Samstag, 25. Juni 2011

Anerkennung

Predigt am 1.Sonntag nach Trinitatis, 26.6.2011, über Johannes 5,39-47:

Ihr erforscht die Schriften, weil ihr glaubt, in ihnen das ewige Leben zu haben - und diese sind's, die über mich Zeugnis ablegen. Aber ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr das Leben hättet.
Anerkennung von Menschen nehme ich nicht an, aber ich kenne euch, dass ihr die Liebe Gottes nicht in euch habt.
Ich bin im Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer in eigenem Namen kommt, den nehmt ihr an. Wie könnt ihr glauben, wenn ihr Anerkennung von einander annehmt, aber die Anerkennung durch den einzigen Gott nicht sucht?
Glaubt nicht, dass ich euch beim Vater verklage. Es gibt einen, der euch verklagt, Mose, auf den ihr eure Hoffnung setzt. Wenn ihr Mose glauben würdet, glaubtet ihr auch mir. Denn von mir hat er geschrieben. Wenn ihr aber den Buchstaben nicht glaubt, wie werdet ihr meinen Worten glauben?


Liebe Gemeinde,

es geht um Anerkennung.
Auf Griechisch: doxa.
Doxa bedeutet ursprünglich: das, was man meint. Die Meinung.
Die Meinung, die man hat.
Und die Meinung, die andere von einem haben.
Diese Meinung, die andere von einem haben, ist der Ruf.
Der "gute Ruf", oder der "gute Name".
Ist der Respekt, der einem entgegengebracht wird.
Dass man z.B. von Menschen, die man kennt, gegrüßt wird.
Dass man gekannt wird.
Dass man nicht übersehen wird, oder, besser noch:
dass man nicht übersehen werden kann.
Wenn ohne einen nichts geht,
wenn man jemand ist, den man kennen muss
und den jeder gerne kennen lernen möchte
- dann hat man's geschafft.
Dann ist man anerkannt.

Es geht um Anerkennung.
Immer geht es um Anerkennung.
Das Neugeborene sucht den Blick der Mutter.
Es will von ihr erkannt werden.
Das Kind zeigt, was es gemacht hat,
und möchte, dass Eltern oder Großeltern das sehen,
sich darüber freuen, es loben und bewundern.
Die Schülerin zeigt ihre Hausaufgabe,
zeigt ihr Interesse und wünscht sich,
dass der Lehrer sie wahrnimmt und würdigt.
Ein Mensch zeigt sich einem anderen,
und sehnt sich danach, dass der andere ihn ansieht
und ihn anerkennt, wie er ist,
ohne, dass er sich verstellen muss.

Wenn zwei Menschen sich so ansehen,
ohne dass sie sich verstellen
oder sich gegenseitig etwas vormachen müssen,
dann ist es Liebe.
Auch Liebe geht nicht ohne gegenseitige Anerkennung.
Es ist kein Wunder,
dass die Bibel die Liebe zwischen zwei Menschen damit umschreibt,
dass sie sich "erkennen".

II
Es geht um Anerkennung,
und da erhebt sich die Frage:
Wen erkennen wir an?
Eigenartig, diese Frage.
Wahrscheinlich haben Sie sich diese Frage so noch nie gestellt.
Aber in anderer Form beantworten Sie diese Frage immer wieder, wahrscheinlich sogar täglich.
Wenn es um Fragen geht wie:
Wer hat Ihnen etwas zu sagen?
Wem würden Sie im Zweifel blind vertrauen?
Wer bedeutet Ihnen etwas?
Auf wen hören Sie?

Wen erkennen wir an?
Als Kind ist das noch keine Frage:
Man hört auf die Erwachsenen.
Auf die Eltern, Großeltern, Lehrer.
Weil man muss. Aber auch, weil man ihnen vertraut.
Irgendwann wird dieses Vertrauen
auf das Wissen und Rechthaben der Eltern zerstört.
Das nennt man dann: Pubertät.
Von der Pubertät an fällt es immer schwerer,
jemanden anzuerkennen,
und es fällt immer schwerer,
Anerkennung zu bekommen.
Die Latte für die Anerkennung wird immer höher gelegt.
Für eine Lehrerin reicht es dann nicht mehr,
dass sie Lehrerin ist.
Wenn sie nicht gut und abwechslungsreich unterrichten kann,
wenn sie nicht etwas ausstrahlt oder hat,
was die Schüler bewundern oder respektieren,
dann wird sie bestenfalls ertragen, geduldet oder erlitten,
aber nicht anerkannt.

Ebenso ist es bei anderen Persönlichkeiten,
die möchten, dass Menschen auf sie hören:
Ärztinnen. Pfarrer. Politiker. Wissenschaftlerinnen.
Sie müssen sich gefallen lassen,
dass man einen hohen Maßstab an sie legt.
Dass man ihre Worte an ihrem Handeln misst
und an ihrer Lebensführung.
Wir können solchen Leuten gegenüber sehr kritisch sein.
Und manchmal mit unserer Kritik auch sehr verletzend.

Und dann wiederum gibt es Menschen,
denen vertraut man blind,
da lässt man alle Maßstäbe fallen,
da entschuldigt man jeden Fehler,
nimmt alles hin.
Bei einem Menschen, den man liebt, ist das so.
Aber auch bei einem Idol, das man anhimmelt.
Immer wieder gab und gibt es Führer, Gurus,
charismatische Politiker, Stars oder Persönlichkeiten,
die eine blinde Anerkennung genießen.

III
Auch beim Glauben geht es im Anerkennung.
Glaube ist Anerkennung - die Anerkennung Gottes und seiner Macht:
Anerkennung, dass Gott einer ist,
der mir im Zweifel sagt, wo's langgeht.
Glaube ist Anerkennung.
Er ist auch die Suche nach Anerkennung durch Gott.
Das Streben danach, dass Gott mich und mein Leben anerkennt.

Es gibt eine sehr erschütternde Szene
im "Hauptmann von Köpenick" von Carl Zuckmayer,
da streitet der frisch aus dem Zuchthaus entlassene Schuster Voigt,
der spätere "Hauptmann von Köpenick",
mit seinem Schwager über die Anerkennung,
die man seinem Schwager wie ihm versagt,
- seinem Schwager, weil man ihn nicht befördert,
obwohl er es verdient hätte,
und ihm, weil er als ehemaliger Zuchthäusler
keine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis
und damit keine neue Chance bekommt.

Da stellt Voigt sich vor, wie er eines Tages vor Gott,
seinem Schöpfer, steht, und der fragt ihn dann:

"Willem Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben?
Und da muss ick sagen - Fußmatte, muss ick sagen.
Die hab ick jeflochten im Jefängnis,
und denn sind se alle druff rumjetrampelt, muss ick sagen.
Und zum Schluss haste jeröchelt und jewürcht
um det bisschen Luft, und denn war's aus.
Det sagste vor Gott, Mensch.
Aber der sagt zu dir: Jeh wech! sagt er! Ausweisung! sagt er!
Dafür hab ick dir det Leben nich jeschenkt, sagt er!
Det biste mir schuldig. Wo is et? Wat haste mit jemacht?!

Und denn is et wieder nischt mit de Aufenthaltserlaubnis."


Manche Menschen befürchten, dass Gott so ist,
wie Schuster Voigt ihn sich ausmalt:
Dass er eines Tages unser Leben von uns einfordern wird.
Uns fragen wird, was wir daraus gemacht haben.
Oder dass er, wie Jesus, sagen wird:
"Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich nicht gespeist.
Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich nicht getränkt.
Ich bin ein Fremdling gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt.
Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet.
Ich bin krank und gefangen gewesen,
und ihr habt mich nicht besucht."
(Matthäus 25,42-43)

Im Predigttext zeichnet Jesus ein ähnliches Bild:
"Glaubt nicht, dass ich euch beim Vater verklage.
Es gibt einen, der euch verklagt, Mose,
auf den ihr eure Hoffnung setzt."

Mose tritt als Ankläger auf, wie es Abraham im Evangelium tat.
Und wie es dort hieß:
"Sie haben Mose und die Profeten. Auf die sollen sie hören." (Lukas 16,29),
so wird auch hier auf Mose verwiesen,
der gesagt hat, was gut ist und was Gott von uns fordert.

Was Gott von uns will, liegt offen zutage.
Man muss allerdings danach fragen.
Ob Gott unser Leben anerkennt,
das liegt daran, ob wir Anerkennung durch Gott suchen.
Und das wiederum beginnt mit der Frage nach dem,
was Gott für uns will.

Für manche Menschen ist das offenbar keine Frage.
Ihnen ist nicht so wichtig, dass Gott ihr Leben anerkennt.
Ihnen geht es vielmehr darum,
dass sie von anderen anerkannt werden.
Sie fragen danach, was andere Menschen über sie denken,
nicht, was Gott über sie denkt.

Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns eigestehen:
Uns geht es genauso.

IV
Die Zeit der Pubertät ist die Zeit der Frage nach der Anerkennung.
Die Autorität, das Wissen, das Rechthaben von Eltern und Lehrern werden hinterfragt.
Und gleichzeitg wird danach gesucht und gefragt,
wen man anerkennen kann.
Mit der Kleidung, der Haarfarbe, dem Verhalten provoziert man, verletzt Grenzen, grenzt sich gegen die Erwachsenen ab.
Und gleichzeitig sucht man nach Anerkennung durch Freundinnen und Freunde, durch die Clique, und ist bereit, sich dafür Zwängen, Verhaltensregeln, einer Uniform zu unterwerfen.

Irgendwann hat man diese schwierige Zeit überstanden - und dann?
Hat man dann Anerkennung gefunden?
Hat man sein Selbst gefunden,
weiß man, wer man ist und was man will?

Die Suche nach Anerkennung,
die Sorge, was andere wohl von mir denken,
hört mit der Pubertät nicht auf.
Im Gegenteil. Manche empfinden den Druck,
sich rechtfertigen zu müssen,
es allen recht machen zu müssen,
stärker als je zuvor.
Die pingelige Beobachtung durch die Nachbarn;
die erbarmungslose Schärfe des Tratsches;
die ehernen Gesetze des Standes und der gesellschaftlichen Klasse
sind gnadenloser, beängstigender,
als es das Jüngste Gericht je sein könnte.

Und gleichzeitig ist nichts süßer, als anerkannt und gelobt zu werden
- sogar von denen, die keine Ahnung haben;
die gar nicht beurteilen können, was man geleistet hat.
Nichts ist schöner, als sein Gesicht in der Zeitung zu sehen,
jemand zu sein, den man auf der Straße grüßt,
vor dem man den Hut zieht, Respekt hat
- und vielleicht sogar ein bisschen Angst.
Dagegen ist Gottes Liebe,
das leuchtende Antlitz Gottes, wenn er auf uns und unser Leben sieht,
bloß ein alter Hut.

V
"Wie könnt ihr glauben, wenn ihr Anerkennung von einander annehmt, aber die Anerkennung durch den einzigen Gott nicht sucht?"

Ja, wie können wir glauben,
wenn uns die Anerkennung anderer so viel mehr bedeutet
als die Anerkennung durch Gott?

Gar nicht. Wir können nicht glauben.
Wir sind so heillos verloren
in unserer Sehnsucht nach Anerkennung durch andere,
dass wir niemals zum Glauben finden können.
Wir sind verloren.
Uns droht, was auch Schuster Voigt drohte:
Das Urteil: "Ausweisung!
Dafür hab ick dir det Leben nich jeschenkt!"


Gott sei Dank müssen wir den Glauben nicht aus uns selbst hervorbringen.
Er ist uns geschenkt.
In der Taufe ist der Glauben wie ein Samenkorn in unser Herz gelegt worden, weil wir damals, in der Taufe, Christus angezogen haben.
Wir haben ihn angenommen,
und er hat uns angenommen.
Gott hat uns in der Taufe als seine rechtmäßigen Kinder anerkannt.
Und diese Anerkennung Gottes hört nicht auf.
Sie hat kein Ende,
und sie ist hat nichts damit zu tun,
wer wir sind, was wir aus uns und unserem Leben machen,
ob wir Fußmatten knüpfen im Gefängnis
oder den Nobelpreis gewinnen.

Gottes Antlitz leuchtet über uns,
ob wir in Mathe eine 5 auf dem Zeugnis bekommen,
ob unsere Freunde uns für einen Langweiler halten,
oder ob wir im Beruf einen Reinfall nach dem nächsten erleben.
Gottes Antlitz leuchtet,
wie nur das Angesicht der Liebsten über dem des Liebsten leuchtet.
Gottes Antzlitz leuchtet,
weil er uns über alles liebt.

Gott liebt uns. Gott erkennt uns an.
Das stärkt uns den Rücken,
wenn unsere Mitmenschen uns die Anerkennung versagen.
Wenn wir es mal wieder keinem recht machen konnten.
Wenn uns niemand versteht
- oder wir uns unverstanden fühlen.

Eines Tages werden wir entdecken,
wie sehr Gott uns liebt.
Dann wird das Samenkorn des Glaubens,
das in unser Herz gelegt wurde
und dort heimlich, still und leise aufgegangen
und herangewachsen ist
- dann wird das Samenkorn des Glaubens
eine Blüte tragen.

Amen.

sich klein machen

Predigt am Johannistag, 24.6.2011, über Johannes 3,22-30:

Danach kam Jesus und seine Jünger in das judäische Land, dort hielt er sich mit ihnen auf und taufte.
Johannes aber taufte in Ainon nahe bei Salem, denn dort gab es viele Gewässer, und sie kamen und ließen sich taufen; denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.
Es enstand nun eine Auseinandersetzung von seiten der Jünger des Johannes mit einem Juden über die Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: "Rabbi, der mit dir war am anderen Ufer des Jordan, dem du Zeugnis gabst, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm."
Johannes antwortete und sprach: "Ein Mensch vermag auch nicht ein Ding zu nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben wird. Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: 'Ich bin nicht der Christus', vielmehr habe ich gesagt: 'Ich bin ein Bote vor jenem her'.
Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Trauzeuge aber, der dasteht und ihn hört, freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude nun ist erfüllt. Er muss zunehmen, ich aber abnehmen."


Liebe Gemeinde,

"Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute!
Denn herein kommt der Bräutigam,
viel größer als sonst große Leute."


So schreibt die griechische Dichterin Sappho, eine Kollegin von Homer, 600 Jahre vor Christus.
"Hebt den Dachbalken hoch!"
Am Tag der Hochzeit wächst jede Braut, jeder Bräutigam weit über sich hinaus, vor Stolz, vor Freude, vor Glück.
An diesem Tag ist jeder ein Star, mag er sich sonst auch klein und unbedeutend fühlen, mag er den gängigen Vorstellungen von Schönheit auch sonst nicht entsprechen. Selbst für einen Bräutigam vom Format Nicolas Sarkozys ist an diesem Tag jede Tür und jeder Dachbalken zu niedrig, so stolz schwillt ihm die Brust, so hoch trägt er sein Haupt - zu recht: Am Tag der Hochzeit wird das Brautpaar gefeiert, und nur Schufte missgönnen ihnen das Glück, nur böswillige Menschen machen sich lustig über die Körpergröße des Bräutigams, den die Braut heute so bewundert.

Für die meisten Menschen ist der Tag der Hochzeit einer der wenigen Tage im Leben, an denen sie im Mittelpunkt des Interesses stehen wie sonst nur Berühmheiten, Politiker und Stars; an denen sie gefeiert werden und mit Geschenken und guten Wünschen überhäuft.

Die meiste Zeit muss man anderen den Vortritt lassen. Meistens sind andere wichtiger, stehen oder sitzen in der ersten Reihe, blicken einem aus der Zeitung entgegen, bekommen den Preis, die bessere Stelle, den schöneren Mann, die klügere Frau, die begabteren Kinder, den braveren Hund.

II
So geht es auch Johannes: Er hat als erster getauft, er hat's erfunden, sozusagen, und war als Täufer sehr erfolgreich und beliebt. "Es ging zu ihm hinaus das ganze jüdische Land und alle Leute von Jerusalem", heißt es bei Markus (1,5).
Und dann kommt Jesus, den er getauft hat, macht es ihm nach - und ist viel erfolgreicher als er. So sehr, dass es Streit gibt. Streit darüber, welche Taufe reiner wäscht, seine, oder die des Johannes. Kein Wunder, dass das die Jünger des Johannes empört: Sie stehen hinter ihrem Meister und misstrauen diesem Emporkömmling, der ihnen alles nachmacht und ihnen den Ruhm stiehlt.

Solche Erfahrungen macht wohl jeder einmal. Sei es in der Schule, wo der Klassenkamerad die Hausaufgabe abschreibt und dann das Lob des Lehreres für die gute Arbeit einheimst. Oder bei der Arbeit, wo jemand eine Idee abkupfert und damit reüssiert. Man empfindet es als ungerecht, wenn ein anderer für eine Arbeit, für eine Idee gelobt wird, die doch die eigene war.

Johannes aber empfindet das nicht so. Im Gegenteil, er sieht darin einen höheren Willen am Werk, für ihn ist es Fügung, oder Schicksal, dass es so kommt, wie es kommen muss: "Er muss zunehmen, ich aber abnehmen."
Das klingt, als hätte sich einer in sein Schicksal ergeben: Der andere ist nun mal stärker, besser, erfolgreicher als ich. Dagegen komme ich nicht an. Was soll ich mich aufregen - so ist es nun mal.

Johannes aber geht damit anders um als seine Jünger, er geht einen Schritt weiter: Er ist einverstanden. Und freut sich sogar. So, wie sich der Trauzeuge über das Glück des Bräutigams freut. Er ist, um mit den Worten Sapphos zu sprechen, der, der den Zimmerleuten zuruft, den Dachbalken anzuheben für den Bräutigam - wenn er nicht sogar selbst mit anfasst, um ihn hochzustemmen.

III
Das ist die Hohe Kunst der Selbstverleugnung. So haben sich über Jahrhunderte Ehefrauen dreingefügt, dass ihr Ehemann Karriere machte - eine Karriere, zu der auch sie in der Lage gewesen wären, vielleicht sogar besser noch als ihr Mann. Aber sie durften nicht, damals, es war ihnen verwehrt. So blieb ihnen nur, sich nolens, volens mit ihrem Mann zu freuen und ihn nach Kräften zu unterstützen: "Er muss zunehmen, ich aber abnehmen." - Nicht selten bestand ihre Unterstützung auch darin, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes abnahmen, um neben ihrem Mann eine gute Figur zu machen.

Und so fügen sich auch Eltern drein, wenn ihre Kinder Möglichkeiten nutzen und Wege gehen, die ihnen noch verschlossen waren - weil ihren Eltern das Geld für eine Ausbildung fehlte; weil sie nicht die weiterführende Schule besuchen durften, sondern arbeiten mussten; weil die Familie, die Tradition oder andere äußere Umstände sie daran hinderten, wegzugehen und ihr Glück zu suchen.
Bis heute verzichten Eltern zugunsten ihrer Kinder auf vieles, damit sie es einmal besser haben sollen, damit sie das verwirklichen können, was ihre Eltern sich für sie wünschen oder ihnen von Herzen gönnen.
"Er muss zunehmen, ich aber abnehmen." - Auch Eltern sind notgedrungen Meister der Selbstverleugnung, wenn es um ihre Kinder geht.

Aber gerade das Beispiel der Eltern zeigt auch, dass trotz aller Selbstverleugnung wahre Freude am Erfolg, am Glück anderer möglich ist. Eltern sind stolz, wenn ihre Kinder etwas aus ihrem Leben machen, wenn sie Erfolg haben, etwas leisten, bekannt oder sogar berühmt werden. Sie sind stolz, wenn ihre Kinder es schaffen, ihren eigenen Weg zu gehen - auch und gerade dann, wenn er nicht geradewegs ins Olymp führt, sondern manchen Umweg, manche Durststrecke beinhaltet.
Sie sind stolz, weil sie ihre Kinder über alles lieben.
Die Liebe gönnt dem anderen den Erfolg, die Freude, das Glück, auch wenn man einen leisen Stich verspürt, der einem sagt: Das hätte ich auch gern gehabt.
Die Liebe freut sich mit, weil sie dem anderen alles Gute gönnt und alles Gute wünscht.

IV
"Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: 'Ich bin nicht der Christus', vielmehr habe ich gesagt: 'Ich bin ein Bote vor jenem her'."

Mathis Gothart Grünewald 024

Johannes der Täufer ist Vorläufer, Wegbereiter für Christus. Er macht sich selbst klein, damit der andere groß werden kann. Wie Matthias Grünewald es auf dem Isenheimer Altar darstellt, zeigt Johannes der Täufer mit dem Finger auf Christus, damit sich alle Blicke, alles Interesse auf ihn richten sollen.
Aber wenn Sie sich das Bild vor Augen halten: Da steht neben dem Kreuz Johannes der Täufer und zeigt mit einem langen Zeigefinger auf den Gekreuzigten. Er lenkt den Blick von sich auf Christus. Und ist doch auch selbst auf dem Bild. Ja, mehr noch: Matthias Grünewald, der Maler, hat sich selbst in der Gestalt des Täufers neben Christus verewigt. Indem er sich klein macht, um ihn, den Christus, groß zu machen, wird er selbst groß. Oder, um es noch etwas deutlicher zu sagen: Erst indem er von sich selbst weg auf Christus weist, zeigt sich seine wahre Größe.

Dazu gibt es eine Parallele.
Im Magnificat, dem Loblied Marias, das in der Vesper seinen festen Ort hat, heißt es:
"Meine Seele erhebt den Herrn
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskind."
(Lukas 1,47-48)

Maria erhebt den Herrn und bekennt damit ihre Niedrigkeit.
Sie macht sich klein - so klein, wie sich das Geschöpf neben dem Schöpfer ausnimmt.
So kann Gott sie aufrichten. Gott sieht sie an, obwohl sie so klein ist, und lässt sie ganz groß werden - so groß, dass bis heute von ihr gesprochen wird.

Kein Wunder, werden sie jetzt einwenden, sie hat ja auch Jesus zur Welt gebracht. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung, nicht die Regel.
Ebenso, wie Johannes eine ganz besondere Person ist, ein Prophet, ein Heiliger, kein Mensch wie Sie oder ich.

Aber das stimmt nicht.
So, wie durch Maria Gottes Sohn zur Welt kommt,
so kommt er heute auch durch uns zur Welt.
Wie Johannes dem Herrn den Weg bereitet,
so bereiten wir ihm heute den Weg.

V
Jesus kommt durch uns zur Welt.
Das ist ein provozierender Gedanke.
Aber wenn Sie daran denken, dass Jesus als das Wort bezeichnet wird, das von Anbeginn der Schöpfung an da war, und dass die Kirche der "Leib Christi" genannt wird, dann erscheint der Gedanke vielleicht nicht mehr so abwegig.
Jesus ist Gottes Wort, das im Anfang da war und das im Evangelium zur Guten Nachricht für alle Menschen wird. Sie will ausgesprochen, sie will weitergesagt werden, die gute Nachricht. Durch wen sollte das geschehen - wenn nicht durch uns?
Jesus ist leibhaft gegenwärtig im Abendmahl - und in der Gemeinde, die sich zum Gottesdienst versammelt.

Wir müssen nicht alle zu Predigerinnen oder Predigern werden, damit die Gute Nachricht weitergesagt wird, damit das Wort des Evangeliums in unsere Welt kommt. Das Evangelium wird auch dort verkündigt, wo Taten der Liebe getan werden, Taten der Nächstenliebe. Wo Menschen, vom Glauben bewegt, auf andere Menschen zugehen: da begegnet ihnen Christus, der gesagt hat: "Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan." (Matthäus 25,40)

Da, wo wir uns dem Mitmenschen zuwenden, da entsteht der Leib Christi: Wo wir einander helfen und Hilfe annehmen, wo wir einander lieben und geliebt werden, da begegnet uns Christus. Die Gemeinschaft, in der das geschieht, ist der Leib Christi.
So kommt Christus durch uns zur Welt im Wort und in der Tat.

Wenn wir auf diese Weise Wegbereiter Christi sind, erfüllen wir unsere Bestimmung. Es ist die Bestimmung Johannes des Täufers, dessen wir heute gedenken. Wir gedenken seiner nicht, weil er ein Heiliger war oder ein Märtyrer. Sondern weil er ein Vorläufer war auch für uns, der uns gezeigt hat, welches auch unser Weg ist:
"Er muss zunehmen, ich aber abnehmen."

Wir machen uns klein, damit Christus groß werden kann.
Dabei geschieht, was auf dem Isenheimer Altar zu sehen ist und was Maria in ihrem Loblied besingt: Wir finden zu unserer wahren Größe. Und wir werden groß gemacht, wenn wir uns für Christus klein machen.
"Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir", schreibt Paulus (Galater 2,20)

Wenn das Ich kleiner wird, kann Christus in uns groß werden.
Dann spielt es auf einmal keine Rolle mehr, wer's erfunden hat. Wer der Erste war und die Idee hatte. Dann können wir großzügig sein und anderen den Erfolg, das Lob, das Rampenlicht gönnen. Weil wir etwas viel größeres haben: Christus selbst, der in uns lebt, durch uns zur Welt kommt und durch uns unseren Mitmenschen begegnet.

Amen.

Dienstag, 21. Juni 2011

Wem gehört die Kirche?

Predigt zum Tag der Weihe der Klosterkirche, 15.6.1275
am Sonntag Trinitatis, 19.6.2011 über Markus 4,30-32



Liebe Gemeinde,

wir feiern heute das Jubiläum der Weihe der Klosterkirche: Wir feiern, dass es sie gibt, dass hier seit 736 Jahren Menschen Gott begegnen, Gottesdienste gehalten werden.
Wir feiern, dass diese Kirche allen Menschen offen steht, dass wir sie haben und aufsuchen und uns an ihr freuen können.

Aber wem gehört eigentlich die Klosterkirche?

Vor 736 Jahren wäre die Antwort klar gewesen:
Die Klosterkirche gehört zum Zisterzienserkloster Riddagshausen, sie gehört dem Kloster. Die Mönche haben sie gebaut und über einen Zeitraum von 300 Jahren täglich darin gebetet und Gottesdienst gefeiert.

1568 führte Herzog Julius die Reformation im Braunschweiger Land ein, und damit auch im Kloster Riddagshausen. Der 10. August 1568 ist unser "Reformationstag". Der Herzog war Landes- und zugleich Kirchenherr; das Kloster Riddagshausen mit der Klosterkirche fiel unter seine Gewalt. Das Kloster behielt aber seine Selbständigkeit - unter herzoglicher Aufsicht. Er überführte das Vermögen des Klosters - die Ländereien, die zum Kloster gehörten - als "gemeinen Schatz" des Landes Braunschweig in einen Fonds, aus dem die Erhaltung der Gebäude und die Gehälter der Mitarbeiter bezahlt werden sollten. Das war der Kloster- und Studienfonds,
die heutige "Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz".

In der unseligen Zeit des 3. Reiches, im Jahr 1935 wurde die "Reichsjägerhofstiftung" gegründet. Das Kloster und seine Flächen wurden dieser Stiftung einverleibt.
1955 wurde die Jägerhofstiftung aufgelöst, ihr Besitz ging an die Stadt über.

Mehrmals wechselten die Besitzer der Klosterkirche.
Und nun? Wem gehört sie heute?
Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten.

In den Zeitläuften stand die Klosterkirche wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung; um sie herum änderten sich die Zeiten und Besitzverhältnisse, sie blieb immer die selbe. So könnte man auf den Gedanken kommen, zu sagen: Die Kirche gehört sich selbst. Sie ist eben einfach da, wie ein Berg oder ein Fluss da ist. Beinahe schon eine Naturgegebenheit.

Aber wenn sie nur einfach da wäre, würde bald nur noch ein Haufen Steine von ihr übrig sein. Die Kirche muss erhalten und gepflegt werden, so dass man sagen könnte: Die Kirche gehört dem, der das Geld und die Arbeit zu seiner Erhaltung aufbringt.
Dann hätte die Klosterkirche viele Besitzer, denn die Gemeinde allein, oder ein einzelner Eigentümer, kann die notwendigen Mittel nicht aufbringen. Nur durch eine gemeinsame Anstrengung lässt sich das erreichen.
Also gehört die Klosterkirche allen? Ist sie Allgemeingut, Allmende, wie man früher sagte - heute sagt man "public domain"?

II
Jesus sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es ist wie ein Senfkorn: wenn es gesät wird aufs Land, so ist es das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; und wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, so dass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.

Heutzutage hat alles einen Eigentümer.
Es gibt kein Fleckchen Erde mehr, das nicht irgendjemandem gehörte. In unserem Land gibt es nicht einmal mehr einen Ort, der nicht irgendwann einmal von Menschen betreten, bearbeitet, gestaltet worden ist. Selbst das Naturschutzgebiet Riddagshausen ist von den Mönchen angelegt worden. Was wir für frei wachsende, wilde Natur halten, ist der planvollen Arbeit von Menschen entwachsen.
Aber auch wenn jedes Fleckchen Erde seinen Besitzer hat, so ist darauf doch noch genug Platz für ein Senfkorn, um irgendwo zu keimen, zu wachsen, sich auszubreiten
und den Vögeln eine Wohnung zu bieten.
Was im Garten im Kleinen geschieht, das passiert auch im öffentlichen Raum: Es gibt Orte, die uns nicht gehören, aber die für uns trotzdem eine Art Zuhause sind. Von der Bushaltestelle, unter die wir uns bei einem Regenschauer flüchten, über die Teichdämme, auf denen wir immer wieder gern spazieren gehen, bis zur Klosterkirche, die wir aufsuchen, um Gottesdienst zu feiern oder um mit unserem Gott allein zu sein.
Anders als Senfkörner wachsen Kirchen nicht von allein in den Himmel. Auch wenn man die Idee zum Bau einer Kirche, die ersten Pläne mit einem Samenkorn vergleichen kann - was dann kommt, sind eine Menge Holz und Steine und unglaublich viel Arbeit.
Zwei Generationen haben an der Klosterkirche gebaut. Von den Mönchen, die den Grundstein legen halfen, hat wohl keiner den fertigen Bau erblickt. Aber alle am Bau Beteiligten hatten einen Traum, eine Vision, die sie teilten, auch wenn sie wussten,
dass sie ihre Erfüllung, dass sie die Vollendung des Baus nicht erleben würden:
Sie teilten den Traum vom Reich Gottes, von dem Jesus gesagt hat, dass es mitten unter uns Wirklichkeit ist. Heute. Hier und Jetzt. In der Gegenwart dieses Reiches Gottes wollten die Mönche leben. Dafür bauten sie die Kirche: damit in ihr das Wort vom Reich Gottes erklingen, im im Hier und Jetzt Wirklichkeit werden sollte.

III
"Christus verkündigte das Reich
- und gekommen ist die Kirche."


Das lebendige Reich Gottes, das wie ein Senfkorn wächst und wie Sauerteig aufgeht und sich vermehrt und der steinerne Bau der Kirche, die starre, wenig bewegliche Institution der Kirche passen schlecht zusammen.
Wir leben ständig in solchen Gegensätzen.
Nicht einfach, diese Gegensätze auszuhalten.
Man möchte sie auflösen, aufheben, damit dieser Schwebezustand, dieses "Dazwischen" aufhört. Wenn die steinerne Kirche dem lebendigen Reich Gottes im Wege steht, dann gehen wir eben nach draußen, in die lebendige Natur. Oder reißen gleich diesen ollen, steinernen Kasten ab.
Wenn die Institution "Kirche" so unbeweglich, so starr ist, dann treten wir eben aus der Kirche aus oder machen Revolution und gründen eine neue, bessere Kirche.

Wir leben ständig in Gegensätzen.
Dieses Leben in Gegensätzen ist die Grundlage der christlichen Existenz. Das Wort "Parochie", das eine Gemeinde, eine "Pfarre" bezeichnet und aus dem sich auch der Name "Pfarrer" ableitet, hat, wie so viele Begriffe der Kirche, griechische Wurzeln. "Paroikia", das ist der Aufenthalt als Fremdling - als Migrant, Asylant, als nicht Einheimischer, im Gegensatz zum Bürger.
In vielen Ortschaften erlebt man noch immer, dass streng unterschieden wird
zwischen den "Einheimischen" und den "Zugezogenen". "Riddagshäuser" ist man keineswegs schon, wenn man hier wohnt. Ich weiß nicht, ob es so strenge gehandhabt wird wie in Hamburg, wo man erst in zweiter oder dritter Generation als "Hamburgerin" gilt, aber "Riddagshäuser" wird man jedenfalls auch nicht so einfach.
Die Christinnen und Christen aber leben als Gäste und Fremdlinge in dieser Welt, als "Beisassen", wie früher auf dem Dorf die Leute hießen, die nicht mitreden durften und die nicht so viel galten wie die Bauern. Und so heißt es auch im Hebräerbrief:
"Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir".

Nun ist es nicht so, dass wir ständig unser Ränzlein geschnürt hielten, um heute hier, morgen dort auf der Walz zu sein. Das macht Spaß, wenn man jung ist, aber ein ganzes Leben lang kann das kein Mensch aushalten. Man braucht eine Heimat, ein Zuhause.
Das wir Fremdlinge sind, bezieht sich darum auf unser Verhältnis zur Welt. Wir leben in ihr, wie Paulus sagt, als ob wir sie nicht hätten:
"Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die eine Partnerin oder einen Partner haben,
sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht."


IV
Die Welt gebrauchen, als brauchten wir sie nicht.
Das Leben in Gegensätzen.

Wenn man das auf die eingangs gestellte Frage überträgt, wem die Klosterkirche gehört, dann muss man vielleicht so antworten:
Sie gehört allen - und keinem zugleich.

Die Kirche ist wichtig als der Ort, an dem die Gemeinde zusammenkommt. Der Name "Kirche" ist auch wieder so ein Wort mit griechischen Wurzeln, er stammt von "kyriake ekklesia", Versammlung des Herrn. "ekklesia" bezeichnet im Griechischen die Versammlung - von der Vereinsversammlung bis zum Parlament -, aber auch den Versammlungsort und damit, wenn es um die Gemeinde geht, die sich versammelt, die Kirche. Die Gemeinde braucht einen Versammlungsort. Sie braucht eine Kirche. Und darum gehört die Kirche der Gemeinde, nämlich denen, die sich in ihr versammeln, um Gottesdienst zu feiern, wie es die Mönche taten, die sie bauten.

Und zugleich gehört sie keiner und keinem von uns. Denn wir sind als Christen in der Welt solche, die haben, als hätten sie nicht. Wir erkennen, das Besitz und Ansehen, Bedeutung und selbst Beziehungen zu anderen Menschen nur vorletzte Dinge sind - schöne Dinge, die wir zum Leben brauchen und die unser Leben oft erst lebenswert machen. Aber vor dem Hintergrund des Reiches Gottes, das heute, hier und jetzt unter uns Wirklichkeit wird, kommen sie erst an zweiter Stelle.
Das Reich Gottes verändert unseren Blick auf die Welt. Es bringt uns in ein Gegenüber zu ihr, es mutet uns zu, in Gegensätzen zu leben und die nicht aufzulösen, sondern auszuhalten.
Indem es das tut, stellt es uns die Welt, stellt es uns unser Leben erst zur Verfügung. Im Licht des Reiches Gottes erscheint nichts als naturgegeben und schicksalhaft, nichts als endgültig und notwendig.
Gottes Geist verändert unsere Perspektive, unseren Blick auf die Welt, auf unser Leben, auf uns und unsere Mitmenschen.
Gottes Sohn hat mit seinem Tod alles, was uns das Leben schwer macht, auf sich genommen und mit seiner Auferstehung alle Mächte besiegt, die unser Leben bedrohen.
Gott, der Vater und Schöpfer, hat die Macht, die Welt zu verändern und einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen.

V
Das Reich Gottes verändert unseren Blick auf die Welt.

Wir erleben uns als Gäste und Fremdlinge in einer Welt, in der alles irgendjemandem gehört; in der man alles kaufen kann und alles käuflich ist; in der alles nach seinem Geldwert beurteilt und gemessen wird, nicht nach seinem Wert an sich.
Als Gäste und Fremdlinge sind wir verständnisvoll gegenüber denen, die als Fremde, als Gäste unter uns sind: wir erkennen in ihnen unsere Seelenverwandten.
Als Gäste und Fremdlinge hängen wir nicht an unserem Besitz, sondern teilen ihn mit denen, die weniger oder nichts besitzen.
Als Gäste und Fremdlinge kommen wir zusammen an diesem Ort, in der Klosterkirche. Und weil wir solch einen Ort brauchen, um uns zu versammeln, weil sie schon so viele Jahrhunderte als Gotteshaus gedient hat, weil sie uns allen gehört und zugleich niemandem, darum erhalten und bewahren wir sie.
Damit die Klosterkirche auch in Zukunft ein Versammlungsort ist, offen und einladend für alle, Riddagshäuser oder nicht.
Damit auch in Zukunft das Wort Gottes in ihr erklingen und die Herzen bewegen und anrühren kann.
Damit auch in Zukunft Menschen hier Gottesdienst feiern und Gott begegnen können.

Amen.

Donnerstag, 2. Juni 2011

Wo Gott wohnt

Dialogpredigt an Christi Himmelfahrt, 2. Juni 2011
über 1.Könige 8,22-24.26-28:

Salomo trat vor den Altar des Herrn angesichts der ganzen Gemeinde Israel und breitete seine Hände aus gen Himmel und sprach: Herr, Gott Israels, es ist kein Gott weder droben im Himmel noch unten auf Erden dir gleich, der du hältst den Bund und die Barmherzigkeit deinen Knechten, die vor dir wandeln von ganzem Herzen; der du gehalten hast deinem Knecht, meinem Vater David, was du ihm zugesagt hast. Mit deinem Mund hast du es geredet, und mit deiner Hand hast du es erfüllt, wie es offenbar ist an diesem Tage. Nun, Gott Israels, lass dein Wort wahr werden, das du deinem Knecht, meinem Vater David, zugesagt hast.
Aber sollte Gott wirklich auf Erden wohnen? Siehe, der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen – wie sollte es dann dies Haus tun, das ich gebaut habe? Wende dich aber zum Gebet deines Knechts und zu seinem Flehen, Herr, mein Gott, damit du hörst das Flehen und Gebet deines Knechts heute vor dir.


Liebe Gemeinde,

I
Uli Hoeneß stirbt eines Tages alt und lebenssatt. Er hat noch etliche Male miterlebt, wie der FC Bayern München Deutscher Meister geworden ist; nun ist es genug. Mit seinem Leben zufrieden freut er sich auf den Fußball-Himmel. Und wirklich, er kommt dorthin und wird von Gott Vater persönlich empfangen.
Im Fußball-Himmel steht für jeden Verein ein prächtiges Haus - er sieht das bescheidene Haus des MSV Duisburg, wie ein Zebra gestreift; ein prächtiges schwarz-gelbes der Borussia Dortmund. Das schönste, größte und prächtigste Haus aber ist das rot-weiße des FC Bayern München. Glücklich und zufrieden schreitet Uli Hoeneß darauf zu - da entdeckt er ein noch größeres und noch prächtigeres Haus. Es ist gar kein Haus mehr, es ist ein Schloss, gelb und blau, und das Gelb ist pures Gold. Und verziert ist es mit roten Löwen. Da schwillt Uli Hoeneß die Zornesader, aber weil er im Himmel ist, hält er sich zurück und wendet sich mit leisem Vorwurf an Gott: Herr, wir sind Rekordmeister, Eintracht Braunschweig dagegen ist nur ein einziges Mal Meister geworden, und bekommt ein viel prächtigeres Haus als wir!?
Da antwortet Gott: Wieso? Das ist mein Haus!

II
Ob Gott Eintracht-Fan ist, soll uns heute nicht beschäftigen.
Sondern die Frage, wo Gott eigentlich wohnt.

Das ist doch keine Frage!, werden jetzt vielleicht einige denken.
Gott wohnt im Himmel!
So beten wir es ja auch in jedem Gottesdienst: Vater unser im Himmel.
Deshalb feiern wir heute auch Himmelfahrt:
Wir denken daran, dass Jesus zurückgekehrt ist zu Gott, seinem Vater.
Dabei ist er, so haben wir es eben gehört, in den Himmel aufgefahren.
Himmelfahrt, eben.

I
Aber wenn man so in den Himmel guckt:
Zu sehen ist da nichts.
Früher haben die Menschen sich davor gefürchtet, einen Blitz anzusehen, weil sie dachten, dann reißt für einen Augenblick der Himmel auf und man kann Gott sehen - und das ist gefährlich:
"Kein Mensch wird leben, der mich sieht", sagt Gott zu Mose.
(Exodus 33,20)
Heute haben wir zwar immer noch zu recht Angst vor Gewitter und vor Blitzen, aber man kann hineinschauen, ohne dass einem etwas passiert. Und ohne dass man etwas von Gott sieht.

II
Die Astronauten, die sich ja im Himmel befinden, oder sogar über unserem blauen Himmel, über der Erdatmosphäre, die haben auf ihren Ausflügen in den Weltraum Gott auch nicht gesehen.
Was den ersten russischen Kosmonauten Juri Gagarin zu der Bemerkung veranlasste, es gebe keinen Gott, denn er habe dort draußen keinen gesehen.
Vielleicht war das ein bisschen voreilig von ihm.
Denn nur weil wir Gott nicht sehen, muss das ja nicht heißen, dass es ihn nicht gibt.

I
Aber wir können festhalten:
So, wie wir uns sehen können, so kann man Gott jedenfalls nicht sehen.
Wenn wir also sagen, dass Gott im Himmel ist, dann meinen wir entweder, dass Gott unsichtbar ist - oder dass der Teil des Himmels, in dem Gott ist, für uns nicht sichtbar ist.

Oder wir meinen mit "Himmel", dass Gott ganz weit weg ist - so weit, wie der Himmel von der Erde entfernt ist. So heißt es ja auch im Predigttext aus dem 1. Buch der Könige:
"der Himmel und aller Himmel Himmel können dich nicht fassen".

II
Gott ist zu groß, als dass er irgendwo Platz hätte, selbst im Himmel nicht - und dabei geht es nicht um die Körpergröße: Gott, der die Welt geschaffen hat, ist nicht ein Teil der Welt - weder ein Teil des Himmels noch ein Teil der Erde. Die Welt ist Schüpfung, Gott ist der Schöpfer, er steht seiner Schöpfung gegenüber, er ist anders, er geht über sie hinaus, und ist in diesem Sinne größer als sie.
Darum kann man Gott auch nicht fassen, man kann ihn nicht festhalten, ihn auf einen Ort festlegen. Gott ist da, und weil Gott so groß ist, ist er viel wirklicher da als Sie oder ich - aber eben anders "da".
So, dass wir nicht sagen können: Hier ist er - oder hier - oder hier.

I
Und trotzdem weisen wir Gott einen Ort zu:
Wir nennen die Kirche das "Haus Gottes".
Und in diesem Haus Gottes, in der Kirche, ist der Altar der Ort, auf den hin man sich ausrichtet, zu dem hin man spricht, an dem man Gott gegenübersteht.
Der Altar war im Tempel der Ort, wo man mit Gott kommunizierte.

Kommunizieren - das Wort stammt aus dem Lateinischen.
communico heißt "teilen, mitteilen, teilnehmen lassen".
Auf dem Altar wurden früher Tiere geopfert: Menschen teilten symbolisch ihr Essen mit Gott.
Heute teilen wir am Altar das Brot miteinander in Erinnerung an das Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hat.

II
Wenn wir Abendmahl feiern, sprechen wir die Einsetzungsworte
und sagen über dem Brot: "Das ist mein Leib".
Das Brot wird für uns beim Abendmahl zum Leib Christi.
Gott ist uns im Abendmahl ganz nahe - so sehr, dass wir ihn sogar in uns aufnehmen, wenn wir das Abendmahlsbrot essen.

Gott ist in Jesus Mensch geworden, um uns ganz nah sein zu können.
Er hat unser Leben geteilt, er hat unter uns gewohnt.
Der Schöpfer, der seiner Schöpfung gegenüberstand, hat sich mitten in sie hineinbegeben, ist wie einer von uns geworden.

I
Aber obwohl Gott in Jesus Mensch geworden und in Bethlehem auf die Welt gekommen ist, gibt es keinen Ort, an dem er besonders wäre. Zwar gibt es in Bethlehem die Geburts- und in Jerusalem die Grabeskirche, aber das sind nur Erinnerungsorte an einen, der da war.

Jesus selbst hat von sich gesagt:
"Die Füchse haben Höhlen und die Vögel unter dem Himmel haben Nester, aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege."
(Matthäus 8,20)
Jesus hatte keinen festen Wohnsitz, keinen Ort, an dem er länger geblieben wäre. Er war mal hier und mal da. Lud sich bei Fremden zum Essen ein, vorzugsweise bei solchen, die von der Gesellschaft ausgestoßen waren.

II
Wo ist denn nun Gott?
Wir sagen: Er ist im Himmel.
Aber finden können wir ihn dort nicht.
Und gleichzeitig umgibt uns Gott von allen Seiten
und hält seine Hand über uns, wie es im 139. Psalm heißt.

Er wurde Mensch in seinem Sohn Jesus Christus.
Aber der ist wieder zurückgekehrt in den Himmel zu seinem Vater.
Und gleichzeitig ist er beim Abendmahl unter uns,
so nah, dass wir ihn in uns aufnehmen können.

Es ist ein Zeichen der Freiheit Gottes,
dass wir niemals sagen können: Hier ist er. Und da ist er nicht.
Gott lässt sich von niemandem auf einen Ort festlegen.
Auch von uns nicht.

Und es ist ein Zeichen der Liebe Gottes,
dass er immer da ist, uns umgibt, wie die Luft zum Atmen.

I
Gott ist im Himmel - und Gott ist da.
Wie geht das zusammen?
Erinnern Sie sich noch an den Anfang des Predigttextes?
"Salomo trat vor den Altar des Herrn angesichts der ganzen Gemeinde Israel und breitete seine Hände aus gen Himmel und sprach: Herr, Gott Israels ..."
Salomo betet.
Dazu braucht er keine Telefon- oder Internetverbindung.
Dazu braucht er keine Hilfsmittel wie Kabel, Telefone oder Computer.
Er stellt sich hin und spricht.
Und hat sofort eine Verbindung.

II
Gott ist im Himmel.
Man kann umgekehrt auch sagen:
Wo Gott ist, da ist der Himmel.
Jesus hat davon gesprochen, dass das Reich Gottes nahe herbeigekommen ist. Tatsächlich, so ist es:
Wo Gott ist, da kommt uns der Himmel ganz nah.

Wenn wir beten, wenn wir Abendmahl feiern,
stellt Gott eine Verbindung her zwischen Himmel und Erde.
Dann wird Gottes Größe, Gottes Schöpfermacht für einen Moment Wirklichkeit unter uns.
Das kann dazu führen, dass Probleme eine Lösung finden.
Dass verfestige Meinungen und Haltungen sich verflüssigen.
Dass ideenlose Köpfe mit Phantasie gefüllt werden
und kalte Herzen sich erwärmen.

I
Gott ist im Himmel.
Jesus ist nicht mehr da. Er ist zurückgekehrt zu seinem Vater.
Wir sind allein.
Aber wir können beten:
Und wenn wir beten,
dann kann der Himmel die Erde berühren
und Gott ist uns ganz nah.
Das kann uns, das kann die Welt verändern.

Amen.