Samstag, 29. Mai 2021

neue Geburt

Predigt am Sonntag Trinitatis, 30.6.2021, über Johannes 3,1-13

„Wer die Notwendigkeit der Wiedergeburt nicht einsieht,
der versteht auch nicht, dass sie durch Jesus möglich geworden ist.” 

(Rudolf Bultmann, Das Johannesevangelium, KEK, 106f)


Eine Nachtgeschichte wird erzählt – keine Gutenachtgeschichte –, und wir hören sie am hellichten Tag. Sie ist eine Nachtgeschichte, weil sie dunkel ist, rätselhaft und geheimnisvoll. Vom Wind ist die Rede, der bläst, wohin er will. Und vom Missverständnis über das neu geboren Werden, als könne man in den Bauch der Mutter zurück krabbeln. Neu geboren werden – was soll das bedeuten? „Ich fühle mich wie neu geboren”, das mag jemand sagen, der sich mal richtig ausschlafen konnte, oder die nach einem anstrengenden Tag aus der Dusche kommt. Man hört auch von Menschen, die ein neues Leben beginnen wollen. Vielleicht haben wir selbst mit dem Gedanken gespielt, noch einmal neu anzufangen mit dem Leben, mit der Liebe oder mit dem Glauben. Vielleicht haben wir es sogar getan. Beides ist hier nicht gemeint, weder dieses belebende Gefühl, noch der Neustart im Leben. Es geht beim neu geboren Werden nicht darum, sein Leben zu ändern. Es geht viel grundsätzlicher um die Frage, wie man zu Gott kommt, wie man Gottes Reich zu sehen bekommt.

Gottes Reich, Gottes Friede, der alle Vernunft weit übersteigt: Wer damit in Berührung, wer in seine Nähe kommt, erlebt sein blaues Wunder, meint Nikodemus. Aber Gottes Reich macht sich nicht durch Zeichen und Wunder bemerkbar. Jedenfalls nicht durch solche Zeichen und Wunder, die eine*n zum Staunen bringen, sodass man unter dem Eindruck dessen, was man da gerade erlebt hat, dem Wundertäter glaubt. Auf diese Weise sind unzählige Menschen verführt worden, die auf der Suche nach dem Wunder, im Glauben an ein Zeichen vom Himmel, selbst ernannten Messiassen, Führern und Predigern hinterhergelaufen sind. Jesus blockiert diesen Weg: Zu Gott, in Gottes Reich gelangt man nicht durch den Glauben an Wunder, sondern nur durch eine neue Geburt. Und damit ist gleich ein Zweites ausgeschlossen: Man kann das nicht selbst tun. Eine Geburt erleidet man, man wird geboren. Auch die neue Geburt im Glauben wird erlitten, nicht selbst gemacht. Man kann sein Leben ändern, man kann den Glauben finden oder verlieren, aber im Glauben neu gebären kann man sich nicht selbst. Fleisch ist Fleisch und Geist ist Geist. Von Gottes Welt zu unserer führt kein Weg, den wir beschreiten, da ist keine Tür, die wir öffnen könnten. Jeder Versuch, es zu tun, wirft uns nur auf uns selbst zurück. Wir gelangen nicht zu Gott, sondern bleiben in uns selbst gefangen. Man dreht sich nur im Kreis, wenn man meint, sich nach dem Himmel auszustrecken.

Darum ist es nötig, dass wir erst einmal begreifen und für uns selbst annehmen: Wir kommen Gott aus eigener Anstrengung keinen Schritt näher. Wir können uns, unser Leben ändern, so oft und so viel wir wollen, wir können gute oder bessere Menschen sein, das alles hilft uns gar nichts. Der einzige Weg zu Gott ist eine neue Geburt aus Wasser und Geist – mit anderen Worten: Die Taufe. So unscheinbar die Taufe ist, sie ist das Wunder, das uns zu neuen Menschen macht.

Aber natürlich ist nicht die Taufe das Wunder, als gäbe es eine Möglichkeit, Wasser zu weihen oder zu verzaubern, sodass wir dadurch neu geboren werden. Das wäre wieder nur der Versuch, sich selbst neu zu machen. Die Taufe ist vielmehr der Weg, wie wir zu Jesus kommen. Wir kommen zu Jesus nicht durch eine Entscheidung, die wir an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde trafen. Wir kommen zu Jesus auch nicht durch Überzeugung oder durch ein Ergriffensein. Sondern weil Gott uns durch seinen Geist, den er uns in der Taufe schenkt, fähig macht, zu glauben, dass Jesus Gottes Sohn ist, Jesus, der Weg, die Wahrheit und das Leben.

So wird Jesus die Tür, durch die wir zu Gott gelangen. Eine Tür, die nicht wir gefunden und aufgeschlossen haben. Gott hat sie uns finden lassen, und Gott hat sie uns geöffnet. 

Heute feiern wir Trinitatis, wir feiern das Geheimnis der Dreieinigkeit Gottes. Dem Geheimnis, dass wir neu geboren werden müssen, um zu Gott zu gelangen, entspricht das Geheimnis, dass Gott uns auf dreifache Weise begegnet:

Gott begegnet uns als der, dessen Reich nicht von dieser Welt ist,
und das doch unsere Welt berührt und von Gott her verwandelt.

Gott begegnet uns in Jesus Christus, der uns den Weg in Gottes Welt eröffnet hat
und der die Tür ist, durch die wir zu Gott gelangen.

Und Gott begegnet uns im Heiligen Geist, der uns verwandelt zu neuen Menschen,
die fähig sind zum Glauben, zur Hoffnung und zur Liebe.

Sonntag, 16. Mai 2021

Durst

Predigt für den Sonntag Exaudi, 16. Mai 2021, über Johannes 7,37

„Wer dürstet, der komme zu mir und trinke!”

Durst – eins der unangenehmen Gefühle, das jeder Mensch kennt. Zugleich gibt es kaum etwas schöneres als den ersten Schluck, mit dem man seinen Durst löscht. Das tut so gut, das erfrischt und belebt!
Wenn man längere Zeit etwas entbehren muss, spricht man von einer „Durststrecke”. Auf einer Durststrecke befinden wir uns seit gut einem Jahr. Uns allen fehlen die ungezwungenen Begegnungen, die Feiern im Familien- und Freundeskreis, das Reisen. Manche vermissen auch die Tuchfühlung zum Mitmenschen, den Händedruck oder die Umarmung zur Begrüßung und zum Abschied. Auch das ist ein Durst, der uns fast ebenso quält wie der Durst nach Wasser. Und wenn er endlich gestillt wird, ist das genauso schön wie der erste Schluck für die trockene Kehle.

Wir kennen den körperlichen Durst nach Wasser.
Wir kennen den Durst nach Nähe, nach Begegnungen, die auch körperlich spürbar sind.
Und wir kennen den Durst, der eher geistiger Art ist, aber nur körperlich gestillt werden kann: Das Gesehenwerden.
Das erste, was ein Neugeborenes sucht, wenn es Wärme, Nahrung und Geborgenheit gefunden hat, ist der Blick der Mutter. Das Leuchten ihrer Augen macht das Kind glücklich. Und Mütter, Väter – alle, die ein kleines Baby ansehen, können nicht anders, als es liebevoll anzustrahlen; sie erhalten ein Lächeln als Belohnung zurück. Von unseren ersten Anfängen an suchen wir das Leuchten in den Augen anderer – zuerst unserer Eltern. Später unserer Erzieherinnen und Lehrerinnen, unserer Freunde und Freundinnen, unserer Liebsten. Wir möchten gesehen werden, in einem umfassenden Sinn: Wir suchen Anerkennung, Respekt, Wohlwollen, Liebe. Deshalb wünscht man sich z.B. die Tageszeit, um einer anderen, einem anderen zu zeigen: Ich habe dich gesehen. Wenn Sie sich selbst einmal beobachten, werden Sie feststellen, dass Sie sich ein wenig beschenkt fühlen, wenn Ihnen jemand einen „guten Tag” gewünscht und Sie dabei freundlich angesehen hat.

Diesen Durst nach dem Gesehenwerden meint Jesus, wenn er sagt: „Wer dürstet, der komme zu mir und trinke!” Auf den Durststrecken unseres Lebens ist Jesus der Brunnen, bei dem wir unseren Durst nach Gesehenwerden stillen können. Darum haben wir am Donnerstag das Fest der Himmelfahrt gefeiert. Jesus könnte nicht für uns alle da sein, er könnte uns nicht alle sehen, wenn er leibhaftig vor uns stünde. Dann hätten nur Wenige etwas von seiner Gegenwart. „Im Himmel” ist Jesus für uns alle gegenwärtig, da sieht er uns alle, sieht jede und jeden von uns mit leuchtenden Augen an.

Aber wie soll man wissen, dass Jesus uns ansieht? Wir können sein Gesicht nicht sehen. Wir bemerken es nicht, dass wir von ihm gesehen werden, wie man manchmal den Blick eines anderen Menschen auf sich spürt.
Darum gibt uns Jesus seinen Geist, den Tröster. Sein Geist überzeugt uns davon, dass wir von Gott gesehen werden. Beharrlich drängt er uns dazu, zu glauben, was wir nicht sehen können: das leuchtende Angesicht Gottes. Drängt uns, bis unsere Augen zu leuchten beginnen und auch unser Angesicht strahlt für die Menschen, die uns begegnen, und für die Menschen, die wir lieben.

Wo der Himmel ist

Predigt an Christi Himmelfahrt, 13.5.2021, über Epheser 1,22f:

Alles hat Gott ihm zu Füßen gelegt, und ihn zum Haupt über die ganze Gemeinde gemacht.
Sie ist sein Leib. Sie ist die ganze Fülle dessen, der alles in allem erfüllt: Christus.

An Christi Himmelfahrt schauen wir in den Himmel – fragend, ob das Wetter hält, wenn wir draußen Gottesdienst feiern. Und irgendwie auch erfüllt von einer gewissen feierlichen Stimmung: Christus ist jetzt im Himmel, „sitzend zur Rechten Gottes”.
Versucht man aber, sich das vorzustellen, kippt die ernste Feierlichkeit unweigerlich ins Komische: Jesus, wie er auf einer Wolke sitzt und mit den Beinen baumelt – sollte das mit „Gott hat ihm alles zu Füßen gelegt” gemeint sein? Dass Jesus hoch über uns sitzt und auf uns herabsieht, wie wir, klein wie Ameisen aus dieser Perspektive, hier herumwimmeln? Man könnte den Kopf schütteln über einen so einfältigen Gedanken. Der Himmel Gottes ist doch nicht der Himmel über unseren Köpfen! Das haben uns sowohl Kosmo- wie Astronauten bestätigt.

Weißt du, wo der Himmel ist? Hilft es, auf der Suche nach Gottes Himmel an himmlische Momente zu denken, himmlische Genüsse? Ist Gottes Himmel da, wo wir im Genießen ganz bei uns sind, wo wir vergehen vor Wonne und Seligkeit? Ist Gottes Himmel in uns?
Manche Menschen haben ein so großes Selbstbewusstsein, dass ein Himmel es nicht auszufüllen vermöchte. Aber die meistens von uns würden wohl bei dem Gedanken erschrecken, einen ganzen Himmel in sich bergen zu müssen, mit allen Engeln und Gottes Thron.
In einer Science-Fiction-Komödie, dem Film „Men in Black”, spielt ein Anhänger am Halsband einer Katze eine wichtige Rolle, der eine ganze Galaxie beherbergt. Vielleicht ist Größe relativ, und ein Himmel kann in einer Nussschale Platz finden. Jedenfalls ist schon ein winziges Samenkorn ein Kosmos für sich, das uns überrascht und verzaubert, wenn es keimt und sich zu einer Pflanze oder gar einem Baum entwickelt, der uns schon bald über den Kopf wächst.

Weißt du, wo der Himmel ist? Der Predigttext weist uns an, statt nach oben zu schauen, uns untereinander umzusehen, in der Gemeinde. Die Gemeinde ist der „Leib Christi”. Daraus kann man folgern, dass der Himmel, in den Christus aufgefahren ist, die Gemeinde ist. Die Gemeinde – der Himmel?
Es gibt Momente, da machen Menschen einander das Leben zur Hölle. Und manchmal können Menschen die Hölle sein: Wenn sie lautstark eine Party feiern, während man für eine Prüfung lernt, oder den Rasen mähen, während man sich im Garten unterhalten will. Wenn sie andere Menschen beschimpfen oder bedrohen, weil sie die falsche Hautfarbe, die falsche Herkunft oder die falsche Meinung haben.
Aber so, wie Menschen die Hölle sind, können sie auch der Himmel sein. Nicht umsonst sagen wir, wenn uns eine überraschende Freude bereitet wird: Du Engel! Wir haben Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft erlebt, wo wir sie nicht erwarteten oder nicht darauf zu hoffen wagten. Wir waren selbst Engel für andere, haben geholfen oder ihnen ein Lächeln geschenkt.
Aber nicht deshalb ist die Gemeinde der Himmel, weil hier so viele gute, freundliche, hilfsbereite Menschen zusammenkommen. Sie wäre auch der Himmel, wenn wir es nicht wären. Und sie ist der Himmel, auch wenn wir nicht jede und jeden mögen, nicht mit allen gut können. Sie ist der Himmel, gerade weil wir so unterschiedlich und vielfältig sind: eine Fülle an Lebensentwürfen und Meinungen, an Geschichten und Ideen, an Schicksalen und Erfahrungen. Die Gemeinde „ ist die ganze Fülle dessen, der alles in allem erfüllt: Christus”. In dieser Fülle der Gemeinde ist Christus gegenwärtig, der nicht eine einzige Hautfarbe, ein einziges Geschlecht, eine einzige Meinung, eine einzige Art zu glauben, zu leben und zu lieben erwählt hat, sondern in der Fülle erfahren und gefunden werden will.

Weißt du, wo der Himmel ist? Der Himmel ist hier, mitten unter uns, die wir einander manchmal die Hölle auf Erden bereiten. Unter uns ist die himmlische Fülle, ist Christus gegenwärtig.

Samstag, 8. Mai 2021

Dreimal Daniel 9,18

Predigt für den Sonntag Rogate, 9.5.2021, über Daniel 9,18:

Wir liegen vor dir mit unserem Gebet
und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit,
sondern auf deine große Barmherzigkeit.


A

Manche tun es selten oder nie, manche dreimal täglich.
Manche gehen dafür in ihr Schlafzimmer, manche tun es öffentlich, mitten auf der Straße.
Manche tun es leise, und manche laut.
Manche kennen verschiedene Arten, es zu tun, manche fragen sich immer noch, wie es geht,
das Beten.

Beten ist in mehrfacher Hinsicht eine schwierige Angelegenheit.
Es ist ein persönliches Gespräch mit Gott, dabei schüttet man zuweilen sein Herz aus.
Über etwas so Intimes spricht man nicht mit anderen.
Wie ich bete und was ich bete, wissen nur Gott und ich.

Schwierig ist es mit dem Beten auch, weil man nicht so genau weiß, wie’s geht.
Natürlich kann man in der Kirche die Pastorin und die Gemeinde beten sehen.
Aber die lesen das Gebet vor, oder wissen ganz genau, was sie sagen wollen.
Wenn man Gott allein gegenübersteht, fehlen einem oft die Worte.

Und dann ist da schließlich die Frage,
was man beten soll, und was man beten darf.
Und ob das Beten überhaupt etwas bewirkt.
Denn so viel ist sicher:
Was man im Gebet erbittet, geht nicht automatisch in Erfüllung – im Gegenteil.
Es ist eher so, dass man sich fragt, ob Gott überhaupt mit sich reden lässt.
Und wenn ja, worauf kommt es dann an, wenn man Gehör finden will?
Ist es eine Frage des Glaubens, der Frömmigkeit?
Erhört Gott nur die, die regelmäßig zur Kirche gehen?

Manchmal ist Gott der einzige, der noch helfen kann.
Dann greift man zum Gebet wie zu einem Rettungsring.
Und gerade, wenn man sich so verzweifelt ans Gebet klammert,
wird die Bitte nicht erfüllt. Ein Dilemma.

Es gibt verschiedene Versuche, dieses Dilemma zu lösen.
Die einen sagen, das Beten sei nicht dazu da, dass Gott unsere Wünsche erfüllt,
sondern damit wir uns über unsere Wünsche und Ziele - und über unsere Grenzen Klarheit gewinnen.

Andere verweisen auf das Vaterunser, in dem es heißt:
„Dein Wille geschehe”, und sagen,
beten könne nur heißen, nach Gottes Willen zu fragen
und sich seinem Willen zu unterwerfen.

Vielleicht gibt es aber keine Lösung für dieses Dilemma des Betens.
Vielleicht muss man irgendwie mit der Tatsache zurechtkommen,
dass man Gott nicht zum Eingreifen bewegen kann, auch nicht im Gebet.

Aber vielleicht kommen wir doch aus dem Dilemma heraus -
oder zumindest besser damit zurecht -,
wenn wir uns vorstellen, wie wir mit einer oder einem reden,
den wir mögen und dem wir wirklich zuhören möchten.

Wir werden dann nicht nur selber reden,
und wir werden uns gut überlegen, was wir dem anderen, der anderen sagen.

Gott ist wie ein solcher Mensch, mit dem wir uns gern unterhalten.
Wie unser Verhältnis zu Gott auch gerade sein mag -
ob wir uns Gott nahe und eng verbunden fühlen, oder eher fern,
ob wir Dankbarkeit empfinden, oder Enttäuschung oder gar Wut über unser Schicksal -
Gott jedenfalls liegt viel, liegt alles an uns.
Gott mag uns nicht nur, Gott liebt uns.
Und Gott hört uns zu, sogar dann, wenn wir nur meckern oder jammern können,
wenn wir uns wiederholen oder nicht wissen, was wir sagen sollen.


B

Ein Gebet kann vieles sein:
Man kann darin sein Herz ausschütten, eine Last von der Seele oder vom Gewissen ablegen.
Man kann darin auf Gott hören, eine besondere Beziehung und Nähe zu Gott erfahren.
Aber am häufigsten wird wohl gebetet,
um ein Anliegen, eine Bitte an Gott zu äußern.

Aber wozu tut man das?
Wir wissen doch, dass Gott sich nicht überreden lässt.
Wir machen die Erfahrung, dass unsere Bitten in aller Regel nicht erfüllt werden.
Jedenfalls nicht so, wie es im Evangelium beschrieben wird,
dass die Bitte um Brot umgehend mit der Gabe des Brotes beantwortet wird.

Wenn wir trotzdem im Gebet um etwas bitten, was wollen wir damit erreichen?
Warten wir auf ein Wunder?
Oder ist es eher ein prophylaktisches Bitten,
wie man etwa homöopathische Kügelchen einnimmt,
nach dem Motto: Kann nicht schaden, hilft aber vielleicht?

Jedenfalls kann man beobachten, dass unsere Bitten im Gottesdienst sehr allgemeinen bleiben:
„Wir bitten um Frieden.”
„Wir bitten um ein Ende von Hass und Gewalt.”
„Wir bitten für die Einheit der Kirche.”
Ist das ein Zeichen von Realismus, dass wir von Gott kein Eingreifen, kein Wunder erwarten?
Oder spricht daraus die Erkenntnis, dass man nicht mehr von uns erwarten kann?
Denn wir sind es doch, die den Frieden, das Ende von Hass und Gewalt
oder die Einheit der Kirche herstellen oder wenigstens etwas dafür tun müssten.

Wenn wir überlegen, was wir bitten, wenn es uns sehr ernst damit ist,
fallen uns leidvolle, verzweifelte Situationen ein,
die wir selbst erlitten haben, oder die wir miterleben mussten.
In solchen Situationen bitten wir Gott um sein Mitleid, sein Erbarmen.
Wir bitten darum, dass er uns oder den Menschen, der leidet,
von diesem Leid befreit und erlöst -
obwohl wir wissen, dass Rettung, dass Heilung so nicht funktioniert.
Wir hoffen auf ein Wunder, wenn es sonst keine Hoffnung mehr gibt.
Aber wir wissen auch, dass wir vergebens hoffen.
Dennoch bitten wir Gott um seinen Beistand:
Wir wollen, dass Gott bei uns ist.
Wir wollen das nicht allein ertragen müssen.

In diesem Moment sind wir sicher, dass Gott versteht, wie es uns geht.
Dass wir ihm nichts erklären müssen,
und dass wir auch nichts sagen müssen, wenn uns die Worte fehlen.

Wenn wir beten, bitten wir also in Wirklichkeit Gott um seine Barmherzigkeit, sein Mitgefühl.
Und genau das bewirkt das Gebet:
Es lässt uns spüren, dass Gott mit uns leidet, mit uns fühlt.
Dazu ist kein inniges Gefühl nötig, kein brennender Glauben,
sondern dass man sich an das Gebet klammert wie an einen Rettungsring
und darauf vertraut, dass Gott da ist.

Und Gott ist da.

Wenn wir beten, bitten wir im Grunde um Barmherzigkeit.
Im Gebet finden wir Verständnis, finden wir Mitgefühl.
Im Gebet finden wir uns angenommen so, wie wir sind,
finden uns angenommen, obwohl wir so sind, wie wir sind.

Dabei bleibt das Gebet aber nicht stehen,
obwohl wir gern stehen bleiben würden,
wenn wir Trost oder Vergebung erfahren haben.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist” (Lukas 6,36), lautet die Jahreslosung.
Wenn wir zu Gott beten, erfahren wir nicht nur den Zuspruch,
sondern auch den Anspruch Gottes.
Den Anspruch, die Barmherzigkeit, die er uns schenkt, auch anderen zu erweisen.
Nicht, weil wir ihm das schuldig wären.
Gott schenkt uns seine Barmherzigkeit gratis, sola gratia,
ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.
Der Anspruch, dass auch wir barmherzig sein sollen, besteht vielmehr,
weil Zuspruch und Anspruch der Barmherzigkeit zwei Seiten einer Medaille sind.

Denn wie soll man Barmherzigkeit erfahren können, ja, überhaupt erfahren wollen,
wenn man unbarmherzig ist?
Wie soll man da Zuspruch brauchen, suchen und annehmen können?

Wer um Vergebung bitten kann, kann auch vergeben.
Wer Liebe empfinden kann, kann auch lieben.
Wer Barmherzigkeit sucht, wird auch barmherzig sein.


C

Womit habe ich das verdient? Diese Frage ist niemandem fremd.
Man stellt sie, wenn einem das Leben mal wieder Zitronen gegeben hat.
Denkt man über diese Frage genauer nach,
stellt man fest, dass sie von sehr speziellen Voraussetzungen ausgeht, nämlich vom Verdienst.
Der Verdienst ist der Lohn, der uns für eine Leistung zusteht.
Dahinter steht der - uns selbstverständliche - Gedanke,
dass jede Leistung einen Wert hat oder haben sollte. Nicht nur bei bezahlter Arbeit.
Wer z.B. jemandem hilft, erwartet eine Gegenleistung.
Nicht unbedingt sofort, aber irgendwann sollte der andere sich revanchieren.
Und wer ein guter Mensch ist, wer sich ordentlich und anständig verhält,
dem sollte es auch gut gehen, findet man.

Wer also fragt: Womit habe ich das verdient?, fragt sich damit: Was habe ich falsch gemacht?
Und gleichzeitig ist diese Frage ein Ausruf: Ich habe doch nichts falsch gemacht!
Warum werde ich dann krank, warum habe ich Pech,
wo ich mich doch immer so bemüht habe, ein guter Mensch zu sein?

Die Antwort auf diese Frage lautet: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Gerechtigkeit ist keine Währung, die man ansparen könnte,
um sich davon im Notfall von Krankheit oder Leid freizukaufen.
Wenn das so wäre, könnten wir uns vor lauter Gutmenschen nicht mehr retten.
Jeder gebrechliche ältere Herr wäre schon vor dem Frühstück
dreimal über die Straße und zurück geführt worden,
und alle Pfadfinder wären mit einem Schlag arbeitslos.

Man kann sich Glück oder Gesundheit weder erarbeiten noch verdienen.
Eine Binsenweisheit – wir versuchen es trotzdem.
Und glauben auch, dass jemand Leid oder Krankheit – nein, nicht unbedingt verdient hat,
aber doch mit Schuld daran ist.
Aber auch das ist falsch, und eigentlich wissen wir das auch.
Zwar kann man so leben, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, zu erkranken -
wenn man zum Beispiel ein starker Raucher ist.
Aber eine Garantie, krank zu werden, ist es nicht.
Selbst ein Mensch, der so böse ist, dass ihm jeder nur das Schlimmste wünscht,
wird trotzdem nicht eher oder häufiger krank als ein guter.
Die Psalmen vertreten sogar die Auffassung, dass es den Gottlosen generell gut geht,
während die, die sich um Gerechtigkeit bemühen, leiden müssen.

Meine Gerechtigkeit hilft mir nicht zu einem guten Leben
oder dazu, dass Gott mich besser behandelt als andere.
Und zugleich habe ich natürlich nicht „verdient”, dass es mir schlecht geht.
Niemand hat das „verdient”.
Wenn man überhaupt sagen will, dass jemand etwas „verdient”,
dann muss man sagen, dass alle Menschen Glück, Gesundheit, ein gutes Leben und Liebe verdienen.
Aber nicht alle Menschen erleben, was doch alle verdienen.
Weil Wohlstand, Bildung und Ressourcen ungleich verteilt sind -
und damit die Bedingungen für Gesundheit und ein gutes Leben.

So warten die Menschen im ärmeren Süden der Welt dringend
nicht nur auf Impfstoff gegen das Corona-Virus,
sondern auch auf Sauerstoff für ihre schwer Erkrankten -
während wir uns darüber ärgern,
wie lange wir auf einen Impftermin warten müssen.

Darum ist Gott parteiisch und stellt sich an die Seite der Flüchtlinge,
an die Seite der Armen, der Witwen und Waisen.
Denn diese Menschen machen gerade Schweres durch;
das Glück liegt für sie in weiter Ferne.
Deshalb ist Gott an ihrer Seite – wie er an unserer Seite ist,
wenn uns das Leben mal wieder Zitronen gegeben hat.

Niemand hat Unglück verdient,
wie sich niemand sein Glück verdienen kann.
Was wir aber tun können, ist, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass alle Glück erleben können,
indem wir abgeben und verzichten, um Wohlstand und Ressourcen gerecht zu verteilen.
Ob das Glück dann tatsächlich zu diesen Menschen kommt, haben wir nicht in der Hand.
Aber wenigstens sind wir ihm nicht im Weg gestanden.

Samstag, 1. Mai 2021

gebrauchter Tag und guter Tag

Predigt am Sonntag Kantate, 2. Mai 2021, über Lukas 19,37-40

„Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!”

Wenn man sich auf der Straße begegnet, wünscht man sich einen „guten Tag” oder sagt „Moin!”, was dasselbe bedeutet – „moi” ist Plattdeutsch und heißt „gut”. Manche, die mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden sind, oder die meinen, man hätte ihnen mal wieder einen gebrauchten Tag angedreht, ärgern sich über diesen Gruß: Das sei doch bloß eine Floskel! Das sei nur so dahergesagt und nicht wirklich so gemeint.

Auch in der Geschichte, in der Lukas den Einzug Jesu in Jerusalem schildert, kommt eine Floskel vor: „Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!” - Ja, wo denn sonst?, möchte man fragen. Zwar zeigen Science-Fiction-Filme wie „Star Wars”, dass es auch im Himmel Kriege geben könnte, wenn einmal verschiedene Zivilisationen aufeinandertreffen sollten. Aber in Gottes Himmel, um den es hier geht, herrscht Friede.

Wozu dann diese Floskel? Warum wird ausgesprochen, was doch selbstverständlich ist? Hört man diesen Satz: „Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!”, wird man an einen ganz ähnlichen erinnert, der auch im Lukasevangelium steht: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens” (Lukas 2,14). Dieser Satz aus der Weihnachtsgeschichte ist keine Floskel, sondern ein Wunsch: Dass Friede auf Erden sei. Und tatsächlich ist mit dem Christus-Menschenkind Frieden in die Welt gekommen. Doch die Welt war damals, zur Zeit Jesu, nicht im Frieden, und sie ist es bis heute nicht. Zwar herrscht in unserem Land kein Krieg. Doch Ungleichheit und Hass spalten unsere Gesellschaft; es gibt Spannungen und Ausbrüche von Gewalt, die einem Angst machen können. In vielen anderen Ländern herrscht Krieg, vor dem Menschen auch zu uns fliehen in der Hoffnung, bei uns in Frieden leben zu können. Auch hier stoßen sie auf Ablehnung, Hass und Gewalt.

Die Geburt des Christus-Menschenkindes brachte der Welt Frieden. Nicht als ein Wunder, durch das alles gut wurde. Sondern als eine Aufgabe an uns, im Auftrag und im Namen Jesu Friedensstifter zu werden und für Frieden in unserer Welt einzutreten.

Wenn wir uns einen guten Morgen wünschen, mag das oft nur so dahingesagt sein, ohne dass wir uns etwas dabei denken. Aber indem wir diese Worte aussprechen, wünschen wir dem, der mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden ist, oder der, die sich schon lange fragt, wann sie endlich wieder einen guten Tag erleben wird, dass heute ein guter Tag sein möge. Wenn wir diesen Wunsch aussprechen, übernehmen wir Verantwortung dafür, dass er Wirklichkeit wird. Wir erklären uns bereit, unseren Teil dazu beizutragen. Außerdem: Wenn man einen guten Tag wünscht, tut dieser Wunsch gut – das hilft vielleicht schon, dass der Tag ein bisschen besser wird.

„Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!” Der Friede im Himmel spornt uns an, uns für den Frieden auf Erden einzusetzen und Friedensstifter zu werden. Und, wenn man’s recht bedenkt, gehört beides zusammen: Wer anderen Gutes wünschen und Gutes gönnen kann, hat schon einen Schritt zum Frieden getan!