Samstag, 29. September 2012

Geld oder Leben - eine Erntedankpredigt


Predigt am Erntedanktag, 30. September 2012, über 1.Timotheus 4,4–5:
Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.

Liebe Gemeinde,
Dir ist aber auch gar nichts heilig!” So wird jemand kritisiert, der keinen Respekt zeigt, der keine Scheu und keine Tabus kennt.
Musilime werden mit Karikaturen des Propheten Mohammed und mit einem Film, der ihn verunglimpft, provoziert, und lassen sich provozieren. Für muslimische Terroristen waren diese Tabubrüche willkommene Anlässe für Attentate. Wer dagegen bei uns den christlichen Glauben verächtlich macht, Jesus-Witze reißt oder die Kirche schmäht, erntet dafür im besten Fall Zustimmung. Oft hört man schon gar nicht mehr hin, weil das alles olle Kamellen sind.
Sind wir schon so abgebrüht, dass uns Schmähungen gegen Jesus und gegen unseren Glauben nicht mehr aufregen? Oder haben wir selbst schon das Gespür dafür verloren, was heilig und tabu ist und was man deshalb respektvoll behandeln muss?
Ist das so? Ist uns nichts mehr heilig? Oder ist uns im Gegenteil eher zu viel heilig als zu wenig?
I
Zuviel heilig: Das kann ja gar nicht sein! In unserer säkularen Gesellschaft, die strikt zwischen Kirche und Staat trennt, gibt es nichts Heiliges mehr. Alles darf man kritisieren. Alle Tabus sind gebrochen. Alle, bis auf eines: Die Privatsphäre, die ist noch tabu; noch sind die eigenen vier Wände heilig. Aber auch dieses Tabu fällt allmählich der Neugier der anderen und der eigenen Lust an der Zurschaustellung zum Opfer. Auf allen Kanälen - auf Facebook, Twitter, Instagram und wie die Medien der Vernetzung sonst noch heißen - legen Menschen ihr Innerstes bloß.
Was bedeutet denn eigentlich: “heilig”? “Heilig” ist etwas, das Gott zugeordnet, “geweiht” wird. Es gehört nicht mehr der Welt an, und es gehört auch nicht sich selbst, es gehört jetzt Gott. Das kann man natürlich nicht sehen. Ein Gegenstand, ein Mensch, der “heilig” ist, sieht genauso aus wie alle anderen auch. Wenn man es nicht weiß, erkennt man es nicht. So sagt Jakob, als er von der Himmelsleiter träumt: “Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!” (Genesis 28,16) Und Gott warnt Mose: “Zieh deine Schuhe von deinen Füßen; denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land!” (Exodus 3,5)
Etwas, das “heilig” ist, gehört nicht mehr mir oder dir, es gehört auch nicht mehr sich selbst, es gehört Gott. Deshalb darf man damit nicht machen, was man will. Man darf es nur verwenden, und nur so verwenden, wann und wie es Gott gefällt. Auch das kann man nur wissen, nicht sehen. Es gibt ja bei den meisten Dingen keinen Beipackzettel, der vor Risiken und Nebenwirkungen warnt. Es gibt auch bei Menschen keinen Beipackzettel, auf dem steht, wie man respektvoll, liebevoll und rücksichtsvoll mit ihnen umgeht.
II
Wenn “heilig” also bedeutet, dass etwas Gott geweiht ist und nicht mehr der Welt, aber auch sich selbst nicht mehr gehört, dann gibt es in einer säkularen Gesellschaft, in der Gott und der Glaube Privatsache sind, die den Staat nichts angehen, auch nichts Heiliges mehr.
Und trotzdem behaupte ich, dass uns heute eher zuviel heilig ist als zuwenig. Es geht mir, wie Sie sich denken können, nicht um Dinge oder Personen, die Gott geweiht sind - jedenfalls nicht dem Gott, an den wir glauben und den wir als Schöpfer bekennen.
Es gibt etwas, das in unserer heutigen Welt für alle Menschen fast genauso etwas ist wie Gott. Wir feiern keine Gottesdienste dafür - jedenfalls nicht so, wie wir sonntags Gottesdienst feiern. Wir beten es nicht an - jedenfalls nicht so, wie wir zu Gott beten. Aber auch diesem Etwas gehören wir, ihm ist die Welt, ihm sind wir auf eine Weise geweiht, die uns untrennbar und unentrinnbar mit ihm verbindet.
Diesem Etwas, das fast so etwas wie unser Gott ist, gehört die ganze Welt, und auch wir gehören ihm, mit Haut und Haar. Ich meine das Geld, das in der Bibel mit dem Wort “Mammon” bezeichnet wird. Als “Mammon” steht das Geld wie ein Abgott dem Schöpfer gegenüber, sodass Jesus sagt: “Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon” (Matthäus 6,24)
Geld regiert die Welt”. Nein, es regiert nicht nur die Welt, ihm gehört die Welt. In unserer Zeit ist alles Ware oder kann zu Ware werden. Alles kann man kaufen oder verkaufen, es ist nur eine Frage des Preises. Die erste und wichtigste Frage lautet: Was kostet es? Oder: Was ist es wert? Die meisten unserer Entscheidungen sind davon abhängig, wieviel Geld etwas kostet, oder was es uns finanziell bringt. Immer weniger wird um seiner selbst willen getan, ohne nach dem Preis, nach Gewinn oder Verlust zu fragen. Immer mehr wird den Zwängen des Marktes unterworfen. Selbst Kindergärten, Krankenhäuser, Altersheime, Schulen und Kirchen müssen Kosten-Nutzen-Rechnungen genügen. Wenn sie zu teuer oder zu ineffektiv sind, werden sie geschlossen oder “optimiert”. Die Kosten oder der Preis werden zum alleinigen Kriterium, mit anderen Worten: alles ist Ware.
III
Dieses vom Geld bestimmte Denken hat schon längst unsere Umwelt und unsere Mitgeschöpfe erfasst. Natur ist nicht um ihrer selbst willen da, sie muss Geld verdienen, Profite erwirtschaften. Getreide und andere Nahrungsmittel müssen ertragreicher werden. Dazu werden sie gentechnisch behandelt, damit sie den Dünger besser verwerten, die Spritzmittel besser verkraften. Hähnchen, Schweine und Rinder sollen immer schneller schlachtreif werden. Auf artgerechte Haltung, auf Lebensqualität kommt es dabei schon längst nicht mehr an. Billig muss das Fleisch sein. Und fettarm. Wie die Tiere leben, die dieses Fleisch hervorbringen, und wie sie leiden, muss der Verbraucher nicht wissen.
Alles ist Ware. Dieses Denken macht auch vor uns nicht halt. Auch wir werden wie Waren kalkuliert und behandelt. Leistungsfähigkeit und Arbeitskraft werden eingeschätzt; wer davon nicht genug zu bieten hat, in den wird nicht mehr investiert. Mitt Romney, der republikanische Präsidentschaftskandidat, sprach davon, dass die 47 Prozent der US-Bürger, die keine Steuern zahlen, ihn nicht interessierten. Kranke oder alte Menschen werden nach ihren Kosten für die Sozialsysteme beurteilt, nicht danach, wer sie sind und was sie denen bedeuten, die sie lieben.
Stellen Sie sich mal vor, man würde danach fragen, wer jemand ist, was er oder sie anderen bedeutet. Kommt Ihnen diese Frage auch sinnlos vor? Daran merken Sie, wie sehr das Leistungs- und Warendenken von uns Besitz ergriffen hat.
IV
Etwas, das “heilig” ist, gehört nicht mehr mir oder dir, es gehört sich auch nicht mehr selbst, es gehört Gott. Deshalb darf man damit nicht machen, was man will. Man darf es nur verwenden, und nur so verwenden, wann und wie es Gott gefällt.
Das gilt für Gott, das gilt aber auch für das Geld. Seit wir uns angewöhnt haben, in Geldwerten zu denken, seit wir das Leistungs- und Warendenken angenommen haben und seit vor dem Wort zum Sonntag die Börsenberichte kommen, - obwohl viel weniger Menschen Aktien besitzen, als noch der Kirche angehören -, seitdem gehören wir dem Mammon, dem Geld. Wir haben unsere Freiheit verloren. Und auch die Natur, die Pflanzen und Tiere haben ihre Freiheit verloren. Wir alle sind unentrinnbar in den Verwertungskreislauf, in den Kreislauf des Geldes eingebunden.
Dem Geld gehört die Welt. Deshalb gibt es für uns und für die Schöpfung kein Entrinnen vor der Vermarktung und Verwertung, die keine Rücksicht nimmt auf Verluste an Mensch und Tier, an Wasser und Boden, solange der finanzielle Gewinn stimmt.
Es gibt kein Entrinnen vor dem Geld, das alles bestimmt - es sei denn, wir würden lernen, neu und anders von uns und von der Welt zu denken: Die Welt und uns als Gottes Schöpfung zu sehen, und die Pflanzen und Tiere, Wasser, Wind und Erde als unsere Mitgeschöpfe, mit denen wir nicht machen dürfen, was wir wollen, weil sie nicht uns gehören, sondern Gott.
Was hätten wir damit gewonnen? Wir wären doch nur vom Besitz des einen, des Geldes, in den Besitz des anderen übergegangen, in Gottes Eigentum! Das stimmt. Aber wenn wir Gott gehören, sind wir frei, so widersprüchlich das klingen mag. Denn Gott will uns nicht besitzen, Gott will uns nicht knechten oder versklaven, Gott will, dass wir frei sind. Und glücklich.
Frei und glücklich können wir nicht sein, wenn wir auf Kosten anderer leben, wenn Mitmenschen und Mitgeschöpfe unseretwegen leiden müssen. Frei und glücklich können wir nicht sein, wenn wir den Ast absägen, auf dem wir sitzen, die Lebensgrundlage für uns und für unsere Nachkommen dauerhaft schädigen und zerstören. Frei und glücklich können wir nur miteinander sein, im gegenseitigen Respekt davor, dass wir alle Geschwister sind, Kinder des einen und einzigen Gottes.
V
Damit uns wieder etwas heilig werden kann, müssen wir die Scheu und den Respekt vor dem Geld verlieren. Erst wenn wir schaffen, nicht mehr in Geldwertevorteilen und Warenwerten zu denken, uns selbst und andere nicht nach Leistung zu bewerten, sondern uns als Gottes Geschöpfe anzunehmen, wird das Geld seine Macht über uns verlieren.
Dann können wir beginnen, unsere Umwelt, unsere Mitgeschöpfe und Mitmenschen als Gottes Schöpfung zu erkennen, als unsere Schwestern und Brüder, und mit ihnen so zusammenleben, wie Gott es sich für seine Welt gewünscht hat.
Wenn wir im Glaubensbekenntnis davon sprechen, dass wir die “Gemeinschaft der Heiligen” sind, dann sprechen wir uns das zu: Wir sind heilig. Wir gehören Gott, der uns liebt, der will, dass wir glücklich sind und dass wir uns am Leben freuen können.
Wir sind heilig. Und unsere Mitmenschen und Mitgeschöpfe sind es auch.
Amen.

Samstag, 22. September 2012

Intensität


Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 23. September 2012, über Apostelgeschichte 12,1–12:

Um diese Zeit begann König Herodes, die Gemeinde in Jerusalem zu verfolgen, und ging mit Gewalt gegen einige ihrer Mitglieder vor. Jakobus, den Bruder des Johannes, ließ er mit dem Schwert hinrichten. Als er sah, dass er den Juden damit einen Gefallen tat, setzte er den eingeschlagenen Kurs fort und ließ auch Petrus festnehmen, und zwar gerade während der Zeit, in der das Passafest gefeiert wurde, das Fest der ungesäuerten Brote. Herodes ließ Petrus ins Gefängnis bringen und beauftragte vier Gruppen zu je vier Soldaten mit seiner Bewachung; nach den Festtagen wollte er ihn dann vor allem Volk aburteilen. Während Petrus nun also streng bewacht im Gefängnis saß, betete die Gemeinde intensiv für ihn zu Gott. In der Nacht vor der von Herodes geplanten öffentlichen Verurteilung schlief Petrus zwischen zwei Soldaten, mit je einer Kette an sie gefesselt; und vor der Tür seiner Zelle waren Posten aufgestellt und hielten Wache. Mit einem Mal stand ein Engel des Herrn in der Zelle, und helles Licht erfüllte den Raum. Der Engel gab Petrus einen Stoß in die Seite, um ihn zu wecken. »Schnell, steh auf! «, sagte er. Im selben Augenblick fielen die Ketten, die Petrus um die Handgelenke trug, zu Boden. Der Engel sagte: »Binde den Gürtel um und zieh deine Sandalen an!«, Petrus tat es. »Und jetzt wirf dir den Mantel über und komm mit!«, sagte der Engel. Petrus folgte ihm nach draußen, allerdings ohne zu wissen, dass das, was er mit dem Engel erlebte, Wirklichkeit war; er meinte vielmehr, er hätte eine Vision. Sie passierten den ersten Wachtposten, ebenso den zweiten, und als sie schließlich zu dem eisernen Tor kamen, das in die Stadt führte, öffnete es sich ihnen von selbst. Sie traten ins Freie und gingen eine Gasse entlang – und plötzlich war der Engel verschwunden. Da erst kam Petrus zu sich. »Wahrhaftig«, sagte er, »jetzt weiß ich, dass der Herr seinen Engel gesandt hat! Er hat mich Herodes und seiner Macht entrissen und hat mich vor all dem bewahrt, was das jüdische Volk so gern gesehen hätte.« Nachdem er über seine Lage nachgedacht hatte, ging er zum Haus von Maria, der Mutter des Johannes, der den Beinamen Markus trägt. Dort war eine große Zahl von Christen zum Gebet versammelt.



Liebe Gemeinde,

wann kommt der Engel mal zu uns?
Oder darf man diese Frage nicht stellen?
Hieße das, Gott zu versuchen - was man bekanntlich nicht darf -,
wenn man sich wünschte,
dass man selbst auch einmal das erlebt,
was Petrus erfahren durfte?

I
Unglaublich, die Geschichte dieser Befreiung.
Noch unwahrscheinlicher als die sensationellen Tricks,
mit denen es James Bond jedes Mal gelingt,
seinen Kopf im letzten Moment aus der Schlinge zu ziehen,
oder mit denen die phantastischen Coups
von Ocean’s 11, 12 oder 13
wider Erwarten und wider alle Vernunft doch noch gut gehen.

Es wird wirklich alles aufgeboten,
um ein Ausbrechen aus diesem Gefängnis unmöglich zu machen.
Petrus wird wie ein hoch gefährlicher Schwerverbrecher bewacht.
Er schläft zwischen zwei Wachen,
an die er mit Handschellen gekettet ist.
Zwei weitere stehen direkt vor der Zellentür.
Bis zum - natürlich verschlossenen - schmiedeeisernen Ausgang
gibt es noch einmal einen Wachtposten.
Hier kommst du nit ’raus“,
ist die Botschaft dieser Beschreibung.

Dass es doch gelingt,
ist sozusagen ein Akt höherer Gewalt.
Plötzlich taucht ein Engel auf,
der Petrus aus dem Gefängnis befreit.
Er muss dazu keinen Finger krümmen.
Alles geschieht automatisch:
Handschellen fallen ab, Türen öffnen sich.
Die Wachen sind gar nicht mehr da,
verschwunden, schlafend, tot - einfach fort.
Plötzlich taucht ein Engel auf.
Das passiert selbst einem Petrus nicht alle Tage.
Man könnte meinen:
Wo der Engel schon mal da ist,
hat er dem Petrus doch bestimmt auch etwas auszurichten.
Schließlich bedeutet das Wort Engel “Bote”.
Aber der Engel hat keine Botschaft für Petrus.
Er spricht nur das Nötigste,
nur das Selbstverständliche und Offensichtliche:
Beeil dich. Zieh dich an. Komm mit.

Petrus bekommt von all dem gar nichts mit.
Er ist nicht bei sich,
er befindet sich wie in Trance, wie in einem Traum.
Ein Traum, der Wirklichkeit wird:
Als er zu sich kommt,
findet er sich vor den Toren des Gefängnisses wieder.

II
Ist das nicht eigenartig?
Da passiert so ein unglaubliches Wunder,
das jede Autorin, jeder Autor
auf dutzenden von Seiten ausführlich schildern würde.
Lukas aber teilt uns nur dürre Fakten mit.
Es ist unserer Phantasie überlassen,
uns die Szene auszumalen.
Die Phantasie lässt sich auch nicht lange bitten:
Sie stellt sich das schrecklich dunkle Gefängnis,
stellt sich den strahlenden Engel vor
und überbrückt das, was Lukas ausgelassen hat,
mit eigenen Theorien.
Was ist mit den Wachen?
Sie werden in Ohnmacht gefallen
oder vom Engel in Tiefschlaf versetzt worden sein.
Wie öffneten sich die Türen?
Es wird ein Erdbeben gegeben haben, usw.

Lukas scheint das alles nicht zu interessieren.
Es kommt ihm nicht so darauf an.
Lukas berichtet von der wunderbaren Zeit der Apostel,
berichtet vom Entstehen der Kirche,
das von außergewöhnlichen Ereignissen begleitet ist.
Aber schon seinen Zeitgenossen
wird es gegangen sein wie uns heute.
Auch sie werden sich und Lukas gefragt haben:
Wann kommt der Engel mal zu uns?

Nun kann man einwenden,
dass für die Menschen der Antike die Vorstellung vertraut war,
dass Erde und Himmel
nicht nur von sichtbaren Wesen belebt und bewohnt sind,
sondern auch von Geistern und Engeln;
dass in jeder Quelle und in jedem Baum eine Nymphe lebte,
dass Menschen von Dämonen besessen werden konnten.
Aber schon damals werden sie die gleiche Erfahrung gemacht haben,
die wir heute auch machen:
Wunder und ähnliche Formen des Eingreifens einer höheren Gewalt,
so viele Geschichten es auch darüber gibt,
- man selbst erlebt sie nie.
Obwohl man sie manchmal wirklich dringend brauchen könnte.
Aber Engel machen sich rar, und zu uns kommen sie nie.

III
Aber warum erzählt Lukas dann diese Geschichte?
Um uns zu zeigen, wozu Gott in der Lage wäre,
wenn er nur wollte - bloß, dass er nicht will?
Um uns Respekt einzuflößen
vor dem heiligen Petrus,
dem Wunder widerfuhren,
die wir nie erleben werden?

Es muss einen anderen Grund geben,
aus dem Lukas diese Geschichte erzählt.
Wenn wir uns die Geschichte daraufhin noch einmal anschauen,
fallen zwei Dinge auf,
die bemerkenswert sind:
Der Engel redet mit Petrus über Selbstverständlichkeiten.
Und von der Gemeinde heißt es,
dass sie nach Petrus’ Verhaftung intensiv zu Gott betete.

In einem amerikanischen Gefängnis sitzt ein Deutscher
seit über zwanzig Jahren in Haft.
Er soll die Eltern seiner Freundin ermordet haben.
Er selbst bestreitet die Tat,
wurde auch nur aufgrund von Indizien verhaftet,
deren Beweiskraft von manchen angezweifelt wird.
Er versucht wieder und wieder,
eine Aufnahme des Verfahrens zu erwirken - ohne Erfolg.
In der Süddeutschen Zeitung wurde mehrfach über seinen Fall berichtet - Sie haben vielleicht davon gehört.
Mir geht es jetzt nicht darum,
ob dieser Mann zu Unrecht oder zu Recht im Gefängnis sitzt.
Mir geht es darum, wie er das aushält,
im Bewusstsein, unschuldig zu sein,
ohne Hoffnung auf Entlassung
sein Leben in diesem Gefängnis zubringen zu müssen.

Zwei Dinge sind es,
die ihn die Hoffnung nicht aufgeben lassen
und die ihn am Leben halten:
Die tägliche Routine - die selbstverständlichen,
die notwendigen Dinge, die eben jeden Tag getan werden müssen,
vom Aufstehen und Zähneputzen
bis hin zum Studium der Akten,
zum Einreichen einer neuen Petition.
Und die Tatsache, dass Menschen außerhalb des Gefängnisses
an ihn denken, über ihn schreiben,
sich für ihn einsetzen
und ihm so zeigen, dass er ihnen etwas bedeutet.

IV
Niemand von uns wird wahrscheinlich je in ein Gefängnis kommen.
Und trotzdem können wir uns vorstellen,
wie man sich da fühlen muss.
Weil wir ähnliche ausweg- und aussichtslose Situationen erlebt haben. Situationen, in denen wir uns gefangen, gefesselt fühlten.
Sei es durch eine Krankheit, die uns ans Bett fesselte,
sei es durch einen Fehler, ein schuldhaftes Verhalten,
das uns jemanden in die Hand gab,
auf dessen Vergebung wir angewiesen waren.
Man kann in einem Irrtum befangen sein
oder an den Alkohol oder eine andere Droge gekettet.
Allen diesen Situationen gemeinsam ist,
dass es eigentlich ein Wunder braucht,
das Eingreifen einer höheren Gewalt,
um uns daraus zu erretten.
Aber dieses Wunder bleibt aus,
der Engel kommt nicht zu uns.
Man muss da durch, irgendwie,
und das ist manchmal sehr hart und schmerzhaft.
Oft genug gibt es keinen Ausweg,
scheint es unmöglich, da je wieder herauszukommen.

Was kann dann helfen?
Es hilft, die tägliche Routine beizubehalten, soweit es geht.
Sich nicht hängen, nicht fallen zu lassen,
sondern das Selbstverständliche und Nötige zu tun.
Darin steckt ein Funken Hoffnung,
darin steckt ein Stück alltäglichen Lebens,
das der Dunkelheit, der Vergeblichkeit, dem Tod die Stirn bietet.

Vor allem aber helfen Menschen,
die an einen denken,
die an einen glauben,
die für einen beten
und manchmal auch für einen glauben
und an der Hoffnung festhalten,
die man selbst schon verloren hat.
Die einen nicht aufgeben,
auch wenn man sich selbst schon aufgegeben hat.
Die einen dann aber nicht vertrösten:
Wird schon wieder”,
Nun reiß dich aber mal zusammen”,
Andern geht’s noch schlechter als dir”.
Sondern diese Hoffnung in ihrem Herzen tragen
und intensiv daran glauben.

Die Intensität, die Dringlichkeit, die Stärke,
mit der andere an einen glauben,
für einen beten und hoffen,
die ist es, die sich auf den überträgt,
der in seiner Verzweiflung gefangen ist.
Sie bringt Licht in die Dunkelheit,
sie sprengt Fesseln und öffnet Türen,
die verschlossen schienen.

V
Wann kommt der Engel mal zu uns?
Er war doch schon da.
Er kam durch Menschen,
die an uns glaubten, die für uns beteten,
für uns hofften, die uns liebten.
Er hat uns an das Selbstverständliche,
das Notwendige erinnert, dieser Engel,
und uns zum Aufstehen gebracht,
zum Weitermachen, Weitergehen, Weiterleben.
Weil hinter den Gefängnistoren,
am Ende der dunklen Gasse eine Tür ist,
hinter der Menschen auf uns warten.
Menschen, die sich Sorgen machten um uns,
die sich freuen, dass wir wieder da sind,
und die für uns Engel waren.

Amen.

Sonntag, 2. September 2012

Kainszeichen

Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 2.9.2012, über Genesis 4,1–16

Liebe Gemeinde,

nach einer gewissen Zeit im Urlaub - nach zwei Wochen oder drei, bei manchen schon nach zehn Tagen - kommt der Moment, an dem man sich wieder auf Zuhause freut. Eine Weile hat man es genossen, “unstet und flüchtig” zu leben, als Fremde oder Fremder unter Einheimischen. Zwar nicht mit einem Kainszeichen versehen, und doch sofort als “nicht von hier” erkannt. Aber dann kehrt ganz sacht die Sehnsucht zurück nach der vertrauten Umgebung, nach den Begegnungen mit Nachbarn und Freunden, den liebgewordenen Dingen, dem eigenen Garten. Die Sehnsucht, heimisch zu sein und dazuzugehören. Im Lande Heimatlos zu leben erfreut nur für begrenzte Zeit.

I
Wenn man zurückkehrt aus dem Urlaub, muss man sich einer Gesichtskontrolle unterwerfen. Kommt man aus dem Ausland, findet sie schon an der Grenze statt: Die Übereinstimmung der Person mit dem Foto auf dem Ausweis wird festgestellt. Zugleich wird auch überprüft, ob man vielleicht ein gesuchter Straftäter oder eine Terroristin ist. Weil man das weiß, blickt man dem Zollbeamten offen und gerade ins Gesicht. Denn man hat ja nichts verbrochen. Erst bei der Frage, ob man etwas zu verzollen hat, wird der Blick manchmal unsicher, die Augen senken sich unwillkürlich; nur gute Schauspieler behalten die Unbekümmertheit bei, die es braucht, um keinen Verdacht zu erwecken.

Alle anderen werden zuhause kontrolliert: Familienmitglieder, Nachbarn, Freunde prüfen am Bräunungsgrad des Gesichtes die behauptete Erholung nach. Und auch hier zeigt sich am offenen oder ausweichenden Blick, ob das, was in der Urlaubspost behauptet wurde, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Es zeigt sich auch, ob der Urlaub ein gestörtes Verhältnis, einen Streit oder eine Verletzung heilen konnte, oder ob da noch immer etwas zwischen den Personen steht, das einen geraden, offenen Blick verhindert, weil es einen oder beide belastet.

Wer nichts verbrochen, wer nichts zu verbergen hat, kann einem offen in die Augen sehen. Wer dagegen dem Blick ausweicht, wer sich gar vermummt, dem ist Böses zuzutrauen. Mit diesem Argument sammeln staatliche Stellen mehr und mehr Informationen, sammeln und speichern immer mehr Daten, denn ein braver Bürger, eine rechtschaffene Bürgerin hat schließlich nichts zu verbergen.

II
Kain senkt seinen Blick. Er kann Gott nicht ins Gesicht sehen. Wir müssen uns bei dieser Geschichte, die ja noch in paradiesischen Zeiten, wenn auch nicht mehr im Paradies spielt, Gott als leibhaftiges Gegenüber vorstellen, wie eine Mutter oder ein Vater. Kain kann diesem Vater Gott nicht in die Augen sehen. Es steht etwas zwischen ihm und Gott: dass er Abels Opfer ansieht, seins aber nicht.

Wir müssen uns bei dieser Geschichte auch von unserem modernen Interesse an der Rolle trennen, die Gott in dieser Geschichte spielt. Wir stören uns an der Willkür, mit der Gott das eine Opfer ablehnt und das andere annimmt und so die Wut Kains erst weckt, die zu der schrecklichen Tat, zum Mord an seinem Bruder Abel, führt. Aber diese Willkür Gottes war für den Erzähler der Geschichte kein Problem. Und wer von Ihnen Geschwister hat, wird solche Willkür vielleicht auch schon erlebt haben. Denn bei aller Liebe zu ihren Kindern gelingt es Eltern nicht immer, ihre Liebe gerecht zu verteilen. Sie haben manchmal ein Kind lieber als das andere, bevorzugen - willentlich oder unwillkürlich - eines ihrer Kinder, freuen sich mehr über ihre oder seine Leistungen als über die der anderen. Auch von Vorgesetzten kann man solche - scheinbar oder tatsächlich - willkürliche Behandlung erleben, die Bevorzugung einer Kollegin oder eines Kollegen.

III
Die Geschichte von Kain und Abel ist deshalb eigentlich eine ganz alltägliche Geschichte, trotz ihres kriminellen Endes. Sie handelt vom Neid auf den, der besser behandelt wird als man selbst. Dieser Neid entlädt sich in Zorn, im Hass, in Gewalt - zum Glück nur selten in einem Mord. Aber wer die Worte Jesu im Ohr hat: “Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Du Nichtsnutz!, der ist des Hohen Rates schuldig; wer aber sagt: Du Narr!, der ist des höllischen Feuers schuldig” (Matthäus 5,22), der ahnt, dass Jesus nicht warten will, bis Blut fließt. Jesus fasst den Tatbestand des Tötens viel weiter, als es unser Empfinden oder das Strafgesetzbuch tun. Er sieht - wie übrigens auch Gott in der Geschichte von Kain und Abel - den Vorsatz als die Tat an. So wie Gott bereits auf den Zorn und den gesenkten Blick Kains reagiert, so stellen für Jesus Streit und abwertenden Worte bereits eine Vernichtung des Gegenübers dar.

Aber wenn Jesus so radikal denkt - dann wären wir ja alle wie Kain! Denn jede und jeder von uns hat wohl schon einmal einem Mitmenschen die Krätze - oder schlimmeres - an den Hals gewünscht, hat sich mit Bruder oder Schwester böse gestritten. Wohl jede und jeder hat im Laufe seines Lebens Beziehungen, Freundschaften zu Menschen beendet, denen man niemals wieder begegnen will. Und nur zu leicht rutscht einem eine abwertende Bemerkung über jemanden heraus - auch und gerade über Menschen, die man nicht kennt. Diese Ausländer zum Beispiel ... die Arbeitslosen ... diese schmuddligen Penner in der Fußgängerzone ...

Immer wieder werden Menschen von uns ausgegrenzt und mit einem Makel behaftet. Immer wieder würdigen wir Menschen herab, wissentlich oder unwillkürlich, weil wir Vorurteile oder Gerüchte über sie weiterverbreiten, weil es Spaß macht, über andere zu lästern, weil man sich von ihnen abheben, abgrenzen möchte. Aber nicht die, die unstet und flüchtig leben müssen, weil sie keinen Platz in der Gesellschaft finden oder bekommen, tragen das Kainszeichen. Kain, das sind wir.

IV
Kain, dem die Last seiner Schuld zu schwer ist, wird von Gott mit einem Zeichen versehen, das ihn schützen soll. Der Täter soll nicht zum Opfer werden. Die Populisten argumentieren anders: “Todesstrafe für Kinderschänder!”, heißt es auf Plakaten der NPD. Und die Nachricht, dass Anders Breivik, der die Morde von Oslo und Utoya beging, “nur” die Höchststrafe von 21 Jahren erhielt, hat nicht bei allen Zustimmung gefunden; manche hätten ihn härter bestraft.

Wenn es uns gelänge, den Blick von den schrecklichen Extremen tatsächlichen Mordes hin auf den alltäglichen Totschlag im Kleinen: auf die verletztenden Bemerkungen, die Erniedrigungen und Ausgrenzungen zu lenken; wenn wir uns bewusst würden, dass wir selbst Kain sind, auch wenn wir niemals einen Menschen töten könnten, dann würden wir bemerken, dass wir selbst das Kainszeichen tragen. Jede und jeder von uns ist damit gezeichnet.

Aber anders als Judenhut und Judenstern aus düsteren Zeiten ist das Kainszeichen nicht sichtbar. Es bezeichnet auch nicht einen Makel. Es zeigt, dass Gott uns nicht zu Opfern werden lassen will, obwohl wir so oft Täterinnen und Täter sind. Es soll uns doch nicht dasselbe widerfahren, das wir anderen Menschen antun. Wir sollen verschont bleiben, wir sollen leben, sollen neu und anders leben können. Das Kainszeichen ist für uns ein Zeichen von Gottes Vergebung.

V
Unstet und flüchtig muss Kain leben - das ist der Preis, den er für seine Tat bezahlen muss. Er zieht ins Land “Nod”, ein sprechender Name, er heißt übersetzt: heimatlos. Kain im Lande Heimatlos findet kein Zuhause, bleibt Flüchtling, Asylbewerber, Gastarbeiter, Fremder.

Wir, die wir aus dem Urlaub, aus einem kurzen Abstecher in das Land Heimatlos, in dem wir gern gesehene und geachtete Gäste waren, wieder in unsere vertraute Umgebung zurückgekehrt sind, wir sollten nicht vergessen, dass wir wie Kain sind. Wir sollten Mitgefühl haben mit allen, die unstet und flüchtig leben müssen, mit allen, die kein Zuhause haben. Die keine Familie, Freunde oder Nachbarn haben, die sich auf sie freuen. Wir sollten denen ins Gesicht sehen, an denen unser Blick sonst achtlos vorbeigleitet oder bei denen wir absichtlich wegsehen, und ihnen ein Lächeln schenken: Ein Zeichen unseres Respektes und unserer Wertschätzung. Wir sollten voller Mitgefühl und Solidarität sein mit allen, die wie Kain leben müssen, weil auch wir wie sie, weil auch wir wie Kain sind: wir sind Menschen, denen Gott vergeben hat.
Amen.