Sonntag, 24. Mai 2015

Glaubensfragen

Predigt über Johannes 14,23-27 am Pfingstsonntag, 24.5.2015 in der Fasanerie Hermannsfeld

Liebe Schwestern und Brüder,

Jesus nimmt Abschied.
Das Evangelium des Pfingstsonntages versetzt uns in Gedanken zurück an den Gründonnerstag, zum letzten Abendmahl, das Jesus mit seinen Jüngern feierte. Jesus spricht zu seinen Jüngern in der kurzen Zeitspanne zwischen dem Abendmahl und seiner Verhaftung im Garten Gethsemane. Es bleibt ihm nur noch wenig Zeit, und es gibt noch so viel zu sagen. Es sind die "Abschiedsreden Jesu", die im Johannesevangelium vier Kapitel füllen. Anders als wir, die wir beim Abschiednehmen oft keine Worte finden, hat Jesus noch viel mitzuteilen.

Mit den Antworten auf die Fragen seiner Jünger beginnt er.
Fragen, die von Zweifel erfüllt sind.
Fragen, die manchmal auch unsere Fragen sind.

I
„Wo gehst du hin?“, stellt Petrus die erste Frage. Jesus antwortet: „Dahin, wo du mir nicht folgen kannst. Denn dazu müsstest du sterben.“
Das Ziel des Glaubens: das Einssein mit Gott, das Ende aller Zweifel und Fragen, erreicht man erst nach dem Tod. So sehr wir uns manchmal wünschen, Gott möchte sich uns zeigen, möchte beweisen, dass es ihn wirklich gibt – so sehr halten wir auch an unserer Freiheit fest. Wir wollen, wir können sie nicht aufgeben, unsere Freiheit, die darin besteht, dass unser Wille nicht aufgeht in Gottes Willen. Wir wollen über den Weg unseres Lebens selbst bestimmen - und wir dürfen den Weg unseres Lebens selbst bestimmen. Auch, wenn diese Selbstbestimmung einen Preis hat: den schmerzlichen Preis des Getrenntseins von Gott.

„Welcher Weg führt zu Gott?“, stellt Thomas, der ungläubige Thomas, die zweite Frage.
„Ich bin der Weg“, antwortet Jesus. „Wenn ihr wisst, wer ich bin, werdet ihr auch Gott erkennen.“
Auf dem Weg zu Gott nehmen Menschen vieles auf sich: Halten Vorschriften ein, unterziehen sich religiösen Übungen, ziehen sich aus der Welt in die Einsamkeit eines Klosters zurück. Von all dem spricht Jesus nicht. Nur eins betont er: „Ich bin der Weg. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.“
Wollen wir zu Gott vordringen, führt an Jesus, dem Sohn Gottes, der unser Mitmensch, unser Bruder wurde, kein Weg vorbei. „Jesus ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben“, lautet die erste These der Barmer Theologischen Erklärung vom Mai 1934. Es gibt für uns Christinnen und Christen keinen anderen Weg zu Gott. Wir erkennen Gott nur durch das Leben und in der Gestalt des Menschen Jesus.
Dass Jesus der einzige Weg ist, bedeutet aber auch: Es braucht nicht mehr als den Glauben an Jesus, um zu Gott zu gelangen. Wir müssen nicht der Welt entsagen, um gläubig zu sein.

„Wie kann Gott sich in einem Menschen offenbaren?“, das ist die dritte Frage, die Philippus stellt.
Das Göttliche stellen wir uns als das ganz Andere vor, anders als die Welt, anders als wir. Wenn der Weg zu Gott nur über den Menschen Jesus führt, wie können wir sicher sein, dass Jesus wirklich Gottes Sohn und nicht ein Hochstapler ist? Wie können wir sicher sein, durch Jesus zum wahren, zum lebendigen Gott zu gelangen?
Jesus antwortet Philippus: „Du erkennst Gott nicht in mir, weil du dir Gott anders vorstellst, als er ist.“
Unsere Bilder, die wir uns von Gott machen, stehen uns im Weg, wenn wir Gott suchen. Dass Jesus Gott ist – ein schwacher Mensch, über den die anderen lästerten, als er am Kreuz starb – fällt uns schwer zu glauben.
Der einzige „Beweis“, den Jesus uns über seine Worte hinaus anbietet, sind seine Taten. Sie hätten als Beweise vor Gericht keinen Bestand. Es gibt keine unabhängigen Zeugen dafür, keine Protokolle, keine Indizien. Aber was er getan hat: Blinde machte er sehen, Lahme gehen; Kranken, Armen, Ausgestoßenen wandte er sich zu – all das spricht dafür, dass Jesus Gottes Sohn ist. Denn die Bibel beschreibt Gott als den, der auf der Seite der Armen und Rechtlosen steht und für sie eintritt.

II
Auf dem Weg der Einwände gegen Jesus, auf dem Weg des Zweifels kommt die vierte, die wichtigste Frage. Judas stellt sie, der Jünger mit dem gleichen Vornamen wie der, der Jesus verriet. Es ist die Frage, die alle Kritiker des Christentums stellen und die auch die Christen selbst sich immer wieder stellen:
Wie kommt es, dass damals niemand gemerkt hat, dass Jesus Gottes Sohn ist – außer denen, die seine Jünger geworden sind? Wenn Gott in unsere Welt einbricht: müsste das nicht zu spüren sein, müsste das nicht gewaltige Wellen schlagen?
Die Antwort, die Jesus auf diese Frage gibt, das Evangelium des heutigen Pfingstsonntages, lautet: „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten“.
Ist das eine Antwort auf die Frage?
„Wer mich liebt, der wird mein Wort halten“: Die Liebe zu Jesus - oder, allgemeiner gesagt, der Glaube an Gott - kommt nicht aus dem Befolgen der Gebote. Es ist genau andersherum: Erst kommt die Liebe, erst kommt der Glaube. Daraus ergibt sich dann das Befolgen der Gebote quasi von selbst. 
Der Glaube ist nicht "logisch", nicht zu erklären und nicht zu beweisen. Der Glaube ist auch nicht zu "machen" - indem man z.B. bestimmte Dinge tut oder nicht tut, indem man sich an die Gebote hält oder sich religiösen Übungen widmet.
Deshalb kommen Menschen nicht von selbst dazu, an Jesus zu glauben. Deshalb konnte und kann die Welt Jesus nicht erkennen - weil die Voraussetzung dafür der Glaube ist. Die Welt hat Jesus nicht erkannt, weil sie nicht geglaubt hat, dass Jesus Gottes Sohn ist. Das glauben nur die Wenigsten: die, die Jesus lieben.

III
„Wer mich liebt, wird mein Wort halten“, sagt Jesus. Der Glaube an Jesus hat etwas mit Liebe zu tun. Diese Liebe, von der Jesus spricht, ist etwas anderes als Verliebtsein in einen anderen Menschen. Und hat doch viel damit gemein.
Dass Menschen sich ineinander verlieben, dass der Funke überspringt, kann man ebenfalls nicht „machen“, das ist ebenfalls nicht "logisch", und weder zu erklären, noch zu beweisen. Es geschieht einfach - oft auf eine Weise, die zeigt, wie machtlos wir gegen die Macht der Liebe sind: 

Man verliebt sich z.B. in einen Menschen, der so gar nicht ins Bild passt, das man sich von seiner Traumfrau, seinem Traummann gemacht hat – sondern der oder die ganz anders, nämlich, wie man mit einem Mal merkt: viel wunderbarer ist. 

Oder es geschieht, dass man sich in einen Menschen verliebt, obwohl der schon an einen anderen Menschen gebunden ist, oder obwohl man selbst gebunden ist. Gegen alle Vernunft geschieht das, und man ist machtlos gegenüber dem, was da mit einem geschieht.

Mit der gleichen Macht bemächtigt sich Gott eines Menschen.
Dass wir Jesus lieben – dass er uns verzaubert, dass uns der Weg, den er ging, einleuchtet und sein Wort uns ergreift – das „geschieht“ mit uns.
Bei den Jüngern war es Jesus selbst, die Begegnung mit ihm, die sie verzauberte. Und bei uns? „Der Tröster, der heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“
Es ist Gottes Geist, der sich unser bemächtigt und der uns von Jesus überzeugt.

In der Geschichte vom Pfingstwunder ist von flammenden Zungen die Rede, die sich den Jüngern aufs Haupt setzen und sie befähigen, in fremden Sprachen zu reden. Sie sprechen in ihrer Muttersprache von dem, was sie erfüllt; von dem, der sie überzeugt hat. 
So ist Gottes Geist bis heute am Werk: 
Er ist da, wo Menschen von Jesus verzaubert werden: 
Er verzaubert sie. 
Er ist da, wo Menschen von Jesu Worten ergriffen werden: 
Er ergreift sie. 
Der Heilige Geist war schon oft in uns und in unserem Leben am Werk: Wir haben es nicht gespürt, aber trotzdem war er da. Deshalb wird die Geschichte vom Pfingstwunder jedes Jahr auf's Neue gelesen: Pfingsten passiert immer wieder, bei jeder und jedem von uns, ganz unspektakulär, aber genauso unwiderstehlich wie damals.

IV
Jesus lieben – das hat viel mit Verlieben zu tun, weil wir dies genauso wenig „machen“ können wie jenes. 
Zur Liebe gehört Respekt. Mit den Menschen, die wir lieben, gehen wir manchmal respektlos um. Wir wahren nicht den Abstand, den sie brauchen. Wir respektieren nicht die Grenzen, die jeder Mensch hat. 
Auch Jesus ist nicht unser "Kumpel". 

Wir wahren den Respekt gegenüber anderen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der andere, die andere uns nicht gehört, und wir mit ihr, mit ihm nicht umgehen können, wie wir wollen.
Wir wahren den Respekt, wenn wir uns eingestehen, dass die andere, der andere ganz anders ist als wir, und dass wir sie, dass wir ihn nicht wirklich kennen - und wahrscheinlich nie wirklich kennen werden. 
So ist es mit Jesus auch. Jesus ist anders, manchmal schmerzhaft anders, als wir ihn uns vorstellen. Jeden Sonntag hören wir von Jesus - und lernen stets auf's Neue, wer und wie Jesus ist.

Jesus lieben hat auch viel mit Nächstenliebe zu tun: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe“. Nächstenliebe zeigt sich in der Bereitschaft, vom eigenen Leben etwas an andere abzugeben. 
Nicht mehr zu fragen: Wieso denn gerade ich?, 
sondern: Wer denn sonst? 
Nicht mehr: Was wird aus mir?, 
sondern: Was wird aus den anderen?
Wohlgemerkt: Nicht als Bußübung, wie etwas, das man sich zur Strafe auferlegt. Sondern weil Jesus uns zuerst geliebt hat und noch liebt, weil wir erfüllt sind von dieser Liebe, die deshalb aus uns wie aus einem Brunnen überfließt zu anderen Menschen. 

V
Jesus hat Abschied genommen und ist fortgegangen. Vor zehn Tagen haben wir uns an Christi Himmelfahrt diesen Abschied vergegenwärtigt. Aber wir bleiben nicht allein zurück. Gottes Geist ist unter uns und in uns: er macht, dass uns Jesu Worte ergreifen. Er zeigt uns Gott, wie er wirklich ist, und er zeigt uns, wie sehr Gott uns liebt. 

Der Abschied gehört zu unserem Leben, und er gehört auch zu unserem Glauben. Jedes Jahr an Gründonnerstag, Himmelfahrt und Pfingsten werden wir daran erinnert, dass Jesus Abschied nehmen musste, damit wir seine Gemeinde werden konnten, die aus seiner Liebe, seinem Wort und seinem Frieden lebt. Jesus verabschiedet sich, damit das Leben einen neuen, geisterfüllten Anfang nehmen kann. Damit der Heilige Geist uns lehren kann, was wirkliches Leben ist, und wofür es sich zu leben lohnt.
Amen.