber nicht um seiner selbst willen.
Die Liebe zeigt uns, dass man etwas um der Liebe willen tun kann.
Und das jeder Mensch um seiner selbst willen etwas „wert“ ist, nämlich: liebenswert, weil die Liebe Christi ihm/ihr gilt wie uns, und weil er/sie, wie wir, fähig ist, Christus zu lieben, wenn der Heilige Geist es ihm/ihr schenkt.
Amen.