Donnerstag, 31. Mai 2018

Ein Wort wie Feuer

Predigt am 1.Sonntag nach Trinitatis, 2.6.2018, über Jeremia 23,16-29:

So spricht der Herr Zebaoth:
Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen!
Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen
und nicht aus dem Mund des Herrn.
Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten:
Es wird euch wohlgehen –,
und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie:
Es wird kein Unheil über euch kommen.
Aber wer hat im Rat des Herrn gestanden,
dass er sein Wort gesehen und gehört hätte?
Wer hat sein Wort vernommen und gehört?
Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm
und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen.
Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen,
bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat;
zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen.
Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie;
ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie.
Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten,
so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt,
um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren.
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr,
und nicht auch ein Gott, der ferne ist?
Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne,
dass ich ihn nicht sehe?, spricht der Herr.
Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der Herr.
Ich höre es wohl, was die Propheten reden,
die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen:
Mir hat geträumt, mir hat geträumt.
Wann wollen doch die Propheten aufhören,
die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen
und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen,
die einer dem andern erzählt,
so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?
Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume;
wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht.
Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der Herr.
Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr,
und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?


Liebe Schwestern und Brüder,

heute muss ich mal über mich sprechen.
Nicht von mir persönlich - ich werde Ihnen keine Schwänke aus meinem Leben erzählen.
Heute muss ich über mich als Prediger sprechen - bzw. über das, was ich tue.
Denn die Worte, die wir eben hörten, die gelten den Predigenden:
allen denen, die es wagen, von Gott und im Namen Gottes zu sprechen.

Und damit gelten Sie auch Ihnen:
Denen, die diese Worte hören und beurteilen müssen.
Es ist ja nicht damit getan, dass Sie der Predigt zuhören,
dass Sie für sich etwas „mitnehmen“
oder Ihre Gedanken während der Predigt auf eine Reise schicken -
es kann Sie ja niemand zwingen, zuzuhören.

Aber wenn wir ernst nehmen, was wir hier gemeinsam tun, wenn wir Gottesdienst feiern,
dann müssen wir an einem Strang ziehen, wenn sich Gottes Wort unter uns ereignen soll:
Ich, indem ich versuche und wage, es zu sagen;
Sie, indem Sie meine Worte an den Worten der Bibel messen und überprüfen.


I. Warum muss das so kompliziert sein?
Sie unterstellen mir ja nicht, dass ich Ihnen einen Bären aufbinde,
dass ich Ihnen etwas Falsches über Gott erzähle, nicht die Wahrheit sage.
Sondern Sie unterstellen mir wahrscheinlich die besten Absichten.
Dann könnte man es doch dabei bewenden lassen, dass ich rede
und Sie mir glauben, was ich Ihnen sage;
das wäre für alle das Bequemste und Einfachste.
Sie lehnen sich quasi zurück
und picken sich die Rosinen aus dem Kuchen, den ich Ihnen serviere,
Sie nehmen sich ein Stück Teig, ein Stück von der Glasur
oder die Kirsche, die oben auf der Glasur sitzt.

Aber ich bin kein Zuckerbäcker, und dies ist keine Konditorei.
Wir sind vielmehr versammelt in der Gegenwart Gottes,
und unser Sprechen, unser Singen vollzieht sich in seiner Gegenwart.
Gott hört mit.
Das tut er sonst auch.
Er kann ja sogar unsere Gedanken lesen und weiß,
was uns selbst nicht bewusst ist, was wir verdrängen oder verschweigen.
Aber da können wir so tun, als wüssten wir es nicht,
als hätten wir nur mal so vor uns hingedacht,
oder als wäre es nicht so gemeint.

Im Gottesdienst sprechen wir ganz offen und ganz bewusst mit Gott.
Da meinen wir, was wir sagen -
auch wenn manches, wie das Glaubensbekenntnis oder das Vaterunser,
fast schon automatisch über unsere Lippen kommt;
wenn man beim Sprechen der Psalmen, beim Singen der Lieder
so beschäftigt ist mit Sprechen und Singen,
dass man gar nicht auf den Inhalt achtet.

Das Sprechen über Gott ist wie das Sprechen über einen Menschen:
Wenn er oder sie nicht dabei ist, geht es locker von der Zunge.
Da weiß man manches zu erzählen und zu sagen - Tratschen nennt man das.
Aber wenn der oder die, über die man redet, dabei ist und zuhört,
wird man einsilbig und wortkarg.

Gott hört mit.
Und offenbar gefällt ihm nicht alles,
was man so über ihn und in seinem Namen spricht.
Gott ist sogar richtig wütend über seine Propheten,
weil sie Dinge sagen, die sie sich selbst ausgedacht haben;
weil sie Nettigkeiten verkünden
und den Menschen, zu denen sie predigen, die Wahrheit vorenthalten.


II. Aber - um die Propheten zu verteidigen - wer will die Wahrheit denn hören?
Sie ist bitter, die Wahrheit, sie ist nicht nett und nicht angenehm -
jedenfalls nicht immer.

In der Republik Südafrika wurden nach dem Ende der Apartheid
sogenannte „Wahrheitskommissionen“ eingesetzt.
Man hatte beschlossen, nicht pauschal alle Weißen zu verurteilen,
die das System der Apartheid aufgebaut und unterhalten hatten.
Dafür sollten die Opfer Gelegenheit erhalten,
von ihrem Leiden unter der Apartheid zu berichten:
von all den Gemeinheiten, der Deklassierung,
dem Verlust der Würde, der ungleichen Behandlung.
Und die Täter sollten Ihnen zuhören müssen, sich ihrer Schuld bewusst werden;
sollten hören, was sie Menschen antaten, die für sie Menschen zweiter Klasse waren, kurz:
Sie sollten sich der Wahrheit stellen.

Mit den „68ern“, an die zur Zeit erinnert wird
und die manche für alles verantwortlich machen,
was ihnen an der heutigen Gesellschaft nicht gefällt,
begann mehr als 20 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes
ein Wahrnehmen all der heute unvorstellbaren Verbrechen.
Und damit auch ein Benennen der Verstrickung jeder und jedes Einzelnen
in ein menschenverachtendes Regime,
in dem Mitmenschen wie Tiere behandelt wurden
und das Beleidigen, Verletzen, Misshandeln
und schließlich sogar Töten ganzer Gruppen der Bevölkerung
zu einer Art „Volkssport“ und „Volksbelustigung“ wurde.

Diese von den 68ern angestoßene Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen.
An uns, den Enkelinnen und Enkeln der Täter wie der Opfer,
bewahrheitet sich ein anderes Wort des Propheten Jeremia:
„Die Väter haben saure Trauben gegessen,
und den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“ (Jer 31,29f).
Wenn wir uns der Wahrheit unserer Geschichte nicht stellen,
werden unsere Kinder und Enkel noch darunter zu leiden haben.

Vor inzwischen fast 30 Jahren endete die DDR.
Das Unrecht, das dieses Regime verübt hat
und an dem sich wieder Unzählige als freiwillige
oder unfreiwillige Helfer und Mitläufer beteilgten,
wartet noch darauf, angesehen, benannt und als Unrecht bekannt zu werden.
Das sind Wahrheiten, die auch in der Kirche niemand hören möchte.
Man hofft, wenn man sich auf die „richtige“ Seite stellte,
wenn man den Mantel des Vergessens über das alles breitete,
würde sich die Geschichte von selbst erledigen.
Man meint, die peinliche Vergangenheit „aussitzen“ zu können.
Aber auch diese Wahrheit holt uns ein,
und wenn wir uns ihr nicht stellen,
werden es unsere Kinder und Enkel tun müssen.


III. Die Wahrheit, um die es hier geht, ist die von Scham und Schuld.
Scham und Schuld ziehen sich quer durch unsere Gemeinde.
Der eine weiß etwas von früheren Verstrickungen,
was der andere nicht ans Licht kommen lassen möchte;
die eine leidet noch heute unter dem, was die andere ihr damals angetan hat.
Heute lebt man nebeneinander her mit dieser Wahrheit,
trifft sich auf der Straße oder im Laden,
oder sitzt auf der Kirmes oder im Gottesdienst nebeneinander.

Die Wahrheit steht wie eine unsichtbare Wand zwischen Tätern und Opfern.
Sie ist von keinem zu sehen, außer von diesen beiden,
aber für diese beiden ist sie unüberwindbarer als die ehemalige Berliner Mauer.
Wer weiß, wie viele solcher Wände hier heute zwischen uns stehen.
Man kann sie nur einreißen, wenn man sich der Wahrheit stellt,
sich zu seiner Scham, seiner Schuld bekennt.

Aber keine Sorge: Ich werde solche Warheiten nicht von der Kanzel sprechen.
Selbst, wenn ich sie wüsste - und gerade, wenn ich sie weiß -
muss ich sie für mich behalten.
Aussprechen können und dürfen sie nur die, die sie betreffen.

Und doch haben sie etwas mit der Predigt zu tun.
Denn Gottes Wort bewirkt, dass man die Wahrheit erkennt.
Es setzt ja mit den Geboten die Maßstäbe,
an denen sich unser Handeln messen lassen muss.
An den Geboten zeigt sich, ob wir menschlich gehandelt haben,
oder ob unser Tun Menschen verachtet hat.

Es gibt uns auch den Mut und die Kraft,
uns der Wahrheit zu stellen.
Denn wahr ist es ja auch, dass wir Gottes Kinder sind,
von Gott gewollt und ins Leben gerufen,
von Gott so sehr geliebt, dass er alles dafür gab,
damit wir uns der Wahrheit stellen und mit unserer Schuld leben können.


IV. Gottes Wort ist wie Feuer:
Es verbrennt die bunten Kostüme,
mit denen wir verdecken und verbrämen,
was uns belastet und beschämt;
es verbrennt auch den Verband über den Wunden,
die uns geschlagen wurden,
sodass wir sie uns ansehen müssen.

Gottes Wort ist wie ein Hammer,
der die Ausreden und die Lebenslügen zerschlägt,
mit denen man sich sein Leben und seine Taten schön redet,
sodass man am Ende vor einem Scherbenhaufen steht.

Wenn Gottes Wort nur so wäre, wer könnte es aushalten?
Wer kann der Wahrheit ungeschminkt ins Auge sehen?
Deshalb kommt das Wort Gottes in menschlicher Gestalt zu uns:
In meinen Worten, in denen ich es wage und versuche,
von Gott zu sprechen.
Und deshalb kann Gottes Wort sich nicht ohne Ihre Mitarbeit ereignen:
indem Sie in meinen Worten das Wort Gottes suchen und finden.
Weil ich auch nur ein Mensch bin,
weil ich mich irren kann, irren werde und irren muss,
darum müssen Sie kritisch und sorgfältig prüfen, was ich sage,
müssen es vergleichen mit den Worten,
die der Maßstab aller unserer Worte über Gott sind:
Mit den Worten der Bibel.

Gottes Wort kommt in menschlicher Gestalt zu uns.
Bevor ich oder irgendjemand anderes es wagte, von Gott zu sprechen,
war Christus, das eine Wort Gottes, da.
War vor allem Anfang da.
Wurde Mensch und lebte unter uns.
Nahm alle Lügen, alle Feigheit, alle Gemeinheit auf sich
und trug sie ans Kreuz,
damit wir nicht mehr lügen, nicht mehr feige und gemein sein müssen
und damit wir uns und anderen die kleinen und großen Lebenslügen vergeben können.

Jesus Christus hat als Gottes Wort mitten unter uns gelebt.
Dieses Wort brannte wie Feuer in den Jüngern von Emmaus (Lukas 24,32),
brannte als Flamme über den Jüngern zu Pfingsten (Apg 2,3)
und ist doch nichts anderes als ein großes und unbedingtes Ja
zu jeder und jedem Einzelnen von uns.


V. Gemeinsam feiern wir Gottesdienst.
Gemeinsam versuchen wir, dem Wort Gottes unter uns Raum zu geben.
Wir können es nicht „machen“.
Dass und wenn es geschieht, ist immer wieder ein Wunder.

Aber es wird geschehen,
weil wir alle zusammen der Leib Christi sind: die Gemeinde,
in der das Wort, das Mensch wurde, mitten unter uns ist.

Gebe Gott, dass es uns berührt und ergreift!
Amen.

Samstag, 26. Mai 2018

You've got mail

Predigt am Sonntag Trinitatis, 27. Mai 2018, über Epheser 1,3-14:

Liebe Schwestern und Brüder,

wer schreibt heute noch Briefe?
Man schreibt eMails, SMS und WhatsApp-Nachrichten -
wenn man überhaupt noch schreibt und nicht „Snaps“ über Snapchat verschickt
oder Bilder vom Mittagessen auf Instagram oder Facebook postet.

Keine Sorge: Ich werde keine Klage über den Verlust einer Kultur anstimmen,
auch nicht über die sozialen Medien
und das ständige Gucken aufs Smartphone lamentieren.
Ich besitze selbst ein Smartphone und benutze es dauernd,
und ich möchte es nicht mehr missen.
Welche ungeheuren Möglichkeiten die neuen Medien bieten,
fangen wir gerade erst an zu entdecken,
und es ist spannend, herauszufinden,
wieviel Unnützes da gerade erfunden wird
- und wie viel die neuen Apps können und ermöglichen.

An der rasanten Entwicklung des Internets und der sozialen Medien
bemerken die, die noch mit Wählscheibentelefon,
Telefonzelle und Briefkasten aufgewachsen sind,
wie schnell die Zeit vergeht - und wie alt sie inzwischen geworden sind.
In diesem rasanten Prozess stellt der Brief so etwas wie die Zeitlupe dar.
Er verlangsamt die Zeit,
weil man sich Zeit nehmen muss, ihn zu schreiben.
Beim Schreiben muss mitbedacht werden,
dass der Brief einige Tage unterwegs ist
und den Empfänger wahrscheinlich zu einer anderen Tageszeit
und in einer anderen Stimmung erreicht als der, in der er geschrieben wurde.
Und schließlich muss man sich auch noch Zeit nehmen, ihn zu lesen.
Und auch da spielen Stimmung, Tageszeit und Umgebung eine wichtige Rolle.
Deshalb ist der Brief - trotz seiner viel schnelleren modernen Geschwister -
eine besondere und einzigartige Weise der Mitteilung.
Besonders auch deshalb, weil er noch nach Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten
gelesen werden kann und lesenswert bleibt.

Ein Brief beschäftigt uns auch heute.
Vor gut 2.000 Jahren ist er geschrieben worden,
heute erreicht er uns.
Er ist zu lang, um ihn ganz vorzulesen;
schon der Anfang ist länger als die meisten Nachrichten,
die wir heute auf dem Smartphone verschicken:

„Gelobt sei Gott,
der Vater unseres Herrn Jesus Christus,
der uns in Christus mit allem geistlichen Segen im Himmel gesegnet hat.
Denn in ihm hat er uns erwählt vor Anbeginn der Welt,
dass wir vor ihm in der Liebe heilig und untadelig seien.
Er bestimmte uns durch Jesus Christus zu seinen Kindern,
wie es seine gute Absicht war,
damit wir freudig von der reichen Fülle seiner Gnade sprechen,
die er uns in dem Geliebten schenkt.

In ihm besitzen wir die Erlösung durch sein Blut,
die Vergebung der Schuld aus seiner reichen Gnade,
die er für uns überreich machte,
indem er uns auch noch Weisheit und Einsicht schenkte.
Er offenbarte uns nämlich das Geheimnis seines Willens,
wie es seine gute Absicht war, die er in Christus hegte,
um seinen Heilsplan am Ende der Zeiten zu verwirklichen,
nämlich alles in Christus zusammenzufassen;
das, was im Himmel und auf der Erde ist, in ihm.

In ihm fiel auch das Los auf uns.
Wir wurden dazu bestimmt nach dem Willen dessen, der alles bewirkt,
wie es sein Wille beschlossen hatte,
damit wir, die wir schon vorher auf Christus gehofft hatten,
freudig von seiner Herrlichkeit sprechen sollen.

In ihm habt ihr das Wort der Wahrheit gehört,
das Evangelium eurer Rettung.
An ihn glaubt ihr auch
und wurdet bezeichnet mit dem Heiligen Geist der Verheißung.
Er ist eine Anzahlung auf das, was wir erwarten
bis zur Erlösung, durch die wir Gottes Eigentum werden,
zum Lob seiner Herrlichkeit.“

I. Wenn man sich daran macht, einen Brief zu schreiben,
ist der Anfang das Schwerste - es sei denn, man hat einen Anlass,
wie z.B. einen Geburtstag, oder ein Anliegen.
Aber wenn man den nicht hat,
kaut man an seinem Stift und fragt sich: Womit soll man beginnen?
Gerade, wenn man die Empfängerin nicht oder nicht gut genug kennt,
fällt einem wenig ein. Und man ist zudem vorsichtig -
wer weiß, wie die Empfängerin aufnimmt, was man schreibt?
Deshalb versucht man, die Empfängerin erst einmal für sich einzunehmen,
indem man ihr freundliche Worte schreibt.

Der Brief an die Gemeinde in Ephesus richtet sich an eine ganze Gruppe von Menschen.
Wieviel schwerer ist es, einen Ton zu treffen, der sie alle anspricht!
Wahrscheinlich wurde der Brief nicht von einer zur nächsten herumgereicht,
sondern allen auf einmal vorgelesen, z.B. im Gottesdienst.
Dafür spricht, dass der Verfasser mit einer Formulierung beginnt,
die im Gottesdienst üblich ist und erwartet wird:
„Gelobt sei Gott“.

Aber was dann kommt, ist kaum zu verstehen.
Selbst, wenn man es sich mehrere Male anhört oder durchliest,
begreift man immer noch nicht, was da eigentlich gesagt werden soll.
Vielleicht kommt es ja auch gar nicht so sehr auf den Inhalt an -
zumal sich da manches auch wiederholt -,
sondern auf die „Stimmung“, die diese Worte hervorrufen.
Wie soll man diese Stimmung beschreiben?
Vielleicht als Zufriedenheit und als Gefühl der Zugehörigkeit.
Zufrieden sein und dazugehören:
Das sind zwei wichtige Zutaten für ein glückliches Leben.


II. Zur Zufriedenheit gehört ein gewisser Wohlstand
- dass man sich etwas leisten kann und nicht jeden Cent umdrehen muss -
und ein gewisser Besitz:
Ein eigenes Haus mit Garten ist nicht zu verachten,
ein Auto, sowie die vielen kleinen Dinge,
die das Leben einfacher und angenehmer machen
und ohne die wir heute gar nicht mehr leben möchten
und vielleicht auch nicht mehr könnten,
wie Smartphone, Fernseher, Rasenmäher, Kühlschrank, Waschmaschine usw.
Zur Zufriedenheit gehört auch, dass man sich keine Sorgen ums Alter machen muss
und dass im Falle einer Krankheit Hilfe gleich zu Stelle ist.

Diese für unsere Zufriedenheit wichtigen, ja unentbehrlichen Dinge
nennt der Epheserbrief aber nicht.
Die Dinge, von denen er spricht, sind gar keine solchen Dinge.
Es ist nichts, was einen beschäftigt oder überhaupt interessiert.
Der Epheserbrief spricht von Gottes freier Gnadenwahl, Gottes Heilsplan, der Erlösung -
böhmische Dörfer, Begriffe, die an einem vorbeirauschen,
weil sie im Alltag nichts bedeuten.

In einem Brief kann es schon mal vorkommen,
dass man nicht weiß, wovon die andere redet oder worauf sie hinauswill.
Wenn die Verfasserin eines Briefes berichtet, was sie beschäftigt,
muss man sich da erst einmal hineindenken.
Gerade, wenn man sich längere Zeit nicht gesehen hat,
ist das gar nicht so einfach.
In den sozialen Medien klickt man einfach weg,
was man nicht versteht oder was einen nicht interessiert.
Bei einem Brief geht das nicht, der ist nun einmal da.
Man kann ihn liegen lassen, ihn vergessen.
Aber sobald man auf ihn antworten will oder muss,
hilft es alles nichts: Man muss sich mit dem beschäftigen,
was die andere da geschrieben hat.


III. Der Epheserbrief wirbt um seine Leserinnen mit Zufriedenheit und Zugehörigkeit.
Zusammengefasst findet sich das im letzten Absatz des Briefanfangs,
wo zum ersten Mal die Epheser direkt angesprochen werden.
Vorher hat der Verfasser von „uns“ und „wir“ gesprochen.
Jetzt schreibt er:

„In Jesus Christus habt ihr das Wort der Wahrheit gehört,
das Evangelium eurer Rettung.
An ihn glaubt ihr auch
und wurdet bezeichnet mit dem Heiligen Geist der Verheißung.
Er ist eine Anzahlung auf das, was wir erwarten
bis zur Erlösung, durch die wir Gottes Eigentum werden,
zum Lob seiner Herrlichkeit.“

Das Evangelium, von dem hier die Rede ist,
kann man jeden Sonntag im Gottesdienst hören.
Aber inwiefern ist es Wahrheit, wo wir doch gerade erleben,
dass alle Wahrheiten beliebig geworden sind
und jede denken, glauben und behaupten kann, was sie will?

Das Evangelium ist Wahrheit, weil es von unserer Rettung erzählt.
Diese Wahrheit kann man nicht auf herkömmliche Art beweisen oder widerlegen,
indem man sie an den Tatsachen misst.
Man kann sie nur glauben.
Und nur die kann und wird sie glauben,
die jemals nach Rettung Ausschau gehalten hat.
Wer zufrieden ist und sich zugehörig fühlt,
wem nichts fehlt an Geld, Gesundheit oder Anerkennung,
hat kein Bedürfnis nach Rettung,
würde vielmehr verwundert fragen: Rettung woraus? Und wozu?
Erst, wenn einem Zufriedenheit oder Zugehörigkeit fehlen;
wenn man das Gefühl hat, sie durch eigene Schuld vertan zu haben,
macht man sich auf die Suche nach Hilfe.
Diese Hilfe dann ausgerechnet bei Jesus zu finden,
ist schon ein ziemlicher Glücksfall,
fast so unwahrscheinlich wie ein Lottogewinn.
Deshalb spricht der Epheserbrief vom „Los“, das auf uns gefallen ist.
Deshalb spricht er von „Erwählung“ und „Vorbestimmung“,
von Gottes guter Absicht und von Gottes Willen:
Weil es etwas Besonders und Einzigartiges ist,
wenn man zu Gott findet.
Und weil es etwas Besonderes und Einzigartiges ist,
zu Gott zu gehören.


IV. Wer ein gutes Navi oder ein Smartphone besitzt,
hat kein Problem damit, den Weg zu finden.
Deshalb haben unsere Kirchen einen so auffälligen Turm:
Damit man weiß, wo man geistliche Hilfe finden kann, wenn man sie braucht.
Denn hier, unter diesem Turm, werden allsonntäglich Texte vorgelesen,
die von unserer Rettung erzählen.

Hier, unter diesem Turm, wurden Sie getauft
und mit dem Heiligen Geist bezeichnet.
Hier wurde Ihnen gesagt, dass Sie dazugehören
zur Gemeinde und zur großen Familie Gottes.
Es ist eine Zugehörigkeit, die Sie sich nicht verdienen müssen
und die Sie nicht verlieren können.
Eine Zugehörigkeit, die unabhängig ist
von Ihrer Herkunft, Ihren Leistungen, Ihrem Aussehen, Ihrem Einsatz.

Es ist das flüchtigste aller Zeichen,
das uns diese Zugehörigkeit verbürgt:
ein wenig Wasser auf unserer Stirn.
Niemand kann es sehen, nicht einmal wir selbst.
Und wenn unsere Patinnen nicht bei unserer Taufe dabei gewesen wären,
hätten wir keinen Beweis dafür, dass es stimmt.
Aber gerade dieses unscheinbarste und flüchtigste aller Zeichen,
das Wasser, das verschwindet, sobald es verdunstet ist
- und das doch allgegenwärtig ist in der Luft, die uns umgibt,
und ohne das wir keinen Tag überleben würden:
dieses Wasser vergewissert uns,
dass wir Gottes Kinder sind.
Dieses flüchtige Zeichen erinnert uns auch daran,
dass wir etwas erhalten haben,
das wertvoller ist als alles, was wir jemals besitzen könnten.
Wertvoller sogar als unsere Freiheit, unsere Ehre, unsere Gesundheit.

Es ist die Tatsache, dass wir zu Gott gehören.
Und dass dadurch unser Leben wertvoll und sinnvoll ist,
ganz gleich, wie wenig oder wie viel wir erreicht,
wie wenig oder viel wir daraus gemacht,
wie viele unserer Träume und Wünsche sich erfüllt haben.
Weil wir zu Gott gehören, ist unser Leben auch nicht allein unsere Sache.
Das war noch nicht alles, da wartet noch etwas auf uns,
und was hier unvollendet, abgebrochen oder misslungen ist,
muss es nicht bleiben.
Unser Leben wird erlöst - wir werden erlöst
von Irrtümern, Fehlern, Verletzungen und Schmerzen.
Und dadurch hat schließlich auch der Tod nicht mehr das letzte Wort,
denn weil wir zu Gott gehören,
kann uns der Tod nicht vernichten.


V. Wir haben einen Brief erhalten.
Einen eigenartigen Brief,
der uns von unserer Rettung erzählt.
Er war nicht leicht zu verstehen,
aber mit etwas Geduld hat uns sein Anliegen erreicht.

Wie werden wir darauf antworten - und wann?
Werden wir den Brief erst eine Weile liegen lassen?
Wird er vielleicht verschütt gehen unter all der Post,
die sich auf dem Schreibtisch stapelt?
Oder sind wir froh, dass sich jemand bei uns gemeldet hat,
weil wir so selten Post bekommen?

Gott wartet geduldig auf unsere Antwort.
Jeden Sonntag begegnet er uns hier,
hören wir seine Worte, seine Briefe an uns.
Jeden Tag auf Neue haben wir Gelegenheit, ihm zu antworten.
Dazu braucht es keinen Stift und kein Papier.
Gott liest in unseren Herzen.
Amen.

Samstag, 19. Mai 2018

Den Predigttext aufräumen


Dialogpredigt am Pfingstsonntag, 20. Mai 2018, über 1.Korinther 2,12-16:

Wir haben nicht den Geist der Welt bekommen,
    sondern den Geist, der von Gott kommt,
    damit wir erkennen,
    was uns von Gott gegeben wurde.
    Davon reden wir auch
- nicht in Worten,
die uns menschliche Weisheit lehrte,
    sondern - vom Geist gelehrt -
    deuten wir Geistliches als Geistliche.
Der diesseitige Mensch nimmt nicht an,
was von Gottes Geist kommt.
Für ihn ist es Blödsinn,
und er kann es nicht erkennen,
    denn es wird geistlich beurteilt.
    Der geistliche Mensch beurteilt alles
und wird selbst von niemandem beurteilt.
    Denn „wer hat den Willen des Herrn erkannt,
    dass er ihn belehre“? (Jesaja 40,13).
    Wir aber haben den Geist Christi.


Weltgeist, Gottesgeist - was für ein Hin und Her!
Da kommt man ganz durcheinander:
Was ist denn nun was, und vor allem:
Was bedeutet das alles?
    Lass uns etwas Ordnung in das Durcheinander bringen,
    den Predigttext ein bisschen „aufräumen“, sozusagen.
    Schauen wir uns zuerst einmal den „Weltgeist“ an.
Vom Weltgeist heißt es:
Er ist diesseitig,
er beruft sich auf menschliche Weisheit
und nimmt Geistliches nicht an,
sondern hält es für Blödsinn.
Eigentlich eine gute Beschreibung für die Haltung,
der man bei Atheisten begegnet.
    Tja, und die ist nicht einmal neu.
    Vor 2.000 Jahren wurde der Glaube schon
    mit den gleichen Gründen abgelehnt wie heute:
    Ein Jenseits gibt es nicht,
    denn das hat noch niemand gesehen;
    der Glaube lässt sich mit der Vernunft,
    mit unserem wissenschaftlichen Denken nicht vereinbaren,
    deshalb ist er Blödsinn.
    Wer so redet, verlässt sich nur auf seinen Verstand,
    kennt nur seine eigene, kleine Welt.
Aber, entschuldige mal,
worauf soll man sich denn sonst verlassen?
Niemand sieht die Welt so, wie ich sie sehe.
Niemand denkt und fühlt so wie ich.
Mein Verstand ist nun mal das Werkzeug,
mit dem ich diese Welt begreife
und mich in ihr zurechtfinde.
Wenn ich mich auf den nicht verlassen könnte,
wäre ich ganz schön aufgeschmissen!
    Dein Verstand ist nicht vom Himmel gefallen.
    Er hat sich entwickelt,
    ist das Ergebnis deiner Erziehung:
    Andere Menschen haben dich gelehrt,
    die Welt auf eine bestimmte Weise zu sehen.
Das stimmt.
In der Schule lernte ich,
mich auf Wissen zu verlassen:
Dass 1+1 = 2;
dass alles durch die Schwerkraft nach unten fällt;
dass Mensch und Affe einen gemeinsamen Vorfahren haben.
    Wir haben auch anderes gelernt:
    Dass der Sozialismus siegen wird
    und dass die Partei immer recht hat.
    Dass man gehorsam, fleißig und anständig sein muss.
    Dass Sport die Grundlage für alles ist,
    weil in einem gesunden Körper auch ein gesunder Geist wohnt,
    und dass Religion Opium für’s Volk ist.
Heute lernen Schülerinnen und Schüler,
dass es nicht genügt, gut zu sein:
man muss auch gut aussehen -
am besten so, wie es „Germany’s next Topmodel“ vormacht.
Sie lernen, dass es allein an ihnen liegt,
ob etwas aus ihnen wird, ob sie einen Job bekommen,
und dass nur ihre Leistung zählt.
Sie lernen, dass es nichts bringt,
Rücksicht auf andere zu nehmen,
anderen zu helfen,
weil einen das bloß aufhält
und man sowieso nur ausgenutzt wird.
    Das ist der Weltgeist.
    Seine „Wahrheiten“ ändern sich mit der Zeit
    und mit den Umständen.
    Was gestern wie in Erz gemeißelt war,
    liegt heute auf dem Müllhaufen der Geschichte.
    Bei extremen Vertretern des Weltgeistes
    wie Präsident Trump
    kann man sogar beobachten,
    dass so etwas wie „Wahrheit“ für sie nicht mehr existiert:
    Sie drehen die Dinge so, wie sie sie gerade brauchen,
    und behaupten notfalls das Gegenteil von dem,
    was sie gestern sagten.
Wie gut, dass ich nicht so bin!
Ich stehe zu meinem Wort
und drehe mein Mäntelchen nicht nach dem Wind!
    Sorry, aber nur, weil du nicht so bist wie Donald Trump
    brauchst du dir nicht einzubilden,
    du wärst frei vom Weltgeist!
    Wir leben in einer Gesellschaft -
    wir werden alle davon beeinflusst.
    Man kann zwar seine Tür vor unliebsamen Menschen verschließen,
    aber der Weltgeist dringt durch alle Ritzen.
Das Verhalten und besonders das Reden der anderen beeinflussen,
wie wir denken und handeln.
Ohne es zu merken übernehmen wir die Maßstäbe,
die sie an andere anlegen.
Da werden äußerliche Dinge
wie die Figur, die Hautfarbe,
die Herkunft oder die Kleidung
zu Maßstäben, nach denen wir andere beurteilen
- und uns selbst beurteilt finden.
Dabei wissen wir es eigentlich besser:
Wir wissen, dass das Äußerliche nichts über den Menschen sagt,
weil wir selbst uns ungerecht behandelt fühlen,
wenn man uns nur oberflächlich beurteilt.
    Jetzt haben wir genug vom Weltgeist gehört.
    Ich denke, jeder und jedem ist klar,
    was damit gemeint ist.
    Wie ist es nun mit dem Geist Gottes?
Ich finde es gar nicht so einfach,
dazu etwas zu sagen.
Man bekommt ihn nicht so richtig zu fassen.
„Vom Geist gelehrt, deuten wir Geistliches als Geistliche“
- was soll das heißen?
Ist das nicht, mit Verlaub, Blödsinn?
    Das ist das Problem,
    wenn man mit der Logik des Weltgeistes
    den Geist Gottes verstehen will:
    Es geht nicht.
    Gottes Geist ist nicht so sehr eine andere Art und Weise,
    die Welt und die Dinge zu sehen -
    das ist eher ein Nebenprodukt
    und passiert quasi von selbst,
    wenn man von Gottes Geist ergriffen wird.
Wenn du von „ergriffen“ sprichst,
erinnert mich das an das Bild,
das Paulus von der Taufe gebraucht.
Er sagt, wir hätten „Christus angezogen“,
wie man Kleidung anzieht.
    Das Äußere sagt nichts über einen Menschen aus,
    aber es bestimmt darüber, wie man sich fühlt.
    Wer mit seinem Körper unzufrieden ist,
    fühlt sich „nicht wohl in seiner Haut“,
    ist unsicher anderen gegenüber.
    Und wenn es einem gut geht
    oder man sich auf etwas freut -
    deinen Geburtstag, ein Fest -,
    macht man sich chic und zieht etwas Besonderes an.
Wenn man „Christus angezogen“ hat,
fühlt man sich anders,
weil das Äußere keine Rolle mehr spielt.
Da ist ja jetzt Christus,
der uns wie ein Panzer vor den abschätzenden Blicken schützt;
der uns schön aussehen lässt,
wie ein perfekt sitzendes Kleid,
wie ein gut geschnittener Anzug.
    Genau so ist es auch mit dem Heiligen Geist,
    nur, dass der uns nicht von außen umgibt,
    sondern uns innerlich erfüllt.
    Das ist wie beim Verliebtsein:
    Da ist man so glücklich,
    dass man die ganze Welt umarmen könnte.
    Da ist man nicht kleinlich, neidisch oder egozentrisch.
Der Geist Gottes erfüllt uns mit einer Wärme,
die uns warmherzig macht.
Warmherzig und barmherzig klingen nicht nur zufällig ähnlich.
Wer kein Herz aus Stein hat,
sondern ein warmes Herz,
lässt sich anrühren vom Schicksal anderer
und wertet andere nicht ab,
nur, weil sie anders sind:
der oder die ist barmherzig.
    An Pfingsten feiern wir,
    dass dieser Geist Gottes uns erfüllt.
    Geben wir ihm Raum in uns,
    dass dieser Geist aus unseren Augen strahlt
    und in unseren Herzen brennt.
    Amen.

Donnerstag, 10. Mai 2018

Schreib's dir hinter die Ohren!

Predigt am Sonntag Exaudi, 13. Mai 2018, über Jeremia 31,31-34:

Sieh, eine Zeit wird kommen, Spruch des Herrn,
da werde ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund schließen.
Nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss,
als ich ihre Hand ergriff und sie aus dem Land Ägypten führte.
Sie brachen meinen Bund, dabei war ich doch quasi mit ihnen verheiratet, Spruch des Herrn.
Denn das ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel schlißen werde nach jenen Tagen, Spruch des Herrn:
Ich werde meine Weisung in ihr Inneres legen,
auf ihr Herz werde ich sie schreiben.
Ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.
Und es wird nicht mehr einer seinen Freund lehren,
noch einer seinen Bruder: „Erkenne den Herrn!”,
denn alle werden mich erkennen,
vom Kleinsten bis zum Größten, Spruch des Herrn.
Denn ich werde ihre Schuld vergeben,
ihrer Sünden nicht mehr gedenken.


Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie schon mal daran gedacht, sich eine Tätowierung stechen zu lassen?
Vielleicht haben Sie ja sogar eine - oder mehrere?
Früher waren Tätowierungen nur etwas für harte Kerle -
Seefahrer oder Gefängnisinsassen -
oder für Frauen von eher zweifelhaftem Ruf.
Früher hätte es mächtigen Ärger gegeben,
wenn man mit einer Tätowierung nach Hause gekommen wäre.
Heute ist es eher umgekehrt:
Da fällt man beinahe schon auf, wenn man keine Tätowierung hat,
so allgegenwärtig sind sie inzwischen.
Deshalb ist es nicht so abwegig,
einmal mit dem Gedanken an eine Tätowierung zu spielen.


I. So eine Tätowierung will allerdings gut überlegt sein -
schließlich hat man sein Leben lang etwas davon!
Heute kann man sie zwar weglasern
oder von einem Profi ändern lassen,
aber im Grunde lässt man sich darauf ein,
dass man die Tätowierung ein Leben lang behält.
Deshalb kann man davon ausgehen,
dass sich jemand Gedanken über seine Tätowierung gemacht hat,
weil es eben „für immer“ ist.

Wenn Sie sich einmal für einen Moment auf dieses Gedankenspiel einlassen:
Was würden Sie sich auf die Haut schreiben lassen?
Wäre es ein Name, ein Wort,
ein Datum oder ein Symbol?
Manche lassen sich den Namen des Liebsten auf die Haut schreiben;
den Geburtstag der Kinder;
ein Wort oder einen Satz, der ihnen Mut machen, Kraft geben soll;
das Symbol dessen, woran sie glauben oder das für sie das Wichtigste im Leben ist.
Durch die Tätowierung wird es zu etwas ganz Besonderem,
weil es „für immer“ ist,
weil es im Wortsinn „unter die Haut“ geht
und man es ständig bei sich trägt.

Im heutigen Predigttext heißt es:
„Ich werde meine Weisung in ihr Inneres legen,
auf ihr Herz werde ich sie schreiben.“
Gott schreibt seine Weisung auf das Herz.
Ich stelle mir das wie eine Tätowierung vor.
Nur eben nicht auf der äußeren Haut,
sondern auf der Haut des Herzens.
Man darf sich aber das nicht zu wörtlich vorstellen -
es ist ja ein Bild.
Ein Bild, das uns allerdings vertraut ist:
Man sagt z.B., man solle sich etwas „hinter die Ohren schreiben“.
Auch das ist bildlich, nicht wörtlich gemeint -
wie soll man lesen können, was hinter den eigenen Ohren geschrieben steht?
Im Adventslied „Wie soll ich dich empfangen“ heißt es:
„Das schreib dir in dein Herze, du hochbetrübtes Heer,
bei denen Gram und Schmerze sich häuft je mehr und mehr;
seid unverzagt, ihr habet die Hilfe vor der Tür,
der eure Herzen labet und tröstet, steht allhier“ (EG 11,6).

Was man sich hinter die Ohren oder ins Herz schreibt, ist wichtig.
Das will man nicht vergessen. Das soll bleiben.


II. Beim hinter-die-Ohren-Schreiben
oder dem ins-Herz-Schreiben schreibt man selbst:
Man schreibt sich etwas hinter die Ohren oder ins Herz,
das einem wichtig ist und an das man sich erinnern möchte.
Im Predigttext aber ist es Gott, der schreibt:
„Ich werde meine Weisung auf ihr Herz schreiben“.
Was man selbst schreibt, hat man sich selbst ausgesucht und überlegt.
Wenn aber Gott aufs Herz schreibt, kann man sich da aussuchen, was er schreibt?
Wohl eher nicht.
Da kann einem schon etwas mulmig werden bei dem Gedanken,
dass ein Fremder - und wenn es auch Gott ist - einem etwas aufs Herz schreibt,
was man vielleicht gar nicht will, und ohne dass man vorher gefragt wird.
Und wenn Gott aufs Herz schreibt,
kann man das ja auch nicht so ohne weiteres entfernen.
Wenn schon eine Tätowierung „für immer“ ist,
dann ist es etwas, das aufs Herz geschrieben wurde, erst recht.

Was ist es denn, das Gott aufs Herz schreibt?
Es ist die Weisung, auf Hebräisch: Die Tora.
Mit der Tora oder Weisung sind die Gebote Gottes gemeint,
zu denen die bekannten Zehn Gebote gehören.
Oder das Liebesgebot, das Jesus zitiert,
als er gefragt wird, welches das höchste Gebot sei:
„Du soll Gott lieben von ganzem Herzen …
und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Markus 12,28).

Diese Gebote sind die Grundlage unserer Beziehung zu Gott,
seines „Bundes“, wie es im Predigttext heißt.
Wenn man eine besonders enge Beziehung eingeht,
spricht man ja auch vom „Bund der Ehe“.
An manchen Stellen der Bibel sieht sich Gott als Ehepartner Israels.
Wer mit Gott im Bund ist, für die oder den beeinflussen Gottes Gebote das Leben.
Die Entscheidungen, die man trifft, misst man an ihnen;
was man tut, wird von den Geboten beeinflusst oder sogar bestimmt.

Nun ist es nicht so, dass man ständig seine Bibel dabei hat,
wenn man im Alltag Entscheidungen treffen muss.
Auch vor den wichtigen Entscheidungen des Lebens -
z.B. wenn man sich verliebt - konsultiert man nicht die Bibel,
sondern entscheidet „aus dem Bauch heraus“
oder lässt sich von seinem Herzen leiten.


III. Bauch - oder Inneres - und Herz,
das sind die Orte, in die Gott seine Weisung legt bzw. schreibt.
Wer Gottes Tora verinnerlicht hat, braucht nicht in der Bibel nachzuschlagen;
der oder die kann „aus dem Bauch heraus“ entscheiden.
Und wem das Herz etwas zu tun befiehlt,
auf das Gott seine Weisung schrieb,
die oder der wird nach dieser Weisung handeln.

Aber wie kommt die Weisung ins Innere,
wie schreibt Gott auf das Herz?

Wie ist es sonst mit dem „Bauchgefühl“ und den Herzensentscheidungen?
Woran orientiert man sich da?
Wenn man sich z.B. verliebt,
ist das ja keine rationale, bewusste Entscheidung.
Man geht ja auch nicht los und sucht sich eine Partnerin, einen Partner aus.
Man bildet sich zwar ein, man würde das tun.
Manche Ehefrau lässt ihren Mann in dem Glauben,
er hätte sie sich ausgesucht - dabei hat sie ihn um den Finger gewickelt.
Man bildet sich auch ein, man hätte bei der Partnersuche die Wahl,
als könne man den Richtigen oder die Richtige
unter den jeweils drei Milliarden Männern und Frauen auf dieser Welt finden.
Theoretisch kann man das auch.
Aber tatsächlich ist es der Zufall oder das Schicksal oder Gottes Fügung,
die zwei Menschen dazu bringt, einander als Liebsten zu erkennen.
Als Außenstehender wundert man sich manchmal,
welche zwei sich da gefunden haben.
Sie scheinen überhaupt nicht zueinander zu passen,
einer scheint dem anderen haushoch überlegen zu sein
an Schönheit, an Klugheit oder Wohlstand.
Aber die beiden sehen diesen Unterschied nicht.
Sie haben das Gefühl, sie seien füreinander geschaffen.
Sie haben sich erkannt:
Sie erkannten, dass sie zueinander gehören.

So ähnlich ist das, wenn man Gott „erkennt“.
Es ist ein bisschen wie sich zu verlieben.
Auch der Glaube ist keine rationale, bewusste Entscheidung.
Manche können zwar angeben, wann sie sich bewusst Gott zugewendet haben.
Aber da war der Glaube schon lange da.
Gott hat sich bereits für uns entschieden,
als wir noch gar nicht zu einer Entscheidung fähig waren.
Deshalb hat man wie bei der Liebe auch beim Glauben keine Wahl -
auch wenn man sich einbildet, man hätte sie.
Der Glaube ist Zufall oder Schicksal oder Gottes Fügung, wie die Liebe.
Darum können wir uns nicht aussuchen,
was Gott uns aufs Herz schreibt.
Wenn wir merken, dass wir an Gott glauben, ist es bereits zu spät:
Da hat Gott uns seine Weisung schon aufs Herz geschrieben.

Wenn man einen Menschen liebt,
will man tun, was dem anderen gefällt,
was ihr oder ihm gut tut, ihr Freude macht oder sie glücklich macht.
Man verinnerlicht das, was dem anderen gefällt,
man weiß es „aus dem Bauch heraus“.
Auf dieselbe Weise kommt die Weisung Gottes in uns hinein:
Wer Gott erkannt hat, will tun, was Gott gefällt,
und verinnerlicht das so sehr,
dass man nicht mehr in der Bibel nachschlagen muss,
um zu wissen, was Gott von uns will.


IV. Woran aber „erkennen“ sich zwei Liebende,
wenn doch das Verlieben selbst Zufall oder Schicksal oder Gottes Fügung ist?
Das Erkennen ist die Folge,
ist die Antwort auf etwas, das vorher geschah.
Beim Verlieben ist es die Tatsache,
dass ein anderer Mensch mich genau so mag, wie ich bin -
trotz aller meiner Schwächen, um die ich weiß,
trotz aller Fehler, die ich mir nicht vergeben kann,
trotz aller Unzulänglichkeiten, für die ich mich schäme.
In den Augen der Liebsten, des Liebsten bin ich schön,
bin ich richtig und bin ich gut.
Er oder sie hat sozusagen vergeben,
was ich mir selbst nicht vergeben kann.
Er oder sie hilft mir dabei, mich selbst anzunehmen,
mich selbst zu erkennen als der oder die, die ich bin:
Eine Geliebte, ein Geliebter.

Wenn man Gott erkennt,
ist das ebenfalls die Antwort auf eine Vergebung,
die zuvor geschah:
Die Tatsache, dass Gott nicht mehr daran denkt,
wer wir waren und was wir getan haben.
Es ist nicht gleichgültig, und es ist Gott nicht gleichgültig.
Aber Gott mag uns trotzdem - und gibt uns die Möglichkeit,
uns anzunehmen und zu mögen, wie wir sind:
als eine über alles Geliebte, ein über alles Geliebter.
Wer sich selbst in dieser Weise erkannt hat:
in seinen engen Grenzen und Einschränkungen, mit seinen Fehlern,
und trotzdem von Gott über alles geliebt,
wird erkennen, dass das auch für jeden anderen Menschen gilt,
ja, gelten muss.
Das ist das „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.
Wen diese Erkenntnis - man könnte auch sagen: diese Liebe -
einmal gepackt hat, der hat die Weisungen auf sein Herz geschrieben.
Man weiß nicht, wie es kam, aber sie sind da,
und man möchte nicht mehr anders leben.


V. Man muss wahrscheinlich ein wenig leichtsinnig sein,
wenn man sich eine Tätowierung stechen lässt,
weil man ja nicht ahnen kann,
ob man sie in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren immer noch mag.
Ich wollte Sie mit meiner Predigt keinesfalls animieren, sich tätowieren zu lassen.
Aber zu diesem Leichtsinn möchte ich Sie animieren.
Er könnte dazu führen, dass man sich verliebt.
Er könnte dazu führen, dass man mit einem Mal
Gottes Weisung auf sein Herz geschrieben findet
und dann nicht mehr anders leben will.

Amen.

Samstag, 5. Mai 2018

too many secrets?


aus: Sneakers
 Predigt am Sonntag Rogate, 6. Mai 2018, über Kolosser 4,2-6:

Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung!
Betet zugleich auch für uns, dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue
und wir das Geheimnis Christi sagen können,
um dessentwillen ich auch in Fesseln bin,
damit ich es offenbar mache, wie ich es sagen muss.
Verhaltet euch weise gegenüber denen, die draußen sind,
und kauft die Zeit aus.
Eure Rede sei allezeit freundlich und mit Salz gewürzt,
dass ihr wisst, wie ihr einem jedem antworten sollt.


Liebe Schwestern und Brüder,

einmal haben wir unseren Klassenlehrer so gelöchert,
dass er fast verzweifelt wäre:
wir wollten unbedingt wissen, wie die Klassenarbeit ausgefallen war.
Er aber wollte die Arbeit erst in der nächsten Woche zurückgeben
und vorher nichts über die Noten verraten.
Wir nervten ihn immer weiter, baten, fragten, bettelten,
bis er uns schließlich mit verschwörerischer Miene fragte:
„Könnt ihr ein Geheimnis für euch behalten?“
Wir nickten. Natürlich konnten wir das.
Da antwortete unser Lehrer:
„Ich auch!“


I. Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?
Was für eine Frage! Klar können Sie!
Davon lebt das Vertrauen,
das die Grundlage jeder Freundschaft und jeder Beziehung ist:
Andere können sich darauf verlassen,
dass ich ihr Geheimnis für mich behalte
und es nicht weitererzähle.

Doch wenn Geheimnisse verraten werden,
wird Vertrauen zerstört und Misstrauen gesät.
Die Stasi versuchte mit allen Mitteln,
an die Geheimnisse der Bürgerinnen und Bürger zu kommen.
Sie öffnete private Briefe, belauschte Telefonate, verwanzte Wohnungen.
Das Perfideste aber war, dass sie Freunde, Nachbarn, Kollegen dazu überredete
oder dazu zwang, Geheimnisse zu verraten, die ihnen anvertraut worden waren,
oder sich einzuschleichen, um an diese Geheimnisse zu kommen.

Wenn es keine Geheimnisse mehr gibt,
wenn man keinem Menschen mehr trauen kann,
wird man krank.
Viele Machthaber träumen davon,
völlige Kontrolle über ihre Untertanen zu besitzen,
indem sie alles über sie in Erfahrung bringen,
jedes noch so kleine Geheimnis lüften -
„big Brother is watching you“.
Leider träumen auch manche Eltern davon,
manche Partnerinnen oder Partner.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse,
und ich behaupte, sie machen das Leben erst lebenswert:
die Wahl zu haben, ob und wem man etwas von sich anvertraut - und wem nicht.

Ein Geheimnis zu besitzen, von dem andere nichts wissen,
vielleicht nicht einmal die, die einem am nächsten stehen:
das schenkt einem Freiheit.

Es macht einen Menschen überhaupt erst interessant,
dass man nicht alles von ihr oder ihm weiß,
dass es bei ihr oder ihm noch vieles zu entdecken gibt
und manches, das man niemals erfahren wird
- oder vielleicht doch, in einem ganz besonderen Moment,
über den aber niemand anderes entscheidet als dieser Mensch allein.


II. Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse.
Auch in der Bibel wimmelt es davon.
Geheimnisse stehen an ihrem Anfang -
Adam und Eva essen heimlich vom Baum der Erkenntnis
und versuchen, diese Tatsache vor Gott zu verbergen.
Kain versucht, den Mord an seinem Bruder zu vertuschen.
Simson verrät nicht, was die Quelle seiner ungeheuren Kraft ist.

Auch Jesus hat Geheimnisse:
Dass er der Messias, der Christus, ist,
dürfen seine Jünger niemandem verraten.
Seine Gleichnisse sind Geschichten,
die nur die Eingeweihten verstehen.
Und bei vielen Heilungen verlangt er von den Geheilten,
dass sie niemandem sagen, wer sie gesund gemacht hat
(sie tun es natürlich trotzdem).

Am interessantesten ist in dieser Hinsicht aber die Auferstehung:
Die Frauen, die das offene Grab finden
und den Engel darin treffen, der ihnen die Osterbotschaft bringt,
sind so erschrocken, dass sie niemandem etwas sagen,
wie es im Evangelium heißt.
Trotzdem macht die Nachricht schnell die Runde -
wenn das nicht so gewesen wäre, wären wir jetzt nicht hier.

Es gibt viele Stellen in den Evangelien
wie die Heilungsgeschichten oder die Auferstehungsberichte,
in denen etwas, das geheim bleiben soll,
erst recht ausgeplaudert und verbreitet wird.

Aber im Gegensatz zu jemandem,
der eines unserer Geheimnisse verraten würde,
ist auf die Verräter in den Evangelien niemand böse - im Gegenteil:
Es scheint, als sollte das Geheimnis verraten werden;
als wäre es nur deshalb mit dem Siegel der Verschwiegenheit versehen worden,
um so erst recht ausgeplaudert zu werden.


III. Der Predigttext geht noch einen Schritt weiter.
Hier heißt es:
„Betet zugleich auch für uns,
dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue
und wir das Geheimnis Christi sagen können,
damit ich es offenbar mache, wie ich es sagen muss.“

Paulus, von dem hier die Rede ist,
plaudert das Geheimnis Christi aus!
Und nicht nur das: Er bittet die Gemeinde,
für ihn zu beten, damit er es tut!
Er macht die Gemeinde zu Komplizen seines Geheimnisverrates!
Und das ganz offen, ohne jede Geheimniskrämerei.

Was aber ist eigentlich dieses Geheimnis Christi?
Es ist, kurz gesagt, das Wissen darum,
dass Jesus für uns gestorben ist,
mit seinem Tod unsere Schuld auf sich genommen
und uns mit seiner Auferstehung ein neues Leben geschenkt hat.

Aber das ist doch kein Geheimnis!
Das weiß doch jedes Kind,
das in den Kindergottesdienst oder in die Christenlehre geht!
Und das darf, nein, das soll jede und jeder wissen:
„Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker“,
sagt Jesus am Ende des Matthäusevangeliums.
Er gibt uns den Auftrag, allen davon zu erzählen,
die diese Botschaft hören wollen.

Aber genau da liegt der Hund begraben:
Es kann zwar jede das Geheimnis Christi erfahren -
es soll sogar jede erfahren -
aber die wenigsten interessieren sich dafür
oder hören überhaupt zu.
Und unter denen, die zuhören,
schütteln viele den Kopf und sagen,
dass das doch alles nicht stimmen könne
und nicht glaubhaft sei.

Das Wort vom Geheimnis Christi findet keine Tür,
findet keinen Einlass und erreicht die Menschen nicht,
für die es bestimmt ist.
Und so geht es uns ja auch oft mit Worten der Bibel:
Man hört sie, aber sie rauschen an einem vorbei.
Die Tür ist nicht offen, die Worte erreichen einen nicht.


IV. Offenbar kann man das nicht machen.
Offenbar hilft eine interessante Predigt,
eine freundliche oder mit Salz gewürzte Rede nicht,
dass dem Wort eine Tür geöffnet wird:
dass es die Zuhörerin erreicht.

Dass eine Botschaft, eine Rede, eine Predigt die Zuhörer erreicht,
kann man nicht „machen“, schon gar nicht erzwingen.
Jede Mutter, jeder Vater kann ein Lied davon singen.
Aber auch jede, die einmal ein wichtiges Anliegen jemandem mitteilen wollte,
der nicht zum Zuhören bereit war.

Damit jemanden eine Botschaft erreicht,
muss er innerlich dazu bereit sein.
Man kann natürlich etwas hundertmal sagen,
hundertmal abschreiben lassen.
Aber dass es ankommt, darüber entscheidet die Hörerin allein.

Deshalb verfällt Paulus auf das Gebet.
Nicht, weil er so verzweifelt ist,
dass er darin die letzte Chance sieht, nach dem Motto:
wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht noch beten.
Sondern weil das Gebet tatsächlich die Art und Weise ist,
wie man die innerliche Bereitschaft zum Zuhören erlangt.

Beten, wie Paulus es meint, bedeutet nicht, viele Worte zu machen.
Es ist vielmehr eine besondere Art der Konzentration:
Man konzentriert sich auf das Wort Gottes
und öffnet ihm so eine Tür,
durch die es einen erreichen und berühren kann.

Wenn in einem Gottesdienst aus der Bibel vorgelesen
oder über einen Text der Bibel gepredigt wird,
dann arbeiten nicht nur die Lektorin, die liest,
oder die Pfarrerin, die predigt.
Die ganze Gemeinde arbeitet,
indem sie darum betet, dass sich dem Wort eine Tür öffnet.

Das Hören der Lesung oder der Predigt ist genauso wichtig
- und auch genauso anstrengend -
wie das Lesen und Predigen selbst.
Und ohne das konzentrierte, betende Zuhören der Gemeinde
können Lesung oder Predigt nichts und niemanden erreichen.
Darum macht Paulus die Gemeinde zu Komplizen seines Geheimnisverrates:
Ohne sie geht es nicht.
Ohne die Gemeinde kann das Geheimnis Christi nicht weitergesagt werden.
Es bleibt im Geheimnis verborgen.


V. Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?
Es gibt Geheimnisse, die müssen wir für uns behalten,
auch wenn wir darauf brennen, sie weiterzuerzählen.
Es gibt Geheimnisse, die sind unglaublich wertvoll,
weil sie uns jemand anvertraut hat, der uns vertraut,
oder weil sie uns die Freiheit schenken, die wir zum Leben brauchen.

Und es gibt Geheimnisse, die wollen und müssen verbreitet werden.
Aber nicht, indem man sie auf Facebook veröffentlicht,
in den Schaukasten hängt oder auf sein T-Shirt druckt.
Sondern indem man betet.

Das Geheimnis Christi verbreitet sich nicht durch Reklame,
coole Sprüche oder raffinierte Formulierungen,
sondern durchs Beten.
Das ist nicht nur Sache der offiziellen kirchlichen Mitarbeiterinnen.
Jede und jeder ist daran beteiligt.
Jede und jeder trägt dazu bei,
dem Wort eine Tür aufzutun
durch Schweigen und Hören: durchs Gebet.

Amen.