Donnerstag, 26. Januar 2017

Vertrauen gewinnen

Predigt am 4. Sonntag nach Epiphanias, 30.1.2017, über Matthäus 14,22-33

Unverzüglich trieb Jesus die Jünger an, ins Boot zu steigen und ihm auf das jenseitige Ufer vorauszufahren, während er die Menge entließ. Nachdem er die Menge entlassen hatte, stieg er für sich auf einen Berg, um zu beten. Als es Abend geworden war, war er allein dort. Das Boot war bereits ein ganzes Stück vom Festland entfernt, als es von den Wogen bedrängt wurde, denn der Wind stand ihm entgegen.In aller Herrgottsfrühe kam Jesus zu ihnen und ging auf dem Meer.
Als die Jünger ihn sahen, wie er auf dem Meer ging, waren sie geschockt und riefen: Es ist ein Gespenst!, und schrien vor Furcht. Gleich sagte Jesus zu ihnen: Habt Mut, ich bin‘s, habt keine Angst! Petrus entgegnete ihm: Herr, wenn du es bist, befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen. Jesus sagte: Komm! Und Petrus stieg aus dem Boot, ging auf dem Wasser und ging zu Jesus. Als er aber den heftigen Wind bemerkte, bekam er Angst und begann zu sinken. Da rief er: Herr, rette mich! Gleich streckte Jesus die Hand aus, ergriff ihn und sagte zu ihm: Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? Als sie ins Boot stiegen, schlief der Wind ein. Die im Boot aber warfen sich vor ihm nieder und sagten: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!
(Eigene Übersetzung)

Liebe Gemeinde,

ich weiß genau, wie Petrus sich gefühlt hat.
- Nicht, dass ich schon mal übers Wasser gelaufen wäre!
Aber ich habe, wie Petrus, die Angst und den Schrecken vor dem Wasser erlebt.
Damals war ich noch ein kleines Kind, vielleicht fünf, sechs Jahre alt.
Ich sollte schwimmen lernen.
Mein Vater hielt mich fest umklammert.
Das Wasser reichte ihm bis zur Hüfte.
Er hielt mich sicher, es konnte gar nichts passieren.
Aber dann sah ich nach unten,
sah unter mir die für Kinderaugen bodenlose Tiefe
und bekam plötzlich schreckliche Angst.
Und nichts, weder der feste Halt in Vaters Armen,
noch seine beruhigenden Worte,
konnte den Schrecken bannen, der mich erfasst hatte.
Ich schrie aus Leibeskräften, schrie um mein Leben.
Meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als mich an Land zu bringen.

Vielleicht haben auch Sie als Kinder diese Angst vor dem Wasser erlebt -
und irgendwann überwunden.
Haben schwimmen gelernt
und empfinden das Wasser jetzt nicht mehr als abgründige Bedrohung,
etwas, das Sie verschlingen will,
sondern als freundliches Element, das Sie trägt und in dem Sie sich entspannen.

Wie kommt man hinüber auf diese andere Seite?
Wie geschieht es, dass aus Angst Zutrauen wird?
Dass ein Element, dessen tödliche Gefahr man instinktiv spürt -
Kinder können ja noch nichts wissen von der Macht und Gewalt des Wassers,
aber sie spüren sie, wie jedes Tier sie spürt:
Wenn die riesige Welle des Tsunamis heranrollt,
flüchten alle Tiere vom Strand,
während die nichtsahnenden Menschen meinen,
einem Naturschauspiel beizuwohnen
und erst in letzter Sekunde die Gefahr erkennen,
aber dann ist es zu spät.

Wie tief die Angst vor dem Wasser in uns verwurzelt ist,
zeigt sich auch daran,
dass die meisten Halligbewohner sich weigerten,
schwimmen zu lernen.
„Der blanke Hans holt mich früh genug“, sagten sie dazu.
Es war für sie undenkbar, sich dem Meer zu überlassen,
das jeden Herbst und Winter die Halligen überflutet und ihr Leben bedroht.

Wie also kommt man hinüber?
Wie kommt es dazu, dass das gefährliche, todbringende Element Wasser
zu einer Art Spielgefährten wird, dem man sich überlässt, dem man vertraut?

Man kann sich mit dem Wasser anfreunden,
indem man seine Gefährlichkeit verdrängt.
Für uns Binnenländer erscheint das Wasser,
eingesperrt und domestiziert in Schwimmbecken,
harmlos und ungefährlich.
Es macht Spaß, zu schwimmen, zu tauchen,
sich an heißen Tagen im Wasser zu abzukühlen,
sich im Whirlpool oder Massagebecken zu entspannen.
Nur bei Hochwasser wird auch uns immer wieder bewusst,
dass das Wasser sich nicht einsperren und bezwingen lässt.

Ein anderer Weg führt über die Auseinandersetzung mit der Gefahr.
Als Reaktion auf die vielen Unfälle an Seen, Flüssen und am Meer,
bei denen unzählige Menschen ertranken,
führte man den Schwimmunterricht ein.
Wenn man schwimmen kann, hat man eine Chance,
dem Tod im Wasser zu entrinnen.
„Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um“,
lautet der Leitspruch dieses präventiven Verhaltens.

Die Angst vor dem Wasser verliert man,
wenn man seine Gefährlichkeit verdrängt.
Oder wenn man sich der Gefahr bewusst aussetzt
- natürlich mit den nötigen Sicherungen versehen.
Dann überwindet man die Angst;
man lernt, die Gefahr zu beherrschen.
Was für das Wasser gilt, gilt für jede unserer Ängste
- z.B. die Angst vor der Dunkelheit, Angst vor Schmerzen,
Höhenangst, Arachnaphobie,
Agoraphobie, Klaustrophobie ...
Wer seine Angst überwinden will, muss sich entweder der Gefahr stellen
und dadurch lernen, mit ihr umzugehen.
Oder lernen, die Angst zu verdrängen, indem er die Gefahr verdrängt.

„Wer sich nicht in Gefahr begibt, kommt darin um“.
Petrus scheint sich für diesen Weg der Auseinandersetzung mit der Gefahr entschieden zu haben. Verdrängen ließen sich Wellen, Sturm und ein Gespenst auf dem Wasser ja auch nicht mehr.
Petrus nahm es angesichts dieser doppelten Bedrohung
durch Wasser und Gespenst mit beiden Gefahren auf einmal auf.
Wenn das Gespenst tatsächlich Jesus war, wie es behauptete,
so würde das Wasser ihn tragen, wie es Jesus trug.
Also reichte ein einfacher Test, um mit beiden fertig zu werden:

„Herr, wenn du es bist, befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen.
Jesus sagte: Komm!“

Es ist also wirklich Jesus, kein Gespenst.
Und auch das Wasser ist bezwungen, es trägt ihn.

Aber dann geht es Petrus so, wie es auch mir ergangen ist:
Obwohl er in Sicherheit ist und ihm nichts passieren kann,
gerät er in Panik, als er merkt, welcher Macht er gegenübersteht.
Die Angst davor überkommt ihn mit solcher Wucht, dass er im Wasser versinkt.
Er versinkt vor Angst. Jesus muss ihn herausziehen und retten.
Und er tadelt ihn: „Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt?“

Woran hat Petrus gezweifelt?
Hat er an dem Wunder, auf dem Wasser gehen zu können, gezweifelt,
so wie wir es heute auch tun würden?
Ist er deshalb „kleingläubig“, weil er es im Grunde nicht glauben kann,
dass es möglich ist, auf dem Wasser zu gehen,
dass Gott die Naturgesetzte außer Kraft setzt?
So nahe liegend es ist,
dass es um den Glauben an das Wunder gehen könnte,
und so gern Kritiker wie Verteidiger des Glaubens an diesem Punkt einhaken,
hat Jesus ihn nicht deshalb getadelt.
Das Wunder, so unglaublich es ist, spielt eigentlich gar keine Rolle.

Jesus tadelt ihn, weil Petrus an ihm zweifelt.
Das ist derselbe Zweifel, wie ich ihn als Kind im Arm meines Vaters erlebte:
Ich konnte nicht glauben, dass ich in seinen Armen sicher war,
dass mir nichts passieren würde,
dass mein Vater stärker sein könnte als das Meer.

Das ist etwas, das wohl alle Eltern einmal erleben:
Dass die Angst ihres Kindes größer ist als der Trost und die Sicherheit,
die sie ihm vermitteln möchten.
Das ist etwas, das wohl auch alle Kinder einmal erleben:
Dass die Angst so groß ist, dass die beruhigenden Worte der Eltern,
die Sicherheit und Geborgenheit des Elternhauses nicht ausreicht,
um sie zu besiegen.
Irgendwann überkommt sie einen, diese Angst,
vor dem Wasser oder der Nacht,
vor den Nachbarskindern oder den Mitschülern,
vor dem Leben oder vor dem Tod.

Sie ist so groß, so überwältigend,
weil einem in diesem Moment klar wird,
dass die Eltern einen davor nicht beschützen können.
Mutter und Vater, die immer da sind,
die immer Rat wussten und Hilfe,
die Geborgenheit schenkten, Trost und Schutz,
können die Nacht nicht vertreiben,
können die fiesen Nachbarskinder, die gemeinen Mitschüler nicht in ihre Schranken weisen,
können das Leben nicht weniger gefährlich machen,
können gegen den Tod nichts ausrichten.

Und so ist es ja auch.
Wenn aus den Kindern selbst Eltern geworden sind,
müssen sie eine neue Angst kennen lernen:
die Angst um ihr Kind.
Sobald das Kind in den Kindergarten, in die Schule geht,
weiß man nicht mehr, was es tut, wie es ihm geht,
kann man nicht mehr ständig für sein Kind da sein.
Je selbständiger es wird, desto weniger kann man es beschützen.
Man sitzt zuhause und malt sich all die Gefahren aus, die sein Kind bedrohen,
oder liest voll Entsetzen von dem, was Kindern angetan wird, in der Zeitung.
Und hat erst recht Angst.

Der gemeinsame Nenner beider Ängste,
der der Eltern und der ihrer Kinder,
und auch der der Angst des Petrus
ist das Vertrauen.
Besser gesagt: Das fehlende Vertrauen.

Jesus tadelt Petrus, weil er ihm nicht vertraut.
Sein Kleinglaube ist sein mangelndes Vertrauen.
Das ist auch die Kränkung,
die Eltern von ihren Kinder erleben:
dass sie ihnen eines Tages nicht mehr grenzenlos vertrauen,
sondern an ihren Fähigkeiten zweifeln.

Und das ist die Kränkung der Kinder,
dass die Eltern nicht so mächtig sind,
wie sie ihnen erschienen,
und die Welt nicht so friedlich und gut,
wie es die kleine, heile Welt ihres Elternhauses war.

Die Frage ist also:
Wie gewinnt man das Vertrauen zurück?
Wie gewinnt man Vertrauen, gerade wenn man weiß und erfahren hat,
wie böse einem das Leben, die Mitmenschen mitspielen können?
Wie gewinnt man Vertrauen, wenn man keine Illusionen mehr hat
und der Glaube an ein Wunder längst verloren ging?

Das ist das Wunder!
Wenn ein Mensch angesichts seiner Angst Vertrauen gewinnt,
geschieht das Wunder, um dessentwillen die biblischen Wundergeschichten erzählt wurden.
Nicht, um uns dazu zu bringen, auf ein Wunder zu hoffen
uns dazu zu zwingen, unsere Vernunft nicht zu gebrauchen
und wider besseres Wissen an etwas zu glauben, was so nicht sein kann.
Sondern damit wir in das Bekenntnis der Jünger einstimmen:
„Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!“

Jesus ist wahrhaftig Gottes Sohn.
Wenn wir das glauben können,
ist ein Wunder geschehen.
Ist DAS Wunder geschehen.
Dieses Wunder vertreibt die Angst
und ersetzt sie durch Vertrauen und Geborgenheit.
Das Leben bleibt weiterhin schrecklich
- und ist doch auch voller Wunder und Schönheit.
Menschen tun einander weiterhin furchtbare Dinge an
- und können doch auch so gut und liebevoll sein.
Die Nacht bleibt gruselig, das Meer gefährlich,
Spinnen, Enge oder Höhe behalten ihren Schauer
- und haben doch auch einen Reiz und einen Zauber,
können freundliche Elemente sein, gute Gefährten.

Denn hinter und über all dem ist einer, Gott,
der Gutes für uns will.
Der wahrhaftig ist und gerecht.
Der sieht, was Menschen einander antun,
und es verurteilt.
Der leidet mit der gequälten Kreatur,
der unseren Schmerz empfindet und teilt
ebenso wie unsere Freude und unser Glück.
Und der von all dem Elend, dem Leid und der Not,
von aller Gewalt, aller Angst und allem Schrecken
nicht angegriffen werden kann.
Gott besteht sie, Gott übersteht das alles,
und darum werden auch wir es überstehen,
weil wir auf Gottes Seite sind
und Gott bedingungslos auf unserer Seite.

Wenn wir das glauben, wenn wir darauf vertrauen können,
kann uns die Angst nicht mehr überwältigen.
Dann ist sie besiegt.
Und wir sind frei,
inmitten dieser wilden, gefährlichen, ungerechten Welt
zu leben, zu lieben, froh und glücklich zu sein
und uns, unseren Kindern,
den Menschen, die wir lieben
und den Menschen, mit denen wir durchs Leben gehen,
Freunden wie Feinden,
mit Gottes Hilfe eine bessere Welt zu bauen.
Amen.