Samstag, 29. August 2020

jede ein Tempel

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 30.8.2020,
über 1.Korinther 3,9-17:

 
Wir sind Gottes Mitarbeiter,
ihr seid Gottes Ackerland,
Gottes Gebäude.
Durch Gottes Gnade, die mir zuteil wurde,
habe ich als erfahrener Baumeister das Fundament gelegt,
doch ein anderer baut darauf auf.
Jeder aber soll zusehen, wie er darauf aufbaut.
Denn niemand kann ein anderes Fundament legen als das, was gelegt ist,
das ist Jesus Christus.
Wenn aber jemand auf dem Fundament aufbaut
mit Gold, Silber, Edelsteinen, Holz, Stroh oder Schilf,
wird eines jeden Werk sichtbar werden,
denn der Jüngste Tag wird es offenbaren,
weil es durchs Feuer aufgedeckt wird.
Und wie eines jeden Werk beschaffen ist,
wird das Feuer erweisen.
Wenn jemandes Werk, das er aufgebaut hat, bleibt,
wird er Lohn empfangen.
Wenn jemandes Werk verbrennt,
wird er Schaden nehmen,
er wird aber gerettet werden,
doch wie durchs Feuer hindurch.
Wisst ihr nicht, dass ihr der Tempel Gottes seid
und der Geist Gottes in euch wohnt?
Wenn jemand den Tempel Gottes zerstört,
wird Gott ihn vernichtend strafen.
Denn der Tempel Gottes ist heilig:
der seid ihr.
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
„eigener Herd ist Goldes wert”,
sagt ein Sprichtwort.
Und es stimmt:
Wohl jede und jeder strebt danach,
wenn irgend möglich im eigenen Haus zu leben.
Entweder in dem, das man von den Eltern geerbt hat,
oder in dem, das man sich selbst gebaut
oder das man gekauft hat.
 
Der wichtigste Grund für das Streben nach einem Eigenheim ist wohl,
dass man darin sein eigener Herr ist.
Man kann es so gestalten und einrichten,
wie es einem gefällt.
Und man tut es auch.
Unsere Wohnung und ihre Einrichtung
sind wie eine zweite Haut:
Sie zeigen, wer wir sind
und als wer wir erscheinen wollen,
wie viel wir verdienen,
was uns wichtig ist
und was uns gefällt.
 
Kein Wunder, dass Paulus das Haus als Beispiel
für ein christliches Leben wählt.
Das Leben als Christin, als Christ ist wie ein Haus:
Wie man sein Leben führt und gestaltet, zeigt,
was einem wichtig ist.
 
Doch beim Hausbau wie beim Leben
kommt es nicht zuerst auf die Tapete an.
Es kommt auf das Fundament an.
Soll ein Haus ein Leben lang halten,
soll es Blitz und Donner, Sturm und Hochwasser standhalten,
muss es fest gegründet sein.
So ist es auch mit dem Leben.
 
Das Fundament, auf dem ein christliches Leben ruht,
ist nicht die Meinung irgendeines Pastors,
nicht der Brauch der Altvorderen
und auch keine religiöse Bewegung oder Modeerscheinung.
Es ist Christus selbst.
Darum war es Martin Luther und den anderen Reformatoren so wichtig,  
die Bibel ins Deutsche zu übersetzen.
Jede Christin, jeder Christ sollte in der Lage sein,
die Arbeit ihres religiösen Baumeisters
zu überprüfen und zu hinterfragen,
damit der Glaube auf einer festen, verlässlichen Basis aufsetzt.
 
Auf diesem Fundament errichtet man sein Lebensgebäude.
Ob es aus Gold und Silber oder aus Stroh und Schilf besteht,
ist dabei keine Frage des Vermögens oder des Einkommens.
Der „Wert” eines Lebens -
wenn man denn bei einem Leben überhaupt von Wert
sprechen darf und sprechen sollte -
der „Wert” eines Lebens als Christin oder Christ
bemisst sich nicht am Einkommen, am Besitz,
an Leistung oder Erfolg,
sondern an dem,
was man für seine Mitmenschen getan hat.
 
Was und wieviel das war,
darüber kann niemand urteilen außer man selbst.
Nur ich weiß, was ich getan und was ich unterlassen habe.
Nur ich weiß, wann meine linke Hand nicht wusste, was meine rechte tat (Matthäus 6,3),
und wann ich meine Hand und mein Herz verschlossen hielt.
Nur ich weiß das. Und Gott.
 
Und eines Tages,
so stellt es Paulus
und so stellten seine Zeitgenossen es sich vor,
eines Tages wird abgerechnet.
Paulus benutzt dafür ein Bild aus dem Goldschmiedehandwerk:
Die Feuerprobe.
Im Feuer reinigt der Goldschmied die Edelmetalle,
trennt das Gold oder Silber von allen Verunreinigungen.
Dem Feuer, so Paulus, wird auch unser Lebensgebäude ausgesetzt.
Dann wird sich zeigen, ob es standhält oder nicht.
 
Aus diesem Bild der Feuerprobe
entstand die Vorstellung vom Fegefeuer.
in dem die Seele brennen muss,
bis sich alles Schlechte und Falsche von ihr gelöst hat.
Diese Vorstellung flößte den Menschen des Mittelalters
eine so schreckliche Furcht ein,
dass sie Haus und Hof verkauften,
um sich und ihre Lieben durch einen Ablass
vor dem Fegefeuer zu retten.
Bis Martin Luther kam
und diesem Spuk mit seinen 95 Thesen ein Ende machte.
 
Doch bis heute hält sich in den Köpfen hartnäckig die Vorstellung,
wir müssten eines Tages vor unseren Schöpfer treten
und ihm über unser Leben Rechenschaft ablegen.
An dieser Vorstellung ist richtig,
dass wir unser Leben unter Gottes Augen führen.
Wir wissen, dass Gott sieht, was wir tun.
Wir wissen um Gottes Gebote und um seinen guten Willen für uns.
Und wir wissen auch,
wie oft wir Gottes gutem Willen widersprechen,
wie oft wir Gottes Geboten nicht Folge leisten,
wie oft wir Gott enttäuschen.
 
Doch dafür droht uns keine Strafe,
weder jetzt, noch an einem Jüngsten Tag.
Gott hat uns doch bereits alles vergeben.
In seinem Sohn hat er unsere Unfähigkeit zum Tun des Guten
und zum Halten der Gebote ans Kreuz getragen,
damit wir, um im Bild des Paulus zu bleiben,
nicht mit eingezogenem Kopf
in unserer Stroh- oder Schilfhütte hocken müssen,
voller Angst vor Regen, Sturm oder Feuer.
 
Vielmehr können wir heute werden,
was wir in Gottes Augen bereits sind:
Der Tempel Gottes.
Das wunderbarste, wertvollste Gebäude, das es gibt.
Kein Schloss, kein Palast,
und sei er aus Gold und Edelsteinen erbaut,
reicht da heran.
 
Wir SIND der Tempel Gottes,
jede und jeder Einzelne von uns.
Wir sind es nicht,
weil wir so schön sind, so schlau sind, so gut und fromm
- denn das sind wir nicht -,
sondern weil Gottes Geist in uns wohnt.
Gottes Geist, der bei unser Taufe bei uns eingezogen ist,
macht uns wertvoll, einzigartig und schön.
 
Und weil Gottes Geist in uns wohnt,
müssen wir auch keine Angst haben,
dass Gott uns verurteilt.
Wie könnte er?
Er erachtet uns doch für wert und würdig,
seinen Geist zu beherbergen!
 
Wir alle,
jede und jeder Einzelne von uns,
sind der Tempel Gottes.
Dadurch geschieht etwas Wunderbares:
Wir kommen im Namen Gottes zusammen
und bilden damit
den Tempel im Quadrat:  
Die Gemeinde.
Deshalb sagt Jesus:
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind,
da bin ich mitten unter ihnen” (Matthäus 18,20).
 
Wo so viel Heiligkeit zusammenkommt -
wohlgemerkt: nicht unsere Heiligkeit, Reinheit oder Frömmigkeit,
sondern der Heilige Geist,
den wir in und mit uns tragen  
und der hier unter uns ist -,
da muss Gott zum Greifen nah unter uns sein.
Da beflügelt uns sein Geist,
aus den vielen Häusern, die wir sind,
EIN großes Haus zu bauen:
Die Gemeinde.
 
Die Gemeinde, die erfüllt ist vom Heiligen Geist,
weil sie aus begeisteten Menschen besteht,
bei denen der Geist wie ein Funke  
von der einen auf den anderen überspringt,
bis ein Feuer entsteht,
das nichts und niemanden verbrennt,
sondern das die Seelen erleuchtet
und die Herzen erwärmt -
unsere,
und die Herzen derer, die es sehen.
 
Amen.

Samstag, 22. August 2020

herabsehen und hinaufsehen

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis, 23.8.2020,
über Lukas 18,9-14:

 
Jesus erzählte einigen, die von sich selbst überzeugt waren, gerecht zu sein,  
und auf die anderen herabsahen, dieses Gleichnis:
 
Es stiegen einmal zwei zum Tempel hinauf, um zu beten;  
der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner.
Der Pharisäer stand aufrecht da und betete bei sich selbst so:
„Gott, ich danke dir,
dass ich nicht wie der Rest der Menschheit bin,
Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder wie dieser Zöllner:
Ich faste zweimal in der Woche,
ich gebe den Zehnten von meinen gesamten Einkünften”.
Der Zöllner aber hielt sich auf Distanz
und wollte auch nicht seine Augen aufheben zum Himmel,
sondern schlug sich an die Brust und sprach:
„Gott, lass dich mit mir Sünder versöhnen!”
Ich sage euch:
Dieser kam gerechtfertigt hinab in sein Haus, statt jenem.
Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird erniedrigt,
aber wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht.
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
beim Hören des Gleichnisses vom Pharisäer und Zöllner
lehnt man sich innerlich zurück und denkt sich:
„Wie gut, dass ich nicht so bin wie dieser Pharisäer …”
Und  indem man so denkt, wird einem plötzlich bewusst,
dass man in eine Falle getappt ist.
Man hat nicht anders gehandelt als dieser Phariser,
der im Gleichnis so schlecht wegkommt.
 
Erzählt Jesus deshalb dieses Gleichnis,
um uns in eine Falle zu locken,
damit wir uns ertappt fühlen
und uns zerknirscht eingestehen,
dass wir nicht besser sind als der Pharisäer?
 
Aber Jesus erzählt dieses Gleichnis ja gar nicht uns,
sondern „einigen, die von sich selbst überzeugt waren, gerecht zu sein,  
und auf die anderen herabsahen”,
wie es in der Einleitung heißt.
 
Das Gleichnis ist nicht für uns bestimmt,
sondern für die, die sich selbst für fromm und gerecht halten
und auf andere, die nicht so sind, herabsehen.
Das Gleichnis geht uns also eigentlich gar nichts an.
Man  könnte sich also ganz entspannt zurücklehnen und ---
NICHT wie der Pharisäer denken:
„Wie gut, dass ich nicht so bin” -,
sondern einfach mal abwarten,
was passiert und wie die Sache ausgeht,
nämlich: schlecht für den Pharisäer.
 
Jesus erzählt ein Gleichnis,
das nicht für uns bestimmt ist.
Warum überliefert Lukas es dann in seinem Evangelium,
und warum denken wir heute darüber nach?
Was geht uns ein selbstgerechter Frommer an,
wenn wir nicht so sind wie er?
 
Irgendetwas hat das Gleichnis vielleicht doch  
mit uns und unserem Leben zu tun.
Irgendeinen Grund muss es doch geben,  
dass Jesus dieses Gleichnis erzählt
und Lukas es in seinem Evangelium aufgeschrieben hat -
einen, der uns direkt betrifft.
 
Ein naheliegender Gedanke ist,
dass dieses Gleichnis uns einen Spiegel vorhält:
Wir sind zwar nicht so wie dieser Pharisäer,
aber wir KÖNNEN so sein -
wir haben ja beim Hören gemerkt,
wie leicht man in diese Haltung des selbstgerechten Zurücklehnens verfällt,
die auf den, der da kritisiert wird, herabsieht.
 
Gewiss, eine Frömmigkeit,  
die so von sich überzeugt ist wie der Pharisäer im Gleichnis,
mag ärgerlich sein.
Aber sie schadet doch niemandem!?
Was der Pharisäer denkt, ist schließlich seine Sache.
Was das Tun angeht, da ist er jedenfalls vorbildlich:
Er gibt 10% seines Einkommens für gute Zwecke -
wer von uns tut das schon?
Er ist ein religiöser Mensch,
der seine Glaubenspflichten ernst nimmt und erfüllt,
der  sich von schlechten Menschen fernhält.
Von solchen Leuten könnte es ruhig mehr geben,
und von mir aus dürfen sie sich dann auch gern etwas darauf einbilden,
dass sie so vorbildlich leben.
 
Aber Jesus lobt nicht den Pharisäer,
sondern den Zöllner.
Habe ich etwas übersehen?
Sehe ich hier etwas falsch?
Ach ja! Ich habe den Zöllner ganz vergessen.
Er ist sozusagen der Gegenspieler des Pharisäers:
ein durch und durch schlechter und verkommener Mensch.
Einer, mit dem anständige Leute nichts zu tun haben.
Einer, der allen Grund hat, sich zu schämen
und sich an die Brust zu schlagen.
Aber ER wird gerecht gesprochen - der Pharisäer nicht.
 
Sollte das die Botschaft dieses Gleichnisses sein,
dass wir, wie der Zöllner, mit gesenktem Kopf herumlaufen sollen,
weil wir allzumal Sünderinnen und Sünder sind?
Sollten wir uns denn immerzu schämen dafür,
dass wir so schlechte Menschen sind?
Sollte denn das Gute, das wir tun, gar nicht zählen?
Darf man nicht mal ein bisschen stolz auf sich sein
und auch dankbar dafür, dass man auf der guten Seite steht?
 
Wir sind weder Pharisäer noch Zöllner.
Wir stehen irgendwo zwischen beiden -
ein bisschen fromm,  
und auch ein bisschen zweifelnd.
Bemüht, das Gute zu tun,  
und manchmal auch sehr nachlässig darin,

oder jedenfalls nicht sehr erfolgreich.
 
Als gläubiger Mensch ist man sich oft nicht sicher,
ob man „genug” glaubt,  
und ob man es auf die rechte Weise tut.
Der Grund dafür liegt darin,
dass Glaube eine persönliche Sache ist.
Glaube ist etwas sehr Intimes.
Und wie das so ist mit intimen Dingen:
Darüber spricht man nicht,
schon gar nicht mit anderen.
Deshalb gibt es diese Unsicherheit mit dem Glauben,
ob man alles richtig macht
und ob man genug glaubt.
Wenn dann jemand, wie dieser Pharisäer, auftritt,
der ganz genau weiß, wie Glauben geht,
was dabei richtig ist und was falsch,
kann man sich schon mal klein und armselig vorkommen,
so im Abseits wie der Zöllner,
der sich nicht aufzublicken traut.
 
Ich glaube,
genau diese Erfahrung möchte Jesus mit seinem Gleichnis beschreiben:
Das Gefühl, den Frommen gegenüber -
denen, die genau wissen, was und wie man zu glauben hat -
nicht ebenbürtig zu sein.
Wer sich in seinem Glauben unsicher fühlt,
traut sich dann oft auch nicht,
mit seinem scheinbar kleinen Glauben Gott unter die Augen zu treten.
 
Indem Jesus dem Pharisäer ausgerechnet den Zöllner gegenüberstellt -
das Gegenteil eines frommen und gottesfürchtigen Menschen -
und von ihm sagt, dass Gott ihm vergeben hat,
will er uns diese Angst nehmen,
unser Glaube sei zu klein, sei nicht ausreichend,
um damit Gott unter die Augen treten zu können.
 
Jesus möchte denen,
die an ihrer Gerechtigkeit und ihrem Glauben zweifeln,
etwas vom Selbstbewusstsein des Pharisäers abgeben.
Wir dürfen Gott gerade und aufrecht gegenübertreten,
denn wir sind Gott recht mit unserem kleinen Glauben
und mit unseren großen Zweifeln.
 
Unser Glaube ist nicht zu wenig,
er ist Gott recht so, wie er ist.
Wenn wir Gott um Vergebung bitten
und auf seine Liebe und Barmherzigkeit hoffen,
wird Gott uns erhören,
wie er auch den Zöllner erhört hat.
 
Amen.
 

Mittwoch, 12. August 2020

rück mal ein bisschen

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 16.8.2020, über Römer 11,25-35:
 
Paulus schreibt:
Liebe Geschwister,
mir liegt sehr daran, dass ihr dieses Geheimnis versteht,
damit ihr nicht auf euer eigenes Wissen baut,
dass nämlich Israel teilweise Verstockung widerfahren ist,
bis die Vollzahl der Heiden dazugekommen ist
und so ganz Israel gerettet werden wird,
wie geschrieben steht (Jesaja 59,20f):
    „Aus Zion wird der Retter kommen.
    Abwenden wird er die Gottlosigkeit von Jakob,
    und das wird mein Bund für sie sein,
    
wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde”.
Dem Evangelium nach sind sie zwar Feinde um euretwillen,
aber der Erwählung nach sind sie Geliebte um der Vorväter willen.
Denn die Gaben und die Erwählung Gottes sind unwiderruflich.
Wie ja auch ihr einst Gott ungehorsam wart,
jetzt aber Erbarmen gefunden habt durch ihren Ungehorsam,
so sind diese jetzt ungehorsam geworden,
sodass ihr Erbarmen finden konntet,
damit auch sie jetzt Erbarmen finden.
Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen,
um sich aller zu erbarmen.
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
den allwissenden Erzähler gibt es nur im Roman.
Nur der Autor eines Buches kennt jeden einzelnen Charakter,
seine Geschichte, seine Gefühle, seine Ziele,
und weiß als einziger, ob die Geschichte am Ende gut ausgeht oder nicht.
Als Leser:in folgt man gespannt den Wendungen des Romans,
und erst am Ende ist man so klug wie sein:e Autor:in.
Man würde manchmal gern vorher wissen,
wie eine Sache ausgeht.
Man würde manchmal auch gern wissen,
was andere gerade denken, was sie vorhaben.
Aber im wirklichen Leben kennt man immer nur eine - seine - Seite.
Was die oder der andere denkt -
welche Beweggründe sie hat, was sie fühlt, was sie will -
darüber kann man bestenfalls Vermutungen anstellen.
Und wer im Zweifel oder im Streitfall recht hatte,
das zeigt sich immer erst ganz am Ende.
 
Die Bibel ist kein Roman,
auch wenn sie ein sehr dickes Buch ist.
Es gibt in ihr keinen allwissenden Erzähler,
der die Motive und Ziele aller seiner Figuren kennt.
Darin ist die Bibel mit unserer Wirklichkeit verwandt,
auch wenn man meinen könnte,
Glaube und Wirklichkeit würden sich ausschließen.
In der Bibel _kann_ es keinen allwissenden Erzähler geben,
weil Gott über und hinter allen Erzählungen der Bibel steht.
Gott allein ist allwissend.
Aber Gott lässt sich nicht in die Karten sehen -
auch wenn man zu gern mal spicken würde,
welche Trümpfe er so in der Hand hält.
Man sieht nur die Karten, die schon ausgespielt sind.
Von ihnen versucht man zu schließen,
welche Karten noch im Spiel sind,
und welches Blatt die anderen haben:
ob sie gute Karten haben oder schlechte.
 
II
Paulus, der ehemalige Pharisäer,
fragt sich in seinem Brief an die Gemeinde in Rom,
warum seine jüdischen Glaubensgeschwister
im gekreuzigten und auferstanden Jesus von Nazaret
nicht den Messias, den Christus, erkennen wollen,
den er in ihm erkannt hat.
Damit greift er eine Frage auf,
die auch die römischen Christen bewegt
und die seitdem immer wieder aufgeworfen wurde:
Wenn die Menschen jüdischen Glaubens auf den Messias warten,
warum erkennen sie dann Jesus nicht als Messias an?
 
Über die Jahrhunderte hinweg war dies einer der Gründe
für die erbarmungslose und unerbittliche Verfolgung,
Ausgrenzung und Stigmatisierung der Menschen jüdischen Glaubens.
Aber schon Paulus geht einen anderen Weg bei der Lösung dieser Frage.
Er wirft es seinen Glaubensgenossen nicht vor,
dass sie Jesus nicht als Messias anerkennen,
sondern stellt es als Tatsache fest - wenn auch nicht ohne Bedauern.
Es ist für ihn undenkbar,
dass seine Glaubensgenossen den Messias nicht erkennen würden.
Es muss daher - sozusagen von höchster Stelle - verhindert worden sein,
dass Jesus von ihnen erkannt wurde.
 
Aber zugleich ist es undenkbar,
dass Gott nicht wollte, dass sein Volk den Messias erkennt.
Israel ist Gottes erwähltes Volk,
daran gibt es keinen Zweifel,
„denn die Gaben und die Erwählung Gottes sind unwiderruflich”.
Anders wäre Glaube auch gar nicht möglich.
 
Wenn Gott jederzeit seine Meinung ändern
und sein Versprechen brechen würde,
wie sollte man dann sicher sein,
dass man zu Gott gehört?
 
Für Paulus kehrt sich damit die Frage um:
Nicht warum seine Glaubensgenossen nicht an Jesus glauben,
ist die Frage, sondern was das für die bedeutet,
die an Jesus glauben.
 
Christus ist gekommen und hat,
davon ist Paulus überzeugt,
einen neuen Zugang zu Gott eröffnet,
der besonders denen gilt,
die Gott bisher nicht kannten.
Dadurch entstehen zwei Gruppen:
Hier die Schar der Christen,
die sich dem neuen Weg anschließen,
wie Paulus ihn verkündigt.
Dort die Menschen jüdischen Glaubens,
die an den Überlieferungen ihrer Mütter und Väter
und am Gesetz des Mose festhalten,
an Gebot und Beschneidung.
Beide sind „Volk Gottes”,
beiden gelten Gottes Verheißungen -
den Menschen jüdischen Glaubens von Anfang an,
und den Christ:innen jetzt auch.
 
III
Wenn es zwei Gruppen gibt,
die miteinander im Wettbewerb stehen
um Gottes Gunst und Erbarmen,
erhebt sich die Frage:
Wer von beiden hat recht?
Wer gehört zum Volk Gottes:
„Wir” oder „die”?
 
Die Frage ist einfach zu entscheiden:
Weil die Gaben und die Erwählung Gottes unwiderruflich sind,
kann die Antwort nur lauten: beide.
 
Offenbar gibt es zwei Wege, zwei Möglichkeiten,
Gottes Kind zu werden:
durch den jüdischen Glauben und durch den christlichen.
Es gibt zwei Wege,
aber man kann sich nicht aussuchen,
welchen man gehen will,
weil man sich den Glauben nicht aussuchen kann.
Man kann nicht von jetzt auf gleich entscheiden:
Ich glaube, dass Jesus der Christus, der Messias ist.
Auch, wenn manche:r das im Rückblick so empfindet:
Dass wir glauben, ist nicht unsere Tat, nicht unsere Entscheidung.
Dass wir an Jesus als den Christus glauben, ist ein Geschenk.
Paulus nennt es: „Gottes Erbarmen”.
Der Glaube an Jesus kann einem nicht einleuchten,
man kann nicht davon überzeugt werden.
Er fällt einem sozusagen in den Schoß - oder nicht.
Nicht zu glauben ist der „Ungehorsam”,
von dem Paulus spricht.
 
„Ungehorsam” Klingt so, als habe man nicht gewollt,
als sei es die eigene Schuld gewesen,
dass man nicht glauben konnte, nicht geglaubt hat.
Aber so, wie Paulus es darstellt,
ist der Ungehorsam vielmehr eine Unfähigkeit:
Man kann nicht an Jesus als den Christus glauben,
wenn Gott es nicht will.
Paulus nennt es „Verstockung”,
wie Gott einst den Pharao verstockte,
damit er das Volk Israel nicht aus Ägypten ziehen ließ.
 
IV
Gott verstockt Menschen,
damit sie nicht an Jesus glauben -
kann man, darf man so von Gott denken und sprechen,
wie Paulus es tut?
 
Darf man Gott so beschreiben,
dass er scheinbar willkürlich der einen den Glauben schenkt
und ihn der anderen verweigert?
 
Paulus kann nicht wissen,
wie Gott ist und was Gott will.
Er kann nur anhand dessen, was er sieht und erlebt,
vermuten, was Gottes Wille sein könnte.
Paulus vermutet einen tieferen Sinn dahinter,
dass die „Heiden” zum Glauben an Christus finden,
seine jüdischen Glaubensgeschwister aber nicht.
Und er findet die Erklärung,
dass die Menschen jüdischen Glaubens sozusagen
ein wenig beiseite rücken und Platz machen mussten,
damit die, die bisher nicht zum Volk Gottes gehörten, dazukommen konnten.
Sie mussten „ungehorsam” werden, wie Paulus es nennt,
weil in Gottes Haus zwar viele Wohnungen sind,
wir aber die Tür nicht gefunden hätten,
wenn unsere jüdischen Glaubensgeschwister
nicht für uns Platz gemacht hätten.
Ohne ihre Hilfe wären wir an der offenen Tür vorbeigelaufen.
Was von außen als Ablehung und Unwille, als „Ungehorsam”, erscheint,
ist also in Wahrheit ein Entgegenkommen.
Ein unfreiwilliges Entgegenkommen,
denn die Menschen jüdischen Glaubens wussten nichts davon,
dass sie für die „Heiden” Platz gemacht hatten.
Sie konnten es nicht wissen.
Wenn man selbst nicht der allwissende Erzähler ist,
bleiben einem die wahren Gründe bis zum Ende verborgen.
 
V
Paulus stellt Vermutungen an -
auch er ist nicht allwissend.
Ob seine Vermutungen uns überzeugen können?
Es klingt nicht wirklich logisch, was er sagt,
es ist mehr ein Bild, das Paulus zeichnet:
Das Bild eines Hauses,
das eigentlich genug Platz hat,
aber dessen Eingang nicht zu finden ist,
wenn andere, die schon drin sind,
nicht ein wenig beiseite rücken.
 
Das Bild vom „Platz machen” ist ein schönes Bild.
Es gilt auch uns:
Es könnte ja sein,
dass auch wir manchmal Plätze besetzen,
und dadurch verhindern, dass andere dazukommen können.
Wenn wir ein bisschen rücken würden,
würden andere vielleicht entdecken,
dass auch für sie noch Platz in der Gemeinde,
ein Platz im Gottesdienst ist.
 
Man macht sich nicht nur körperlich breit.
Man nimmt auch Raum ein mit seinem:
„Das muss so-und-so gemacht werden!” oder
„das haben wir immer so gemacht!”.
Man nimmt anderen den Raum,
wenn man Aufgaben oder Verantwortung
nicht abgeben oder teilen kann.
Man nimmt anderen Raum,
wenn sie erst so sein, denken und leben müssen
wie man selbst es für richtig hält,
bevor man ihnen einen Raum bei sich zugesteht.
 
Vielleicht ist am Ende die Frage gar nicht so entscheidend,
warum es zwei Wege zu Gott gibt:
den des jüdischen und den des christlichen Glaubens -
und ob es vielleicht noch mehr Wege geben könnte.
Entscheidend ist, ob man Gottes Liebe und Erwählung,
wenn man sie gefunden und für sich angenommen hat,
mit anderen teilen kann,
die nicht so glauben, denken und sind, wie man selbst,
oder ob man sie eifersüchtig nur für sich allein haben will.
Entscheidend ist, ob man anderen zuliebe
im Glauben und im Leben ein bisschen zur Seite rücken kann.
 
In Gottes Haus sind viele Wohnungen.
Aber wie das so ist in Mehrfamilienhäusern:
Nicht immer kommen Nachbarn gut miteinander aus.
Darum schärft Paulus uns ein,
dass _alle_ ungehorsam waren.
Niemand kann von sich behaupten,
er oder sie hätte Gottes Barmherzigkeit verdient,
oder würde sie mehr verdienen als andere.
Darum sollten wir Gott dankbar sein,
dass er uns zu sich eingeladen hat,
und nicht scheel dreinschauen,
wenn er Leute einlädt,
denen wir es nicht gönnen
oder die wir nicht dabei haben möchten.
Wir sollten vielmehr froh sein,
dass Gottes Haus und Gottes Herz so groß sind.
Da ist für jede und jeden Platz -
auch für uns!