Donnerstag, 24. Juli 2014

Glaubensweg

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juli 2014, über 1.Petrus 2,2-10: 

Verlangt, wie die neugeborenen Kinder, nach der geistigen, reinen Milch, damit ihr durch sie zunehmt zum Heil, wenn ihr denn geschmeckt habt, wie freundlich der Herr ist. Zu ihm geht hin, dem lebendigen Stein, der zwar von den Menschen verworfen wurde, bei Gott aber erwählt und wertvoll ist, und lasst euch selbst als lebendige Steine zu einem geistigen Haus erbauen, zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott gefallen durch Jesus Christus. Denn es steht in der Schrift:
"Schau, ich lege in Zion einen auserwählten und wertvollen Eckstein, und wer an ihn glaubt, wird nicht zuschanden." Für euch, die glauben, hat er Wert. Für die nicht Glaubenden aber ist er "der Stein, den die Bauleute verworfen haben". Dieser wurde zum Eckstein und zum Stein des Anstoßes und zum Fels, durch den sie zu Fall kamen. Sie stoßen sich, weil sie dem Wort nicht gehorchen, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid ein erwähltes Geschlecht, ein Königshaus, eine Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, damit ihr die Taten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht rief. Die ihr einst "Nicht-Volk" wart, jetzt aber Volk Gottes seid; die nicht Erbarmen fanden, jetzt aber Barmherzigkeit erlangten.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Gemeinde,

verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden. Wenn man die Verben aus dem Predigttext aneinanderreiht, ergibt sich ein sehr lebendiges Bild. 

Verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden - das sieht aus wie eine große, ausladende Bewegung, wie ein Weg. 

Die Bewegung, die der Predigttext nachzeichnet, ist der Glaubensweg einer Christin, eines Christen. Lassen Sie uns in diesem Gottesdienst, wo wir über die Taufe und damit über unseren eigenen Lebensweg als Christin oder Christ nachdenken, der Glaubensbewegung folgen, die der Predigttext beschreibt. Wir werden uns an manches erinnern, das wir selbst erlebt haben; anderes, das wir bisher nicht sahen oder verstanden, mag dadurch vielleicht Gestalt gewinnen.


#verlangen

"Nach dir, Herr, verlanget mich", so beginnt der 25. Psalm. Und so beginnt auch die Glaubensbewegung einer Christin, eines Christen. Der Predigttext spricht davon, dass man ähnlich ungeduldig hungrig nach Gott sein soll wie Neugeborene nach der Brust ihrer Mutter. Wir können uns selbst nicht daran erinnern, wie wir als Säuglinge waren. Aber wer Kinder hat oder hatte, weiß, in wie kurzen Abständen sie in den ersten Monaten Tag und Nacht an die Brust gelegt werden wollen.

Wenn wir auf unser Glaubensleben zurückblicken: war da jemals ein so heftiges, dringendes Verlangen nach Gott? Sind wir nicht eher irgendwie "reingerutscht" in den Glauben? Als Säuglinge getauft, ohne dass es uns bewusst geworden wäre, ohne dass wir gefragt wurden, und dann in wechselnder Nähe und Distanz zur Kirche aufgewachsen. Irgendwann, irgendwie ist er uns wichtig geworden, der Glaube. Irgendwann, irgendwie haben wir gefühlt und innerlich bejaht, dass wir Christen sind. Aber Verlangen nach Gott - haben wir das je so intensiv empfunden?

"Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, 
nach dir, dich zu seh'n, dir nah zu sein. 
Es ist ein Sehnen, ist einWunsch nach Glück, 
nach Liebe, wie nur du sie gibst", 

singt ein modernes Kirchenlied. Manchmal, da spüren wir ein solches Sehnen in uns.  Die Sehnsucht ist die Schwester des Verlangens. Die Sehnsucht, dass das doch nicht alles gewesen sein kann, dass da noch Leben ins Leben muss. "Unruhig ist unser Herz", sagt Augustinus, "bis es Ruhe findet ihr dir".
Diese Unruhe, diese Sehnsucht stehen, wie das Verlangen, am Anfang des Glaubens. Irgendwann empfindet man diese Sehnsucht nach "mehr", diese innere Unruhe. Irgendwann entdeckt man, dass Gott das Ziel der Sehnsucht ist, dass Gott Ruhe geben, das Verlangen stillen kann. Dann möchte man tatsächlich immer wieder zu ihm, mit ihm zu tun haben, seiner gewiss werden.

#zunehmen

Die Babys, so der Predigttext, nehmen von der Milch zu, die sie trinken. Unglaublich, wie schnell so ein kleines Wurm, das bei der Geburt noch in die Armbeuge passt, aus seinen Sachen herauswächst und bald schon groß und richtig schwer zu tragen ist. Als Christen nehmen wir im übertragenen Sinne zu - wir nehmen natürlich auch an Gewicht zu, was uns ärgert, aber darum geht es beim Glauben ausnahmsweise mal nicht. Die Milch, die wir in uns aufnehmen und die uns zunehmen lässt, ist das Wort Gottes. Es spricht uns an in Geschichten der Bibel, in den täglichen Losungen, im Vers eines Gesangbuchliedes, in einer Predigt. Manchmal stoßen wir auf Gottes Wort, wo wir gar nicht mit ihm rechnen, wo wir es nicht erwarten. Im Urlaub in den Bergen sehen wir das wunderschöne Panorama der Gipfel, und plötzlich kommen uns Worte in den Sinn: 

"Die Himmel erzählen die Ehre Gottes,
und die Feste verkündigt seiner Hände Werk.
Ein Tag sagt's dem andern,
und eine Nacht tut's kund der andern,
ohne Sprache und ohne Worte;
unhörbar ist ihre Stimme."
(Psalm 19,2-3)

In solchen Momenten fühlen wir uns Gott ganz nah. Etwas wächst in uns, wie eine Pflanze eine Wurzel treibt, die sie ernährt und durch die sie größer wird. So treiben auch wir Wurzeln, die uns immer tiefer im Glauben verankern, immer fester mit Gott verbinden; das ist das Zunehmen durch die Milch des Wort Gottes.

#hingehen

Wenn man oben in den Bergen seinem Gott ganz nahe ist, könnte man meinen, der Glaube sei eine einsame und innerliche Sache. Eine Sache zwischen mir und Gott allein, die keinen anderen etwas angeht. Aber so sehr wir den Glauben innerlich empfinden, und so glücklich uns das Gefühl machen kann, Gott nahe zu sein: der Glaube ist nichts, was ich für mich allein haben kann. Jesus hat zwar versprochen: "Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende", aber bei uns, da ist Jesus, wo "zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind". Die Gemeinde ist der Ort, an dem wir Jesus begegnen. 
Und auch in den Mitmenschen begegnen wir ihm. Jesus hat gesagt: "Was ihr einem der geringsten unter meinen Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan". Wir wissen nicht, in welchem der vielen Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben, uns Jesus begegnet. Ist es die Verkäuferin an der Supermarktkasse? Der alte Herr, der mühsam am Stock die Straße überquert? Der Penner, der uns um Geld anschnorrt? Unsere Nachbarin, die schon wieder die Musik zu laut aufgedreht hat? Das Kind, dem wir morgens, von seinem schweren Ranzen gebeugt, auf seinem Schulweg begegnen? Wir können es nicht wissen. Und vor allem können wir uns den Menschen nicht aussuchen, in dem uns Jesus begegnen will. Meistens denken wir auch gar nicht daran, dass einer der vielen Menschen, an denen wir achtlos vorbeigehen, für uns Jesus hätte sein können. Nur manchmal, wenn merken, dass wir sie übersehen, dass wir vergessen haben, zu helfen, weil wir in Gedanken, in Eile waren oder anderes uns wichtiger schien, - manchmal erinnern wir uns an die Worte Jesu und daran, was wir versäumten. 
Deshalb gehört zum Glauben das Hingehen - hingehen zum Gottesdienst, wo Jesus mitten unter uns ist. Und hingehen zum Mitmenschen, in dem Jesus uns incognito begegnet.

#erbauen lassen

Wenn wir zum Gottesdienst, wenn wir zum Mitmenschen gehen, bauen wir Gemeinde. Das kommt uns nicht so vor, weil die Gemeinde ja quasi immer schon da ist. Wir gehören zu einer Kirchgemeinde, manche seit ihrer Geburt. Weil die Gemeinde immer schon da zu sein scheint, kommt uns gar nicht in den Sinn, dass sie nicht so beständig und unverrückbar ist, wie die aus Stein gebaute Kirche. Gemeinde ist lebendig. Sie besteht nicht aus Steinen, wie die Kirche, sondern aus Menschen, die der Predigttext lebendige Steine nennt. 
Aber nur, weil es Menschen gibt, gibt es noch lange keine Gemeinde. Gemeinde entsteht aus lebendigen Steinen: aus Menschen, die sich zur Gemeinde erbauen lassen und gemeinsam Gemeinde bauen. Das geschieht, wenn Menschen hingehen - in das Haus der Kirche, und zu anderen Menschen. Der lebendige Bau der Gemeinde ist das Gegenüber zum steinernen Bau der Kirche. Während es für eine Kirche fatal wäre, wenn ihre Steine in Bewegung gerieten, weil dann der ganze Bau einstürzen würde, ist es bei der Gemeinde geradezu Voraussetzung, das wir uns vom Wort Gottes bewegen lassen, dass wir aufeinander zu gehen. 

Wenn wir uns zu einer Gemeinde erbauen lassen, dann geschieht mit uns auch das andere, das in dem Wort "erbauen lassen" mitschwingt: wir werden "erbaut". Wir werden gestärkt, werden zuversichtlich, nehmen im Glauben zu dadurch, dass uns andere Menschen mit ihrem Glauben zum Vorbild werden. Dass sie mit uns einstimmen in die selben, alten Worte. Dass sie uns freundlich begegnen, mit und für uns beten. Wir tun dasselbe für sie. So ist Christus mitten unter uns lebendig, so wird durch uns für andere sichtbar, wie sehr Gott uns liebt.

#Opfer bringen

Hinsehen und hingehen zu anderen Menschen - das ist das Opfer, das wir als Christen bringen. Das hört und fühlt sich aber gar nicht wie ein Opfer an. Müssen Opfer nicht weh tun, müssen sie nicht mühsam sein und etwas kosten? Muss man sich als Christin, als Christ nicht etwas abverlangen? Glaube kann doch nicht so einfach, so billig zu haben sein!?
Wenn mir solche Gedanken durch den Kopf gehen, fällt mir ein Wort Jesu ein, und ich stelle mir vor, dass er ein wenig müde aussieht, wenn er es sagt: "Geht aber hin und lernt, was das heißt (Hosea 6,6): 'Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer'." (Matthäus 9,13) 
Wir meinen, man müsse Opfer bringen - für die Familie, für die Beziehung, für die Ausbildung, für den Beruf, und dementsprechend auch für den Glauben. Unser Wirtschaftssystem funktioniert so, dass Opfer gebracht und gebraucht werden, damit wir unsere Kleidung, unser Essen, unsere Smartphones möglichst preiswert kaufen können. Dafür arbeiten Menschen in anderen Ländern für einen Lohn, der ihnen kaum zum Leben reicht. Dafür werden bei uns Schweine und Rinder in Massen "produziert".
Wir sind das Opfern gewohnt. Auch wenn wir keine Tiere mehr auf dem Altar schlachten und verbrennen, müssen Menschen und Tiere für unsere Art zu Leben leiden und sterben. Jesus aber hat sich selbst geopfert, damit wir endlich mit dem Opfern aufhören. Jesus hat ein für allemal Schluss gemacht mit der Opferei. Darum müssen wir uns selbst nicht mehr aufopfern. Wir dürfen und sollen Menschen sein mit ihren Unvollkommenheiten und Schwächen, mit ihren Grenzen und ihrem Bedürfnis, zuerst an sich zu denken, zuerst für sich zu sorgen. Das ist die Barmherzigkeit, die wir gefunden haben. Die andere Seite der Barmherzigkeit aber ist die Gerechtigkeit. Denn so, wie wir Barmherzigkeit erfahren haben und erfahren, sollen wir auch anderen gegenüber - Menschen und Tieren - barmherzig sein und sie nicht zu Opfern unseres Lebensstils machen.
Hinsehen und hingehen zu anderen Menschen, mit anderen Worten: Barmherzigkeit, ist das geistliche Opfer, das wir bringen. Barmherzigkeit und ihre Schwester, die Gerechtigkeit, sind nicht schwer - und doch schwerer, als wir glauben. Denn sie bedeuten, unseren Lebensstil zu ändern. Wir können nicht länger ignorieren, was unsere Art zu leben den Menschen in anderen Teilen der Welt, den Tieren und der Erde, auf der wir leben, antut.

#verkünden

Glaube ist also keine heimliche Sache, die man für sich im stillen Kämmerlein mit seinem Gott ausmacht. Glaube muss und will gelebt, gezeigt oder, wie der Predigttext sagt, verkündet werden. Das bedeutet nicht, dass wir uns alle auf dem Markt auf eine Apfelsinenkiste stellen und Predigten halten. Gottes Taten werden nicht allein durch Worte verkündet. Die Taten Gottes, von denen wir durch unser Leben erzählen, sind auch nicht die biblischen Geschichten von Wundern der Vergangenheit, wie dem brennenden Dornbusch oder die Teilung des Roten Meeres. Wir erfahren sie an uns selbst: Das Wunder, dass wir nach einer Enttäuschung, nach einer Krankheit oder trotz großer Verzweiflung Hoffnung gewinnen. Das Wunder, dass uns jemand, dem wir sehr weh getan haben, vergibt. Das Wunder, dass uns jemand liebt, dass wir für jemanden ein sehr wichtiger Mensch sind. Solche und andere Wunder sind Taten Gottes, die wir am eigenen Leib erfahren. Wir verkündigen sie, indem wir uns von ihnen bewegen lassen, anderen Menschen ebenso Gutes zu tun. Der Glaube ist die große, ausladende Bewegung, mit der die Liebe Menschen verbindet und umschließt. Diese Liebe, die wir von Gott erfahren, strahlen wir aus; mit ihr strahlen wir die Menschen an, die uns begegnen, sodass ihr Angesicht leuchtet wie unseres.

Verlangen - zunehmen - hingehen - sich erbauen lassen - Opfer bringen - verkünden. Wir sind in dieser Predigt einen Weg gegangen, der auch der Weg unseres Glaubens ist. Dieser Weg ist noch nicht zuende, im Gegenteil: jeden Tag neu stehen wir sozusagen mit geschnürtem Ranzen in der Türschwelle und gehen aufs Neue los. 
Lassen Sie uns gemeinsam gehen in der Gewissheit, dass wir nicht allein sind, sondern uns gegenseitig geleiten, stützen und ermutigen. 
Und dass der mit uns geht, der uns schon unser ganzes Leben begleitet und der bei uns sein wird, bis wir eines Tages bei ihm angekommen sein werden.


Amen.

Samstag, 19. Juli 2014

Biederkeit

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juli 2014, über 2.Thessalonicher 3,1-5:

Des weiteren: betet für uns, liebe Geschwister, damit das Wort des Herrn flott vorankommt und Bewunderung findet, so wie bei euch. Und damit wir errettet werden von den unsittlichen und verkommenen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns Sache.
Treu aber ist der Herr, der euch fest machen und bewahren wird vor dem Bösen. Wir vertrauen aber im Herrn auf euch, dass ihr tut, was wir anordnen, auch in Zukunft. Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Erwartung Christi.


Liebe Gemeinde,

"spiel nicht mit den Schmuddelkindern,
sing nicht ihre Lieder,
geh doch in die Oberstadt,
mach's wie deine Brüder!"
(Franz-Josef Degenhardt, Spiel nicht mit den Schmuddelkindern)

Immer schon übten Menschen, die sich nicht an die Regeln und Normen der Gesellschaft hielten, einen besonderen Reiz aus - gerade auf Heranwachsende. Ob das früher die Sinti und Roma waren, die Zigeuner, die von Ort zu Ort zogen; oder die langhaarigen Hippies, die barfüßigen Blumenkinder; oder die Punks "mit Kniff im Ohr und rote Haar" (Wolf Biermann, Willkommenslied für Till). Die braven Bürger misstrauten ihnen, der Polizei waren sie verdächtig oder gar ein Dorn im Auge. Manche Eltern sorgten sich, ihr Kind könnte auch so ein Rebell werden, der sich gegen die Gesellschaft stellt, aus ihr aussteigt und ihr den Stinkefinger zeigt. Nicht so sehr, weil sie sich etwa ihres Kindes schämten. Sondern weil es zum Weiterkommen in unserer Gesellschaft nun einmal nötig ist, sich anzupassen, "anständig" zu sein und einen "ordentlichen Beruf" zu erlernen.
Wie müssen solchen geplagten Eltern die Worte des heutigen Predigttextes aus dem Herzen sprechen: "damit wir errettet werden von den unsittlichen und verkommenen Menschen. Denn der Glaube ist nicht jedermanns Sache".

Ja, diese Punks, die sich Bier und Zuckerwasser in die Haare gossen, damit sie wie Igelstacheln nach oben standen; die sich "No future" auf die Lederjacke malten - die schienen wirklich an nichts mehr zu glauben. In der Kirche waren sie nie zu sehen - für sie war Kirche geradezu der Inbegriff des Spießertums, das sie ablehnten und gegen das sie ankämpften.
Aber es war ausgerechnet die Kirche - hier, in Meiningen, jedenfalls -, die den Punks einen Raum anbot, ihnen eine Heimat gab. Das gefiel sicherlich nicht jedem Gemeindeglied, und noch weniger gefiel es dem Staat; der beobachtete Punks und Gemeinde ganz genau.
Warum machte die Kirche das? Warum ließ sie sich mit Menschen ein, die so offensichtlich gegen alles waren, wofür Kirche stand: Anstand und Moral; Bescheidenheit, die sich in zurückhaltendem Wesen äußert; Freundlichkeit, die nicht anecken und niemanden provozieren will. Ein stilles und genügsames Leben im Frieden mit den Nachbarn und der Obrigkeit.

Sind die Punks, sind die Menschen am Rand der Gesellschaft, die oft genug nicht freundlich von der Kirche denken und reden - sind das wirklich die Bösen, die der Predigttext meint und vor denen ein braver Christ sich hüten muss? Ist der Glaube tatsächlich nicht ihre Sache oder, andersherum gefragt: ist der Glaube tatsächlich so, dass er Menschen zu braven, biederen Bürgern erzieht?

"Der Glaube ist nicht jedermanns Sache". So, wie dieser Satz im Predigttext steht, in direktem Zusammenhang mit Unsittlichkeit und Verkommenheit, scheint es beim Glauben tatsächlich um Anstand und Sitte zu gehen. Dann wäre der Gläubige derjenige, der die Moral hoch hält, Unmoral dagegen wäre ein klares Zeichen von Unglauben. - So wurde der Glaube auch über Jahrhunderte gesehen und verstanden. Besonders die Obrigkeit hatte ein Interesse, dass ihre Untertanen den Glauben in dieser Weise verinnerlichten: als Wohlverhalten dem Staat und den Mitbürgern gegenüber, das nicht aufbegehrt und nicht aus der Reihe tanzt. Und das einen ordentlichen Abstand hält zu denjenigen, die sich nicht ein- und unterordnen können.

Heute hat sich vieles geändert - und dennoch tut sich Kirche bis heute schwer mit Menschen, die anders sind. Das zeigen die Debatten um die Segnung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften oder um das Kirchenasyl. Nach wie vor haftet der Kirche ein Hauch von Biederkeit und Spießertum an. Und es gibt nicht wenige Christen, denen ist so ein bisschen Biederkeit und Spießertum gar nicht unrecht; denen wäre es lieber, Kirche kümmerte sich um ihre Leute, statt sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angehen, und sich um Leute zu sorgen, die gar keine Christen sind. Denen wäre es lieber, Kirche hielte einen sicheren Abstand zu den Asylanten und Migranten, den Obdachlosen und Drogensüchtigen, den verwahrlosten Kindern, jugendlichen Müttern und verwirrten Alten.

Der Predigttext selbst, so fromm und bieder er daherkommt, zeichnet ein anderes Bild vom Glauben: "Der Herr aber lenke eure Herzen auf die Liebe Gottes und auf die Erwartung Christi". Glaube bedeutet *Herzenslenkung*, man könnte auch sagen: Manipulation. Aber nicht durch menschliche Schliche und Tricks; Gott selbst soll und wird die Herzen lenken; Gott soll uns fremdbestimmen, fernsteuern. Und zwar auf zwei Ziele hin. Das erste Ziel ist: die Liebe Gottes.

Die Liebe Gottes - was soll das sein? Ein ziemlich schwammiger Begriff, der für alles mögliche stehen kann. Schließlich meinte man früher auch: "Wer sein Kind liebt, der züchtigt es" - und empfand in perverser Verkehrung der Tatsachen Schicksalsschläge, Krankheit und Leid als Zeichen der Liebe Gottes, die sich eben darin zeige, dass er uns durch Leiden "züchtigt". Aber schon damals hätte man wissen können, dass Liebe und das Zufügen von Schmerz niemals zusammengehören- es ist schon schlimm genug, wenn man Liebeskummer, ein gebrochenes Herz erleben und erleiden muss. Man hätte es auch deshalb wissen können - wissen *müssen*, weil Jesus diese Liebe Gottes in einer Weise gepredigt und gelebt hat, dass gar kein Zweifel mehr daran bestehen kann, wie diese Liebe Gottes gemeint ist. Die Liebe Gottes ist nämlich eine Liebe, die den Menschen über das Gesetz stellt und notfalls eher eine Regel bricht, als einen Menschen zu brechen. 

Jesus hat oft Regeln gebrochen - vom Gebot der Sabbatheiligung, als er seine Jünger am Sabbat Ähren raufen ließ und als er am Sabbat Kranke heilte, bis hin zur Gotteslästerung, als er sich selbst zu Gottes Sohn machte. Jesus fand auch nichts dabei, zu den Schmuddelkindern zu gehen und mit ihnen öffentlich gesehen zu werden. Er ließ sich von einer Prostituierten die Füße waschen und küssen; er lud sich bei einem Gauner und Halsabschneider mit Namen Zachäus zum Essen ein. Jesus durchbrach die Regeln und Konventionen seiner Zeit, wenn sie der Liebe Gottes zuwider liefen, die er predigte. Und er predigte, dass diese Liebe Gottes allen Menschen gilt. Nicht nur den Frommen und Braven, sondern auch und besonders jenen, deren Sache der Glaube nicht ist, die nichts von Gott wissen oder die auf andere Weise glauben, als es in der Gesellschaft üblich und schicklich ist.

Folgen wir der Liebe Gottes, so, wie Jesus sie gelebt hat, dann gelangen wir immer wieder zu Menschen, die wenig oder selten Liebe erfahren, Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Menschen, die nicht beachtet werden, weil sie noch zu klein sind oder schon zu alt. Menschen, die aufgrund einer Behinderung nicht mit der Mehrheit mithalten können. Menschen, die anders aussehen, anders leben, anders lieben als die Mehrheit. Menschen, die Schuld auf sich geladen haben und auf diese Schuld festgenagelt werden. Die Liebe Gottes drängt uns dazu, diesen Menschen mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen. Sie als Menschen *erster* Klasse anzusehen, als Mitmenschen. Sie drängt uns dazu, ihnen die Liebe zu erweisen, die Gott uns erweist, und ihnen zu zeigen, dass sie unter uns willkommen sind.

Das zweite, worauf der Herr unser Herz lenken will, ist die Erwartung Christi, die Parusie, wie sie mit einem Fachbegriff genannt wird. Christus wird wiederkommen, um, wie wir im Glaubensbekenntnis sprechen, "zu richten die Lebenden und die Toten". Und um sein Reich aufzurichten. Das Reich, von dem er schon zu Lebzeiten sagte, dass es nahe herbeigekommen sei.
Weil Jesus sein Reich aufrichtet, reden wir ihn als "Herr" an. Dieses "Herr" ist keine Höflichkeitsfloskel wie bei "Herr Dr. Klöbner". Dieses "Herr" meint auch nicht, dass wir unfreie Sklaven wären, die einem Sklavenhalter - eben: unserem Herrn - gehören, der mit uns und unserem Leben tun und lassen kann, was er will. Nein, "Herr" ist ein Titel - so wie "Kaiser, König, Edelmann", wie "Kanzlerin" oder "Bundespräsidentin". Christus ist das Staatsoberhaupt seines Reiches, deshalb *heißt* er "Herr". Und weil sein Reich von dieser Welt ist und wir schon mit einem Bein darin stehen, deshalb *nennen* wir ihn "Herr". Und darum, weil wir bereits Bürgerinnen und Bürger seines Reiches sind, haben die anderen sogenannten Herrn uns gar nichts zu sagen!

Diese Tatsache, dass wir, obwohl wir Bürger sind mit ihren Rechten und Pflichten, einem anderen Reich angehören, hat Christen zu allen Zeiten immer etwas aufmüpfig sein lassen. Es fiel ihnen schwer, sich anzupassen und unterzuordnen - besonders dann, wenn sie erkannten, dass die sogenannten Herrn Unrecht taten. Dass ihre Herrschaft ungerecht war, weil sie Menschen Leid zufügte. Dann haben sich Christen zwar kein Bier und Zucker ins Haar getan, um sich eine Stachelfrisur zu machen. Aber manche haben es gewagt, ein Stachel im Fleisch des Staates zu sein, haben versucht, dem Rad der Geschichte, das die sogenannten Herrn in Schwung bringen wollten, in die Speichen zu fallen. Nicht, weil sie gegen alles gewesen wären - ganz im Gegenteil: Sie glaubten an etwas Großes: an Gottes Reich.

Das Reich Gottes, das Jesus einst aufrichten wird und das bereits jetzt im Werden ist, ist ein besonderes Reich. Die Bilder, die die Bibel vom Reich Gottes zeichnet, erinnern an den Ruf der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit. Die Bibel spricht davon, dass Menschen Gerechtigkeit widerfährt. Dass sie keine Angst mehr vor dem Bösen haben müssen. Dass der Mensch nicht mehr des Menschen Wolf ist, sondern die Wölfe bei den Lämmern weiden und Gras fressen wie das liebe Vieh.

Das Reich Gottes bedeutet nicht Revolution, und es kommt auch nicht schneller, wenn wir Revolution machen. Es selbst *ist* die Revolution, denn es stürzt unser Leben um. Wenn wir meinen, es genüge, still zu halten und anständig zu sein, lenkt Gott unsere Herzen auf seine Liebe und auf die Erwartung Christi: Gott entzündet sie in Liebe zu unseren Mitmenschen und in der Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde. Wenn der Glaube unsere Herzen entzündet hat, brennen wir für die Sache Gottes. 
Dann kann es sein, dass es uns egal ist, wenn andere sagen:
"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern".
Wir gehen trotzdem zu ihnen, reichen ihnen die Hand, lernen, ihre Lieder zu singen und tragen so einen Stein zum Bau des Reiches Gottes bei.

Amen.