Freitag, 28. September 2018

Bin ich schön?

Predigt am Erntedanktag, 30.9.2018, über 1.Timotheus 4,4-5

Liebe Schwestern und Brüder,

finden Sie sich schön?
Eine indiskrete Frage, ich weiß. Ich erwarte auch nicht, dass Sie darauf antworten. Ich möchte Sie vielmehr anregen, sich selbst diese Frage zu stellen:
Finde ich mich schön?

Sehen Sie morgens im Spiegel die strahlenden Augen, die Lachfältchen, die geschwungenen oder vollen Lippen?
Oder sehen Sie die grauen Haare, die Schatten unter den Augen, die zu trockene oder zu fettige Haut, die Falten?

Wenn Sie sich im Spiegel sehen, fallen Ihnen dann Ihre kräftigen, zupackenden Hände oder Ihre feinen, grazilen Finger auf, Ihre schönen oder aufregenden Kurven, Ihre Beine, auf denen Sie flott gehen, sicher stehen können?
Oder sehen Sie den Bauchansatz, das nachgebende Bindegewebe, die Orangenhaut, die Besenreiser?

Was sehen wir, wenn wir in den Spiegel schauen?
Wagen wir, uns schön zu finden, oder sehen wir Mangel und Häßliches?
Und was sehen wir, wenn andere sich in unseren Augen spiegeln?

Der Predigttext aus dem 1.Timotheusbrief will uns lehren, neu und anders zu sehen:
„Jedes Geschöpf ist schön*, und man muss nichts verachten, wenn man es mit Dank annimmt. Denn es wird geheiligt durch das Wort und das Gebet.“

I. „Jedes Geschöpf ist schön“. Kann man das so pauschal behaupten? Es kann doch nicht jedes Geschöpf schön sein, oder? Die Kröte, der Aasgeier, die Hyäne, die Wildsau sind nicht schön, sondern hässlich und abstoßend.
Die Distel ist nicht schön, die Klette nicht und auch nicht der Dornstrauch.
Und es gibt sogar Menschen, die durch einen Unfall, durch eine Krankheit oder von Geburt an so „anders“ aussehen, dass man sie als entstellt empfindet, als hässlich.

Das Wort, das ich eben benutzt habe, ent-stellt, ist verräterisch. Es verrät, dass man von einer Norm ausgeht. Eine Norm, von der diese Menschen, die man als „entstellt“ bezeichnet, abweichen. Was man als „schön“ empfindet und als „schön“ bezeichnet, das ist oft das, was einer gewissen Norm entspricht. Sie steht nirgendwo aufgeschrieben, und doch hat sie jede und jeder verinnerlicht.
Frauen müssen ständig ertragen, dass man sie an dieser geheimen Norm misst und beurteilt. Aber so geheim ist sie ja gar nicht. Täglich wird uns durch die Werbung vor Augen geführt, wie eine Frau auszusehen hat. Frauen werden an einem Idealbild gemessen, nach dem die Venus von Milo, die über Jahrhunderte als das Maß weiblicher Schönheit galt, als „fett“ bezeichnet und zu keiner Modelschow zugelassen werden würde.
Venus von Milo
Venus von Milo
Schönheit, wie wir sie heute verstehen, bedeutet, einer Norm zu entsprechen. Man legt eine Schablone an und überprüft, ob er oder sie in diese Schablone passt. Alles, was darüber hinausgeht, ist hässlich und muss weggehungert, wegtrainiert, weggeschnitten werden.

II. Der Predigttext vertritt einen anderen Begriff von Schönheit:
„Schön ist alles, was man mit Dank annimmt“.
Hier wird Schönheit nicht mit einer Schablone gemessen. Schönheit ist auch nicht etwas, was man hat oder eben nicht hat. Schönheit entsteht im Auge des Betrachters, und zwar dadurch, dass man für etwas dankbar ist. Darum ist Schönheit auch ein Thema für den Erntedank.

Schönheit entsteht dadurch, dass man dankbar ist. Das klingt kompliziert. Dankbarkeit und Schönheit haben gewöhnlich nichts miteinander zu tun. Wir tun uns überhaupt schwer mit der Dankbarkeit. In unserer heutigen Gesellschaft ist man nicht dankbar, sondern tüchtig. Dankbar müssen die Almosenempfänger sein. Der Tüchtige ist stolz darauf, dass er sich alles selbst erarbeitet hat. Er ist niemandem etwas schuldig und muss keinem dankbar sein. Jeder hat es selbst in der Hand, etwas aus sich und seinem Leben zu machen. Man soll nicht jammern, wenn man keinen Erfolg hat, sondern sich zusammenreißen und sich anstrengen.
Das gilt auch für den eigenen Körper. Der Körper ist zum Material geworden, das man gestalten kann und muss, durch Diäten, durch Sport, durch Körperpflege. Ein Bauchansatz ist ein Zeichen dafür, dass man sich nicht genug angestrengt hat. Und letztlich ist man auch selbst schuld, wenn man krank wird: Man hat dann eben einfach nicht genug für seine Gesundheit getan.
Wer so denkt, der ist überrascht und fassungslos, wenn einer, der alles richtig gemacht hat - Sport trieb, gesund lebte, regelmäßig zum Arzt ging - trotzdem krank wird. Und geradezu als Ungerechtigkeit erlebt man es, wenn ein übergewichtiger Kettenraucher ein hohes Alter erreicht. Nur die Wenigsten erkennen den Denkfehler hinter dieser Vorstellung: Man kann sich Gesundheit und ein langes Leben nicht verdienen. Das Leben ist und bleibt lebensgefährlich, und es endet immer tödlich. Man kann, statistisch gesehen, das Risiko einer Erkrankung vermindern. Aber dass das Risiko bei einem gesunden Leben um soundsoviel Prozent vermindert ist, bedeutet nicht, dass man nicht trotzdem krank wird und stirbt. Unser Leben ist täglich vom Tod bedroht - 
„mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ -, 
dagegen sind wir machtlos. Wir kommen mit unseren Mitteln und Fähigkeiten gegen den Tod nicht an, daran werden alle medizinischen und technischen Fortschritte nichts ändern. 
Wir kommen aber gegen die Angst vor dem Tod an. Was gegen die Todesangst helfen kann, ist die Vorstellung, dass unser Leben in Gottes Hand ist. Gott hat es uns gegeben; Gott erhält es über den Tod hinaus und verwandelt es zu einem neuen Leben in der Auferstehung.

Gott hat uns das Leben geschenkt. Diese Vorstellung nennt die Bibel Schöpfung; Gott ist der Schöpfer und wir seine Geschöpfe. Damit will die Bibel nicht den Erkenntnissen der Biologie widersprechen. Sie weiß um die Sache mit den Bienchen und den Blümchen, und dass nicht der Klapperstorch die kleinen Kinder bringt. Der Bibel geht es um eine andere Sicht auf die Welt, wenn sie von der Schöpfung spricht. Es ist ja ein Unterschied, ob wir uns die Welt machen, widewidewie sie uns gefällt, ob wir allein unseres Glückes Schmied sind, oder ob wir unser Leben als ein Geschenk aus Gottes Hand ansehen und annehmen. Als Geschöpf ist man jedenfalls nicht zur Selbstoptimierung verpflichtet; man muss nicht immer besser, klüger, schöner werden, als man ist.

III. Wenn man sich als „Geschöpf“ denken und sehen gelernt hat, kann man auch für sich annehmen, was Gott nach dem ersten Schöpfungsbericht über seine ganze Schöpfung sagt: „Siehe, es war sehr gut“. 
Als Gottes Geschöpfe sind wir gut - sogar sehr gut. Nicht, weil wir Besonderes geleistet hätten, nicht, weil wir es verdient hätten durch besondere Anstrengung oder Bemühung, durch die Herkunft aus einem bestimmten Land, durch die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, Gebote oder Normen. Wir sind gut so, wie wir sind - und obwohl wir so sind, wie wir sind. Wir sind gut, trotz aller unserer Fehler und Macken. Trotz allem, was uns hässlich macht und entstellt - und das ist nicht nur Äußerliches. Hässlich wird man vor allem durch Hass, durch Neid, durch Unmenschlichkeit. Aber Gott vergibt uns, was uns hässlich macht, wenn wir es bereuen, und so werden wir gut, sogar sehr gut. Und weil wir gut sind, sind wir auch schön. Und es wäre geradezu eine Beleidigung des Schöpfers, wenn wir sagen würden, wir sind es nicht.

Wie aber kann man schön sein, wenn man sich selbst nicht als schön empfindet? Wenn man nur das Hässliche sehen kann, die Fehler und Unzulänglichkeiten?
Hier kommt die Dankbarkeit ins Spiel. Die Dankbarkeit folgt nämlich aus einer veränderten Sicht auf das Leben:
„Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen“,
das verdanken wir nicht eigenem Können, eigener Leistung. Das versteht sich auch nicht von selbst, das haben wir weder verdient, noch haben wir darauf einen Anspruch, sondern
„das haben wir zu danken Gottes Segen“.
Wer für sein Leben, seine Gesundheit, seinen Körper Dankbarkeit empfinden kann, kann sich selbst so annehmen, wie er oder sie ist, und sich schön finden. Der oder die misst sich nicht an den Normen und Schablonen der Gesellschaft, sondern entdeckt, wie wunderbar es ist, diesen Körper zu haben. Diese Hände gebrauchen zu können. Wie wunderbar und keinesfalls selbstverständlich es ist, gehen und sehen zu können, riechen und schmecken.

IV. „Jedes Geschöpf ist schön“. Das kann man sich nicht selbst sagen, das muss man gesagt bekommen. Deshalb sind wir so empfänglich für Normen und Schablonen, weil sie uns sagen, wann und wie wir schön sind.
Aber Normen, die andere aufgestellt haben und die der Mode unterworfen sind, können nicht darüber entscheiden, wie wir in Wahrheit sind. Wir spiegeln uns nicht in den Augen der anderen, die uns nach ihren oft unmenschlichen Maßstäben messen. Wir spiegeln uns in den Augen der Liebsten, des Liebsten, und in den Augen Gottes, der uns mindestens ebenso liebt und zu einer jeden und einem jeden von uns sagt: „Sieh dich an: Du bist sehr gut. Du bist schön“.

Aber wann und wie sagt Gott uns das?
Gott spricht zu uns durch sein Wort, durch das Wort der Bibel und durch die Predigt, die das Bibelwort auslegt. Und er spricht zu uns im Gebet, wie es im Predigttext heißt:
„Man muss nichts verachten, wenn man es mit Dank annimmt. Denn es wird geheiligt durch das Wort und das Gebet“.
Im Griechischen Text steht für „Gebet“ das Wort εντευξις, das ursprünglich „Zusammenkunft, Zwiesprache“ bedeutet. Beten bedeutet also, Zwiesprache halten - eine Unterhaltung mit Gott. Wenn man sich unterhält, dann redet man nicht nur, dann hört man auch zu. Auch das Schweigen des anderen kann sehr beredet sein. Gott antwortet uns nicht, wenn wir beten. Aber in seinem Schweigen bedenken wir vor Gott, was wir gerade gesagt haben. Wenn wir uns unzulänglich fühlen, bedenken wir das im Angesicht von Gottes Vergebung. Wenn wir uns hässlich fühlen, hören wir Gottes „Siehe, es war sehr gut“. So verändert sich nicht nur unser Denken über uns. Wir überdenken auch unsere Sicht auf andere. Denn das „Siehe, es war sehr gut“ gilt ja nicht allein uns, es gilt allen Geschöpfen Gottes.

V. „Jedes Geschöpf ist schön“. Wer diesen Satz für sich annehmen und gelten lassen kann, wird auch seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe mit anderen Augen sehen. Wird davor zurücksckrecken, einen anderen als „hässlich“ oder „fett“ zu bezeichnen. Wird sich scheuen und schämen, über einen Menschen mit einer Behinderung, einem Gebrechen zu lachen; einen Menschen mit ungewohntem Aussehen, anderer Hautfarbe zu verachten. Der wird auch mit Pflanzen und Tieren anders umgehen, sie nicht mutwillig quälen oder zerstören, sondern ihre Schönheit entdecken und sich an ihnen freuen.

Wer diesen Satz für sich gelten lassen kann, wird Schönheit nicht mit der Schablone messen, sondern mit dem Herzen, das besser sieht als unsere Augen. Wird Dankbarkeit empfinden für sein Leben, für Menschen und Tiere, die Welt, die uns umgibt. Dankbarkeit dafür, dass Gott über uns wie über seine ganze Schöpfung sagt: „Siehe, es war sehr gut“. Amen.  

__________
* Das Wort „schön“ mag für den, der die Lutherübersetzung im Ohr hat, ungewohnt klingern. Luther übersetzt: „alles, was Gott geschaffen hat, ist gut“. Im Griechischen Text steht καλος, das man zunächst mit „schön“ übersetzen würde - „gut“ heißt auf Griechisch αγαθος.

Freitag, 21. September 2018

Der Bogen sein

Ein Bogen, aus Menschen gebildet, der von einem größeren Menschen (Gott?) gespannt wird

Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, 23. September 2018, über Jesaja 49,1-6:

Hört mich, ihr Küstenbewohner!
Hört her, ihr fernen Völkerstämme!
Gott hat mich vor meiner Geburt berufen.
Als ich noch im Bauch meiner Mutter war, hatte er meinen Namen schon vorgemerkt.
Er machte meinen Mund wie einen scharfen Dolch, den er in seiner Hand verbarg.
Er macht mich zu einem geschärften Pfeil und versteckte mich in seinem Köcher.
Er spricht zu mir: Ich beauftrage dich.
Israel, auf dich bin ich stolz.
Ich aber sprach: Vergeblich rackere ich mich ab.
Für nichts und wieder nichts verschwende ich meine Kraft.
Aber mein Recht bekomme ich von Gott,
und meinen Lohn von meinem Gott.
Jetzt hat Gott gesprochen,
der mich vor meiner Geburt beauftragt hat,
dass ich Jakob zu ihm zurückbringe
und Israel für ihn einsammle.
In Gottes Augen bin ich angesehen.
Mein Gott bietet mir Zuflucht.
Er spricht: Es ist nicht genug, dass du beauftragt bist,
die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Israels zurückzuholen.
Ich habe dich auch zum Licht der Völker gemacht,
damit du meine Hilfe bist bis in die entlegendsten Gebiete.


Liebe Schwestern und Brüder,

der Dichter Kahlil Gibran schreibt über die Eltern:
„Ihr seid die Bögen, von denen eure Kinder als lebendige Pfeile entsandt werden.
Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit,
und er spannt euch mit seiner Kraft,
damit seine Pfeile schnell und weit fliegen”
(Kahlil Gibran, The Prophet, New York 1985, S. 18).
Vielleicht hatte der Dichter diese Stelle aus dem Propheten Jesaja im Ohr,
als er seine Zeilen schrieb:
„Hört, Gott hat mich vor meiner Geburt berufen.
Er macht mich zu einem geschärften Pfeil und versteckte mich in seinem Köcher”.
Es ist ein schönes Bild, das der Prophet Jesaja und der Dichter Kahlil Gibran
für die Kinder gefunden haben:
Ein Kind ist ein Pfeil, den Gott auf ein Ziel schießt, das er ausgewählt hat.
Als Mutter oder Vater ist man nicht der Schütze.
Man bestimmt nicht, wohin der Pfeil fliegen wird.
Aber man darf der Bogen sein, von dem der Pfeil seine Energie bekommt,
schnell und weit zu fliegen.

Ein schönes Bild.
Und ein ärgerliches.
Sollte man als Mutter und Vater nicht bestimmen dürfen,
wohin für das eigene Kind die Reise geht?
Soll man es nur ausrüsten dürfen mit dem nötigen Wissen
und den Fähigkeiten, die man für eine Lebensreise braucht;
ihm seinen Rucksack und seinen Brotbeutel packen,
und es dann einfach gehen lassen?

Das jedenfalls ist die tägliche Routine der meisten Eltern,
deren Kind in den Kindergarten oder in die Schule geht:
Sie sorgen dafür, dass ihr Kind richtig angezogen ist,
packen Sport- oder Brotbeutel, schärfen Mahnungen für den Schulweg ein
und kontrollieren, ob Hausaufgaben auf waren oder eine Klassenarbeit ansteht.
Jeder Morgen, an dem ein Kind in den Kindergarten oder in die Schule geht,
ist ein kleiner Abschied.
An jedem dieser Morgen ist man der Bogen,
von dem das Kind einem Ziel entgegenschnellt,
das man nicht kennt und über das man nicht bestimmen kann.

Wer aber bestimmt über das Ziel?

Auch Erwachsene waren mal Kinder,
die von ihren Eltern auf den Weg gebracht wurden.
In früheren Zeiten war der Gedanke ungewohnt und für viele undenkbar,
dass Eltern bloß der Bogen sind, der dem Pfeil die Energie für seinen Flug verleiht.
Früher waren Eltern davon überzeugt,
dass sie bestimmen, wohin die Reise geht,
solange das Kind seine Füße unter ihren Tisch steckt.
Mein Vater z.B., der ein guter Schüler war,
wäre gern weiter zur Schule gegangen, hätte womöglich sogar studiert.
Er träumte davon, Förster zu werden.
Aber als Sohn eines Landwirts gab es für ihn nur die Volksschule,
und anschließend die Lehre, bevor er auf den väterlichen Hof zurückkehren musste.
Und wenn damals die Eltern nicht so resolut und kompromisslos waren wie mein Großvater,
dann war es der Staat, der wusste, was gut für die Kinder ist,
und das mit Zwang und notfalls mit Gewalt durchsetzte.

Auch Erwachsene waren mal Kinder.
Manchem wird es ähnlich ergangen sein wie meinem Vater.
Er oder sie hatte Träume, hatte Vorstellungen vom Leben,
die sich nicht verwirklichen ließen.
Bertolt Brecht lässt seine Mutter Courage singen:
„Einst, im Lenze meiner jungen Jahre,
dacht auch ich, dass ich was ganz Besondres bin.
Und ich bestellte meine Suppe ohne Haare.
Und von mir, sie hattens kein Gewinn.
Doch vom Dach der Star pfiff: Wart paar Jahr.
Und du marschierst in der Kapell
im Gleichschritt, langsam oder schnell
und bläsest deinen kleinen Ton - jetzt kommt er schon.
Der Mensch denkt, Gott lenkt - keine Red davon”
(Bertold Brecht, Die Gedichte in einem Band, Frankfurt/M 4,1986, S. 1192)

Wer im Leben Erfahrungen wie Mutter Courage oder wie mein Vater gemacht hat,
wird sich wahrscheinlich ärgern, dass der Prophet Jesaja so selbstbewusst auftritt:
„Hört her, Gott hat mich vor meiner Geburt berufen.
Als ich noch im Bauch meiner Mutter war, hatte er meinen Namen schon vorgemerkt”.
Ja, wenn man das von sich sagen könnte!
Wenn man, wie Harry Potter, der schon bei seiner Geburt für Hogwarts vorgemerkt war,
ebenso für eine Karriere, für ein großes Ziel vorgemerkt wäre!
Doch Harry Potter ahnt nicht, was ihm bevorsteht.
Die großen Erwartungen und der Ruhm sind für Harry,
der im Kabuff unter der Treppe zuhause war, zuviel; er kann damit nicht umgehen.
Die Tatsache, dass er bereits bei seiner Geburt für Hogwarts vorgemerkt war,
bereitet ihm im ersten Jahr an dieser Schule vor allem Ärger, Neid und Schwierigkeiten.
Und je weiter sich die Geschichte entwickelt,
desto klarer wird, dass Harrys Erwählung ein Fluch ist.
Am Ende ist er dazu gezwungen, sich selbst zu opfern.
Zum Glück stirbt er dabei nicht.
Aber wenn man die Wahl hätte zwischen Harry Ruhm und einem ruhigen Leben,
würde man sich wohl für letzteres entscheiden.

Auch dem Propheten Jesaja bereitet seine Berufung vor allem Ärger und Schwierigkeiten.
Wenige Seiten nach dem Predigttext steht im 53. Kapitel des Jesajabuches die berühmte Stelle,
wo es heißt:
„Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen.
Als er gemartert ward, litt er doch willig
und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird”
(Jesaja 53,4.7).

Der Mensch denkt, Gott lenkt. Aber davon kann keine Rede sein.
Helden gibt es nur in Romanen und biblischen Geschichten,
und dann ist ihr Schicksal so arg, dass man nicht mit ihnen tauschen möchte.

Wer aber bestimmt über das Ziel, wenn Gott den Flug des Pfeiles nicht lenkt
und die Eltern nur der Bogen sind, der dem Pfeil die Kraft verleiht,
nicht aber der Schütze, der das Ziel anvisiert?
Beim Rückblick auf das eigene Leben werden nur die wenigsten von sich sagen können,
dass alles so kam, wie es sollte und wie es geplant war.
Vieles im Leben ist Zufall. Selbst, wenn man einen Plan für sein Leben hat,
kommt einem das Leben selbst in die Quere
und zwingt einen dazu, die Pläne zu ändern.

Aber bevor man sich beklagt, dass man seine Ziele nicht verwirklichen konnte,
und bevor man die beneidet, die scheinbar alles erreichten, was sie wollten,
sollte man nach den Zielen fragen.
Was erstrebt man überhaupt für sein Leben?
Reich und berühmt zu werden?
Eine wegweisende Entdeckung zu machen, ein rettendes Heilmittel zu finden?
Dass eine Straße nach einem benannt wird, man im Fernsehen auftritt?
Dass einen wildfremde Leute auf der Straße erkennen,
oder dass Schüler einmal in Geschichte den eigenen Lebenslauf werden lernen müssen?

Wenn man sich fragt, was im Leben wichtig ist,
wird man auf das kommen, was einen tief berührt hat -
so tief, dass man es bis heute daran denken muss.
Dass kann die persönliche Begegnung mit einer Berühmtheit
wie dem Papst oder dem Dalai Lama sein,
ein Auftritt in einer Fernsehshow, eine besondere Ehrung.
Meistens aber sind es viel unscheinbarere, alltäglichere Dinge:
Eine Liebeserklärung.
Hilfe im richtigen Augenblick.
Dass einem jemand verzeihen konnte.
Dass jemand da war, als man dringend Trost brauchte.
Dass jemand Verständnis für einen hatte,
dass man verstanden und respektiert wurde.

Diese Momente stehen in keinem Geschichtsbuch;
keine Straße wird nach ihnen benannt.
Trotzdem sind sie die wichtigsten und prägendsten Momente unseres Lebens.
Momente, die uns am tiefsten berühren, am stärksten bewegen.
Momente, die uns den Glauben an die Menschheit zurückgeben.

Und wissen Sie, was das Tollste ist?
Jede und jeder von uns kann einem anderen Menschen einen solchen Moment bereiten!
Jede und jeder von uns hat die Fähigkeit und das Potenzial,
einem anderen Menschen einen unvergesslichen Moment zu schenken;
für diesen Menschen zur Heldin, zum Helden zu werden.
Einem Menschen den Glauben an die Menschlichkeit zurückzugeben
und damit die Menschheit zu retten.

Diese Fähigkeit schlummert in einer jeden, einem jeden von uns.
Sie wird bereits im Mutterleib in uns angelegt.
Bereits im Mutterleib sind wir zur Menschlichkeit berufen.
Unser Name ist vorgemerkt in der Liste derer,
die für einen anderen Menschen etwas Großes vollbringen werden.
Dadurch werden wir zum Licht der Welt, zum Licht für die Völker
und bringen Hilfe in die entlegendsten Gebiete.

Zur Menschlichkeit sind wir berufen, von Mutterleib an.
Diese Berufung kann man nicht verfehlen, wenn man sich von seinem Herzen leiten lässt.
Was man als Mutter und Vater tun kann, um ein guter Bogen zu sein,
durch den das Kind als Pfeil schnell und weit fliegt,
ist, genau diese Herzlichkeit zu leben und sich von ihr bestimmen zu lassen.
Mehr braucht es nicht.
Damit zünden wir in unseren Kindern ein Licht an,
mit dem sie leuchten für sich, für uns und für die ganze Welt.
Amen.

Samstag, 15. September 2018

Wie der Engel kommt

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 16.9.2018, über Apostelgeschichte 12,1-11

Liebe Schwestern und Brüder,

Was ist Auferstehung?
Jeden Sonntag bekennen wir uns zum Glauben an die Auferstehung mit den Worten:
„Ich glaube an die Auferstehung der Toten“. 
Aber was Auferstehung ist, davon haben wir bestenfalls eine vage Vorstellung.
Wirklich wissen, was Auferstehung ist, tun wir nicht.
Wie sollten wir auch?
Es ist ja die Auferstehung der Toten; wir aber leben.
Dass nach unserem Tod noch etwas kommt, kann uns trösten.
Aber was dann kommt, und wie es sein wird, das können wir nicht wissen.

Also ist es doch müßig, zu fragen, was Auferstehung ist,
wenn wir es ohnehin erst nach unserem Tod erfahren
und niemandem mehr davon erzählen können.
Aber was nützt uns dann der Glaube an die Auferstehung?
Warum ist er so wichtig, dass der Apostel Paulus schrieb:
„Gibt es keine Auferstehung der Toten,
so ist auch Christus nicht auferstanden.
Ist aber Christus nicht auferstanden,
so ist unsere Predigt vergeblich,
so ist auch euer Glaube vergeblich“
(1.Korinther 15,13-14).

Offenbar muss man unterscheiden zwischen der Auferstehung der Toten,
von der wir nichts wissen können, weil sie erst nach dem Tod stattfindet,
und der Auferstehung Christi, von der wir sehr wohl etwas wissen.
Zwischen beiden besteht eine Verbindung: Jesus.
Jesus ist der Vorläufer der Auferstehung.
Er ist uns vorangegangen in ein neues Leben bei Gott.
Weil er auferstanden ist, werden auch wir nach unserem Tod auferstehen.
Und es besteht ein Unterschied zwischen beiden:
Unsere Auferstehung erwarten wir erst nach dem Tod.
Die Auferstehung Jesu aber hat etwas mit unserem Leben zu tun.
Sie ist, wie Paulus schreibt, das Fundament unseres Glaubens.
Auf welche Weise ist sie das?
Davon berichtet eine Erzählung aus der Apostelgeschichte im 12. Kapitel:

„In diesen Tagen begann König Herodes, einige aus der Gemeinde zu malträtieren.
Er tötete Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
Als er sah, dass das den Juden gefiel, verhaftete er auch noch Petrus.
Es waren aber die Tage der ungesäuerten Brote.
Nachdem er seiner habhaft geworden war, warf er ihn ins Gefängnis
und übergab ihn viermal vier Soldaten zur Bewachung.
Nach dem Passafest wollte er ihn dem Volk vorführen.
Paulus wurde also im Gefängnis bewacht.
In den Gemeinden aber wurde für ihn intensiv zu Gott gebetet.
In der Nacht, bevor Herodes ihn vorführen wollte,
schlief Petrus zwischen zwei Soldaten.
Er war mit zwei Ketten gefesselt.
Außerdem bewachten Posten vor der Tür die Zelle.
Da, plötzlich, stand ein Engel da, und Licht erstrahlte in der Zelle.
Der Engel stupste Petrus in die Seite, um ihn zu wecken,
und sagte: ‚Steh schnell auf!‘
Da fielen ihm die Ketten von den Händen.
Der Engel sprach zu ihm: ‚Zieh den Gürtel stramm und die Sandalen an‘.
Petrus tat es. Und der Engel sprach: ‚Zieh deinen Mantel an und folge mir!‘
Petrus verließ die Zelle und folgte ihm.
Er wusste aber nicht, ob es wirklich geschah;
wegen des Engels schien es ihm, als träume er.
Sie passierten die erste Wache und die zweite
und kamen zum eisernen Tor, das in die Stadt führt.
Das öffnete sich ihnen von selbst.
Sie traten ins Freie und gingen eine Straße entlang.
Gleich verließ ihn der Engel.
Da kam Petrus zu sich und sagte sich:
‚Jetzt weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel schickte
und mich aus Herodes‘ Hand befreite
und von allem, was das Volk der Juden gern gesehen hätte‘.“

Petrus wird beim Fest der ungesäuerten Brote verhaftet.
Das Fest der ungesäuerten Brote ist das Passafest,
zu dem jedes Haus von Sauerteig gereinigt wird.
Von diesem Brauch stammt unser „Frühjahrsputz“ her
und unser „Großreinemachen“.
Diese Zeitangabe ist kein Zufall:
Vor dem Passafest wurde auch Jesus verhaftet.
Petrus soll am Tag nach dem Fest
dem Volk bei einem „Volksgerichtshof“ zur Verurteilung vorgeführt werden.
Der Tag nach dem Fest, das ist der Sonntag:
Der Tag der Auferstehung Jesu.
Wie die Geschichte erzählt, kommt es nicht zur Verurteilung.
In der Nacht zum Sonntag findet die wunderbare Befreiung
von Petrus aus dem Gefängnis statt,
so, wie Jesus in der Nacht zum Sonntag auferweckt wurde,
so dass am Ostermorgen das Grab leer war.

Es kann also kein Zufall sein,
dass Petrus ausgerechnet zum Passafest ins Gefängnis geworfen wird,
und dass er ausgerechnet in der Nacht zum Sonntag, dem Tag der Auferstehung,
daraus befreit wird.
Die Geschichte von der Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis
ist eine Auferstehungsgeschichte.

Aber geht es bei der Auferstehung nicht um die Auferstehung von den Toten?
Wie kann die Befreiung aus dem Gefängnis eine Auferstehung sein?
Nun, zuerst einmal könnte man sagen,
dass Petrus dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen ist.
Der Prozess, den Herodes ihn am Sonntag Morgen machen wollte,
hätte sicher nicht anders geendet als der Prozess,
den Pilatus Jesus gemacht hatte: Mit seinem Tod am Kreuz.
Und tatsächlich berichtet die Legende,
dass Petrus später den Kreuzestod erlitten hat.
Und dass er aus Ehrfurcht und Liebe zu Jesus darauf bestand,
umgekehrt gekreuzigt zu werden, mit dem Kopf nach unten.

Peter Paul Rubens, Die Kreuzigung Petri
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens-Die_Kreuzigung_Petri.jpg

Auch sonst passt der Vergleich der Befreiung aus dem Gefängnis mit der Auferstehung.
Wer im Gefängnis einsitzt, ist für die Gesellschaft gestorben.
Mit einem Straftäter will niemand etwas zu tun haben.
Seine Gefährlichkeit für die Gesellschaft ist der Grund,
warum er hinter Schloss und Riegel sitzt.
Bis auf die wenigen Menschen,
die eventuell noch Kontakt zu dem Gefangenen haben und halten,
weiß und interessiert sich niemand dafür, wie es ihm geht.
Und, so das allgemeine Empfinden, das ist auch gut so;
er hat es nicht besser verdient.
Dabei wird vergessen, dass dort ein Mensch einsitzt.
Ein Mensch, der vielleicht schreckliche Dinge getan,
das Menschsein anderer mit Füßen getreten hat.
Aber dennoch ein Mensch, der darunter leidet, dass er vergessen ist,
für seine Mitmenschen so gut wie tot.

Ähnlich fühlen Menschen, die durch eine schwere Krankheit,
eine Behinderung oder durch ihr Alter an ein Krankenbett,
an ihre eigenen vier Wände gefesselt sind:
Sie fühlen sich allein gelassen, vergessen;
für die Mitmenschen so gut wie tot.

Werden solche Menschen wieder gesund;
erhalten sie die Möglichkeit, dem Gefängnis ihrer eigenen vier Wände zu entkommen
oder werden sie aus dem Gefängnis entlassen,
kann sich das für sie wie ein neues Leben anfühlen.
Eine Auferstehung, mitten im Leben.

Es gibt eine Auferstehung im Leben.
Darauf deutet auch das Griechische hin,
in dem die Geschichten von der Auferstehung überliefert sind:
Auferweckung und das Wecken aus dem Schlaf sind im Griechischen das selbe Wort,
ebenso wie Aufstehen und Auferstehen.
Im Deutschen ist es ähnlich.
Das Wecken steckt in der Auferweckung,
das Aufstehen in der Auferstehung mit drin.
Wenn der Engel Petrus in die Seite stupst, um ihn zu wecken,
geschieht in diesem Moment auch seine Auferweckung zu einem neuen Leben.

Auch heute warten Menschen darauf, dass ein Engel zu ihnen kommt,
sie anstupst und sie zu einem neuen Leben erweckt.
Nicht nur die in einer Zelle oder in ihrem Körper Gefangenen.
Nicht nur die durch eine Krankheit oder eine Behinderung Isolierten,
nicht nur die an Einsamkeit Leidenden.
Auch Menschen, deren Seele sich verdüstert hat,
die an einer Depression erkrankt sind;
auch Menschen, deren Beziehung heillos zerrüttet ist
und die keinen Ausweg mehr sehen;
Menschen, die verstrickt sind in Schuld;
denen die Schulden über den Kopf wachsen;
die sich mit ihrer Familie oder mit den Nachbarn zerstritten haben.
Aber kein Engel kommt.
Engel kommen nur zu den Heiligen,
kommen nur in den Geschichten, die zu wunderbar sind,
als dass man sie glauben könnte.

Wie kommt der Engel zu Petrus?
Erzählt die Geschichte etwas darüber?
Scheinbar kommt er aus dem Nichts, ist ganz plötzlich einfach da.
Aber vorher wird erzählt:
„In den Gemeinden wurde für Petrus intensiv zu Gott gebetet“.
Der Engel kommt, weil die Gemeinde intensiv für Petrus betet.
Sie haben ihn nicht vergessen, nachdem er ins Gefängnis geworfen worden war -
im Gegenteil: Sie denken jetzt ganz besonders an ihn.

Der Engel kommt, wenn Menschen nicht vergessen werden.
Es kommt sicherlich kein Engel vom Himmel - da hilft alles Beten nichts.
Aber wenn man vor Gott wirklich intensiv an einen Menschen denkt,
wird es geschehen, dass einer oder eine sich aufmacht und hingeht
und so für diesen Menschen zu einem Engel wird.

Das Gebet macht Menschen zu Engeln.
Nicht das Gebet eines Einzelnen,
der oder die sich verpflichtet oder genötigt fühlt, sich zu kümmern.
Sondern das Gebet einer Gemeinschaft, einer Gemeinde,
der dieser Mensch fehlt; die ihn oder sie wirklich vermisst.

Zur Intensität des Gebetes gehört die Intensität des Vermissens.
Wir müssen es wohl erst wieder lernen, einander zu vermissen;
einander so wichtig zu nehmen, dass wir merken, wenn jemand fehlt,
und dass wir ihn oder sie vermissen.
Wenn wir gelernt haben, einander zu vermissen,
werden wir füreinander zu Engeln.
Dann werden wir erfahren und erleben,
dass es Auferstehung mitten im Leben gibt.
Lassen Sie uns daran festhalten.
Lassen Sie uns daran glauben.

Amen.

Samstag, 8. September 2018

Auf den Geist säen

Predigt am 15. Sonntag n.Trin., 9.9.2018, über Galater 5, 25–26; 6, 1–3. 7–10:

Wenn wir im Geist Gottes leben, 
wollen wir uns auch so verhalten, 
damit wir nicht solche werden, 
die eingebildet sind, die sich gegenseitig provozieren 
oder einander beneiden.
Liebe Geschwister, 
wenn auch jemand bei einem Verstoß erwischt wird, 
dann sollt ihr, die ihr geistlich seid, 
ihn mit Milde zurechtbringen. 
Jeder achte auf sich selbst, damit nicht auch du verleitet wirst. 
Einer trage für den anderen, was ihn beschwert, 
so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. 
Denn wenn jemand meint, er sei etwas, 
obwohl er doch nichts ist, 
betrügt er sich selbst.

Täuscht euch nicht, Gott kann man nichts vormachen! 
Was der Mensch sät, wird er auch ernten. 
Denn wer auf seinen Körper sät, 
wird von seinem Körper Verderben ernten; 
wer aber auf den Geist sät, 
wird vom Geist ewiges Leben ernten. 
Wir werden nicht nachlässig darin, Gutes zu tun; 
zu seiner Zeit werden wir ernten, wenn wir nicht nachlassen. Darum lasst uns allen Gutes tun, 
solange wir dazu Gelegenheit haben, 
besonders unseren Glaubensgenossen.


Liebe Schwestern und Brüder,

es ist Erntezeit. 
Noch ist nicht alles eingebracht. 
Es ist noch zu früh, um Rückschau zu halten; 
Erntedank ist erst in vier Wochen. 
Aber schon jetzt kann man sagen, 
dass die Ernte magerer ausgefallen ist als sonst. 
Das lag an der großen Trockenheit. 
Sie ließ das Getreide reif werden, 
bevor es richtig ausgewachsen war. 
Andere Pflanzen konnten sich gar nicht entwickeln 
oder verdorrten.

Es ist Erntezeit. 
Die Ernte, von der Paulus spricht, 
hat nichts mit Pflanzen, mit Getreide oder Gemüse zu tun. 
Sie hängt auch nicht vom Regen ab, 
sondern allein vom Untergrund. 
Worauf man gesät hat, das ist entscheidend. 
Für Paulus kommen da auch nur zwei Substrate infrage, 
der Körper oder der Geist. 
Damit trennt Paulus nicht den Menschen in zwei Teile, 
in seinen Körper und in seinen Verstand. 
Der Körper, das ist der ganze Mensch 
mit all seinen Gedanken und Gefühlen, 
seinen Erinnerungen und Wünschen. 
Der Geist dagegen ist der Geist Gottes, 
der seit unserer Taufe in uns wohnt.

So, wie Paulus es sieht, 
gibt es auch nicht nur eine Erntezeit, sondern viele. 
Das Schlechte, das erntet man jeden Tag; 
das Gute aber erst zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt irgendwann in der Zukunft. 
Diese Zukunft liegt unerreichbar fern, jenseits unseres Todes. Es ist das ewige Leben.

I. Was Paulus uns da vorstellt, wirft einige Fragen auf.

1) Wie kann man auf den Körper etwas säen?
2) Warum erntet man nur Schlechtes, 
wenn man auf den Körper sät? 
3) Wie soll man etwas auf den Geist Gottes säen können, 
der zwar in uns sein soll, 
den man aber weder sehen noch spüren kann? 
Und
4) was nützt uns das Gute, das wir ernten, 
wenn wir es doch nicht mehr erleben - 
jedenfalls nicht in diesem Leben, in unserer Welt?

Fangen wir mit der ersten Frage an:
Wie kann man auf den Körper etwas säen?
Paulus meint sicherlich nicht, 
dass man sich ein Samenkorn in den Bauchnabel 
oder ins Ohr steckt und wartet, 
dass da ein Radieschen sprießt, 
oder sogar eine Sonnenblume. 
Obwohl es vielleicht lustig aussähe, 
wenn uns der Sellerie zu den Ohren heraushinge, 
oder statt Ohrringen kleine Tomaten an den Ohrläppchen baumelten.

Paulus hat die Landwirte und Gärtnerinnen beobachtet, 
wie sie etwas aussäen, 
um ein paar Wochen oder Monate später etwas zu ernten. 
Das Säen ist ein geplanter Vorgang: 
Man sät, weil man etwas ernten will. 
Diesen Vorgang kann man übertragen auf alles, was man - mehr oder weniger planvoll - tut. 
Denn alles, was man tut, hat Konsequenzen. 
Nicht alle sind beabsichtigt. 
Man rechnet nicht immer mit den Folgen seines Handelns. 
Aber es hat Folgen, ob man will oder nicht. 
Insofern kann man das, was man tut, 
durchaus mit dem Säen von Samenkörnern vergleichen: 
Wenn man etwas tut - und auch, wenn man etwas nicht tut - wirft man sozusagen Samen aus, 
der keimt und wächst und irgendwann Früchte trägt. 
Die Früchte, das sind die Folgen unserer Handlungen. 
Manchmal reifen diese Früchte unglaublich schnell. 
Wenn ich z.B. jemanden ärgere, 
bekomme ich die Reaktion meist sofort zu spüren. 
Und manchmal dauert es sehr, sehr lange, 
bis die Konsequenz einer Handlung eintritt. 
Wenn man z.B. etwas ausgeliehen hat, 
ein Buch, oder ein Werkzeug, 
und der Besitzer es eines Tages zurückhaben will.

Alles, was man tut, hat Folgen. 
Und auch alles, was man zu tun unterlässt, hat Folgen. 
Insofern erntet man täglich, ja, in jedem Augenblick 
die Folgen seines Handelns. 
Man erntet Schlechtes - 
wenn man sich mit dem Hammer auf den Finger haut 
oder sich die Hand in der Tür klemmt; 
wenn man vergisst, eine Rechnung zu bezahlen; 
wenn man die Hausaufgaben nicht gemacht hat. 
Man erntet aber auch Gutes - 
für eine nette Geste ein Lächeln, 
für ein Geschenk ein Dankeschön; 
für einen Kuss bekommt man manchmal einen Kuss zurück.

II. Damit sind wir bei der zweiten Frage angelangt:
Warum erntet man nur Schlechtes, 
wenn man auf den Körper sät?
Wenn das Säen ein Bild für planvolles (oder auch ungeplantes) Handeln sein soll, 
dann sind ja auch unsere guten Taten ein Säen. 
Die Erfahrung lehrt dass, wer Gutes tut, 
nicht immer, aber oft auch Gutes erntet.
Das reicht von Dankbarkeit 
bis zu Gegenleistungen, die man erhält oder einfordern kann, 
weil man jemandem einen Gefallen getan hat.

Schon die alten Römer haben das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung auf eine griffige Formel gebracht, sie lautet: 
„Do ut des“, zu deutsch: 
Ich gebe dir etwas, damit du mir etwas gibst. 
Auf diesem Prinzip kann man ein Miteinander, 
eine Gesellschaft aufbauen,
weil man sich darauf verlassen kann, 
dass ein Gefallen den man getan, 
Hilfe, die man angeboten hat, 
eines Tages eingefordert werden können. 
Ich helfe dir, dein Haus zu bauen, du hilfst mir bei meinem. 
Ich helfe dir mit meinen Fähigkeiten, 
dafür kann ich auf deine zurückgreifen, 
wenn ich sie brauchen sollte. 
Ein ziemlich gutes Prinzip, eigentlich;
es hat sich in der Vergangenheit oft bewährt.

Es funktioniert aber nur, wenn Gebender und Empfangender gleichwertig sind. 
Wer nichts zu bieten, nichts zu geben hat, 
kommt beim Do ut des zu kurz. 
Der wird entweder gar nicht gefragt 
oder bleibt ewig in der Schuld des anderen, 
wenn er nichts zurückgeben kann.
Und dann gibt es da noch die Gefallen, 
um die man gar nicht gebeten hat. 
Der extremste Auswuchs ist die Mafia, 
die gegen Geldzahlung „Schutz“ vor sich selbst gewährt.

Das Do ut des ist nützlich, 
wenn es sich zwischen gleichwertigen Partnern abspielt; 
es wird zur Falle, 
wenn es einen Unterschied zwischen den beiden Seiten gibt und eine Seite stärker ist. 
Wir Menschen sind aber selten gleich. 
Selbst, wenn es so scheint, 
wird doch unterschiedlich bewertet, 
was ein anderer tut oder hat. 
Ist das, was der andere getan hat, 
wirklich so gut wie das, was ich tue? 
Ist das, was ich besitze, so viel wert wie das, 
was der andere besitzt?
Die Folge dieser unterschiedlichen Bewertungen beschreibt Paulus am Anfang des Predigttextes: 
eingebildet sein, sich gegenseitig provozieren oder einander beneiden.

III. Sobald Menschen zusammenkommen, vergleichen sie sich. 
Das scheint in unserer Natur zu liegen; 
scheint so tief in uns verwurzelt zu sein, 
dass wir gar nicht anders können. 
Dadurch ist alles, was man tut, mit diesem Vergleich behaftet. 
Immer fragt man sich, 
wie gut es ist, was man tut; 
was es wert ist und was man dafür bekommt. 
Wenn man „auf seinen Körper sät“, wie Paulus es ausdrückt - mit anderen Worten: 
bei allem, was man tut oder zu tun unterlässt - 
dann erntet man immer diesen Vergleich mit. 
Die Ernte ist verdorben dadurch, 
dass nichts um seiner selbst willen getan wird, 
sondern immer mit der Frage nach dem Wert und dem Nutzen verbunden ist. 
Das ist bei bezahlter Arbeit völlig in Ordnung. 
Aber wenn es um die Liebe geht, ist es Gift für die Beziehung. 
Das Zusammenleben von Menschen wird vergiftet, 
sobald man anfängt, einander zu bewerten. 
Weil wir aber nicht anders können, 
darum erntet man beim „Säen auf den Leib“ letztlich nur Schlechtes, 
selbst, wenn man es gut meint.

Wie könnte es denn aber anders gehen, 
wenn wir gar nicht anders können? 
Hier kommt das „Säen auf den Geist“ ins Spiel, 
von dem Paulus spricht. 
Ein sehr kompliziertes Bild, 
denn wie soll man auf etwas säen, das man nicht sehen kann?
Wenn das „Säen auf den Leib“ ein Bild für all das ist, 
was wir mit unserem Körper tun oder nicht tun, 
dann muss das „Säen auf den Geist“ 
offenbar ein Bild für alles das sein, 
was wir im Namen Gottes tun. 
Das ist erst einmal nicht viel. 
Wir feiern Gottesdienst im Namen Gottes. Aber sonst?

Doch Paulus spricht nicht vom Gottesdienst. 
Er spricht von der Erfüllung des Gesetzes Christi. 
Das Gesetz Christi, das ist das 
„Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen … 
und deinen Nächsten wie dich selbst“. 
Immer dann, wenn man versucht, so zu leben und zu handeln, 
wie Christus es uns vorgelebt hat, 
dann geschieht, was man tut, im Namen Gottes. 
Dann geht es nicht um Wert und Gewinn, 
um Do ut des
Dann geht es nur um den anderen. 
Es ist ein selbstloses, selbstvergessenes Tun, 
dieses Handeln im Namen Gottes.

IV. Damit kommen wir zur letzten Frage:
Was hat man davon, 
nach dem Gesetz Christi zu leben und zu handeln, 
wenn man den Lohn erst in einer fernen und ungewissen Zukunft erhält? 
Da ist es doch besser, 
sich ans Do ut des zu halten: 
Da wird der Lohn der Arbeit prompt ausbezahlt.

Auf dem Do ut des lässt sich keine Gemeinschaft gründen, 
in der alle gleich behandelt werden, 
obwohl sie unterschiedlich sind. 
In einer solchen Gesellschaft wird es immer Starke und Schwache geben, 
Gewinner und Verlierer, 
Überheblichkeit, Provokation und Neid. 
So erlebt man ja auch oft die Gesellschaft, in der wir leben. 
Die Gemeinde, die nach dem Gesetz Christi lebt, 
ist Teil dieser Gesellschaft. 
Und zugleich ist sie es nicht, 
weil sie nach anderen Regeln lebt als dem Do ut des
Hier, in der Gemeinde, haben wir die Möglichkeit, 
anders zu sein und anders zu handeln. 
Wir haben diese Möglichkeit, 
weil wir anders sind: 
Christus hat uns zu seinen Geschwistern gemacht, 
und als Schwestern und Brüder sind wir gleich, 
trotz aller Unterschiede, die uns auszeichnen. 
Gleich gut, gleich geliebt, gleich viel wert.

V. Die Gemeinde ist ein besonderer Raum. 
Hier können wir als Gleiche unter Gleichen, 
als Geschwister und durch Christus Befreite 
einen Traum verwirklichen, 
der in der Gesellschaft bisher immer gescheitert ist 
und immer scheitern muss, 
solange Menschen auf ihren Leib säen. 
Für Momente erleben wir hier etwas vom Reich Gottes, 
das uns erwartet, wenn die Zeit sich erfüllt haben wird. 
Für Momente können wir auch Menschen außerhalb der Gemeinde 
etwas von diesem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit sehen und erleben lassen, 
wenn wir „allen Gutes tun, solange wir dazu Gelegenheit haben, 
besonders unseren Glaubensgenossen“. 

Amen.