Freitag, 1. April 2016

Aufs Sehen verzichten

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 3. April 2016, über 1.Petrus 1,3-9:

Gelobt sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns wegen seiner großen Barmherzigkeit wieder gezeugt hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen, reinen und unverwelklichen Heilsbesitz, für euch im Himmel aufbewahrt, die ihr durch Gottes Macht bewahrt seid durch den Glauben zur Rettung, die bereitet ist, um zur letzten Zeit offenbart zu werden. In ihr jubelt ihr, die ihr jetzt ein wenig, wenn es sein soll, durch mannigfache Prüfungen betrübt werdet, damit die Echtheit eures Glaubens, die viel wertvoller ist als das vergängliche Gold, das doch durchs Feuer geprüft wird, erwiesen wird zu Lobpreis und Ruhm und Ehre bei der Offenbarung Jesu Christi. Ihn liebt ihr, obwohl ihr ihn nicht seht, an ihn glaubt ihr, ohne ihn jetzt zu sehen, doch jubelnd mit unaussprechlicher verklärter Freude, weil ihr das Ziel eures Glaubens erreicht, die Rettung eures Lebens.
(Eigene Übersetzung)


Liebe Schwestern und Brüder,

von Cat Stevens, der sich heute Yusuf Islam nennt, gibt es ein Lied, in dem er davon singt, was wäre, wenn er dies oder das nicht mehr könnte. "Moon shadow" heißt es auf Englisch. Er singt darin z.B.: "Sollte ich jemals meine Beine verlieren, würde ich weder klagen noch betteln, denn sollte ich jemals meine Beine verlieren, müsste ich nie wieder laufen. Und sollte ich jemals meinen Mund verlieren, meine Zähne oben und unten ausfallen, ja, sollte ich jemals meinen Mund verlieren, müsste ich nie wieder etwas sagen".

Ich weiß nicht, ob wir den Verlust einer Fähigkeit oder eines Körperteils so locker verkrafteten, wie Cat Stevens es in seinem Lied zu tun scheint. Vielleicht meint er es auch nicht ganz so ernst, und wahrscheinlich würde es ihm ziemlich viel ausmachen, wenn er nicht mehr laufen oder singen könnte. Aber bedenkenswert ist seine Anregung doch, nicht nur zu beklagen, was man verliert, sondern auch wahrzunehmen, was nun nicht mehr nötig ist oder was man vielleicht sogar gewinnt. Denn mit zunehmendem Alter büßen wir immer mehr Fähigkeiten ein. Die Ausdauer lässt nach, man kommt schneller aus der Puste als früher und hat auch keine Lust mehr, hinter einem Bus herzurennen. Man ist nicht mehr so beweglich wie man es als Jugendliche war, hört und sieht schlechter.

Den schleichenden Verlust seiner Fähigkeiten bemerkt man zum Glück kaum. Erst über einen längeren Zeitraum hinweg wird einem  bewusst, was nun nicht mehr geht, und manchmal bedauert man das. Schlimm ist es aber, wenn man plötzlich, von einem Moment zum nächsten, etwas nicht mehr kann, durch einen Unfall z.B. Davor haben viele Angst - ich auch. Meine größte Angst war immer, nicht mehr sehen zu können. Wir verlassen uns nun mal auf unsere Augen, wie ein Hund sich auf seine Nase verlässt.

II
Zu erblinden gehört für viele Menschen mit zum Schlimmsten, was man sich vorstellen kann. Die Farben, die Schönheit der Natur nicht mehr sehen zu können, sich selbst und die Menschen, die man liebt - eine schreckliche Vorstellung! Wie soll man sich zurechtfinden, wie überhaupt etwas finden oder etwas normalerweise so Einfaches schaffen, wie sich eine Tasse Kaffee einzuschenken? Wir verlassen uns so sehr auf unsere Augen, dass wir uns gar nicht vorstellen können, dass es überhaupt anders geht und dass natürlich auch ein blinder Mensch sich selbst eine Tasse Kaffee einschenken kann, ohne zu kleckern.

Wir sind Augenwesen, für die Sehen etwas Selbstverständliches ist - so selbstverständlich, dass wir nur glauben, was wir mit eigenen Augen sehen. So wie Thomas im Evangelium, so sind auch wir: wir möchten sehen und begreifen, etwas anfassen, um es im Wortsinn zu be-greifen, wie Thomas seinen Finger in die Wunde legen wollte. Wenn es sich um komplizierte oder empfindliche Dinge handelt, verbietet deshalb oft ein Schild: "Bitte nicht berühren!" Denn man würde doch zu gerne mal nur ganz kurz ein kleines bisschen mit dem Finger …

Der Glaube ist so gar nichts für uns Augenwesen, denn da gibt es nichts zu sehen. Zwar haben Künstler zu allen Zeiten sich und den Gläubigen ausgemalt, wie Jesus ausgesehen haben könnte. Haben die Geschichten der Bibel bebildert und ihren Protagonisten Gestalt und Charakter gegeben. Haben Himmel und Hölle in den schönsten oder düstersten Farben geschildert und mit Engeln oder grausamen Fabelwesen bevölkert. Aber den Glauben konnten sie mit all ihrer Kunst nicht wecken und schon gar nicht beweisen.

III
Beim Glauben versagt unser wichtigster Sinn, das Sehen. Er kann uns da überhaupt nicht helfen, ja, manchmal ist er uns richtig im Wege. Vielleicht schließt mancher deshalb beim Beten die Augen: um nicht abgelenkt zu werden von äußeren Reizen und sich ganz auf die Wirklichkeit des Glaubens zu konzentrieren.

Ich habe mal mit Jugendlichen an einem "Dialog im Dunkeln" teilgenommen. Dabei ging es darum, zu erleben, wie ein Blinder die Welt wahrnimmt. Wir bekamen einen Blindenstock in die Hand, uns wurde erklärt, wie man damit den Weg ertastet - indem man ihn nicht wie einen Stock umfasst, sondern ihn als verlängerten Zeigefinger benutzt -, dann führte uns ein Blinder durch ein stockdunkles Labyrinth von Räumen. Er "sah" den richtigen Weg, wo wir uns im Dunkeln hoffnungslos verirrt hätten. Es war so komplett dunkel, dass es keine Rolle spielte, ob man die Augen auf oder zu hatte. Doch zu meiner Überraschung konnte ich mich schon nach kurzer Zeit zurechtfinden und "sah" mit meinem Blindenstock mehr, als ich geglaubt hatte. Gehör, Gefühl und auch Geruchssinn ersetzten das fehlende Sehen.

Glaube ist kein Ersatz fürs Sehen. Er ist vielmehr ein Sinn, der aktiviert wird, wenn wir auf das Sehen verzichten. Darauf verzichten, zu beweisen, zu begreifen, sondern uns der Wirklichkeit Gottes auf andere Weise nähern. Der Wissenschaftler rümpft darüber die Nase, der moderne Mensch findet es peinlich oder primitiv. Sie ahnen nicht, was ihnen entgeht.

IV
Was bekommt denn der Glaube zu "sehen", was dem Nichtglaubenden entgeht?
Ich würde sagen: Ein glaubender Mensch steht über den Dingen. Er oder sie steht sozusagen neben sich und betrachtet sich und die Welt aus einer anderen Perspektive, mit anderen Augen. Das ist eine Erfahrung, wie ich sie beim "Dialog im Dunkeln" machen konnte. Mit einem Mal merkt man, dass man seine Umwelt auch anders "sehen" kann. Grenzen werden durchlässig, Überzeugungen geraten ins Wanken. Sätze wie "das war immer schon so", "das gehört sich so" oder "das muss nun mal so sein" werden einem plötzlich verdächtig. Man beginnt sich zu fragen, ob wirklich alles so sein und bleiben muss, wie es ist, oder ob es nicht auch anders ginge. Liebevoller. Freundlicher. Gerechter. Hoffnungsvoller.

Wenn Grenzen ins Fließen geraten und Überzeugungen wanken, beginnt man auch, die Werte und Ziele infrage zu stellen, an denen man sich bisher orientierte. Ist Geld wirklich das Wichtigste im Leben? Muss ich mir alles leisten können, muss ich alles kaufen, was es gibt? Ist unsere Art zu wirtschaften wirklich "alternativlos"? Ist unsere Freiheit tatsächlich nur um den Preis vertriebener Familien, unsere Ernährung tatsächlich nur um den Preis der Tierquälerei und der Schädigung der Umwelt, unser Wohlstand tatsächlich nur um den Preis verhungernder Kinder, zerstörter Natur, vergifteter Luft, Wasser und Erde zu haben?

Der Glaube bekommt all das Unrecht zu sehen, das in der Welt geschieht und für das wir mit verantwortlich sind, und das ist kein schöner Anblick. Der Glaube sieht aber auch die Hoffnung, dass unsere Welt noch zu retten ist; die Hoffnung, dass der Mensch gut sein kann; die Hoffnung, dass unser Leben einen Sinn hat, der darüber hinausgeht, Konsument und ein gutgläubiger Depp für die Wirtschaft zu sein. Der Glaube sieht, dass jeder Mensch schön ist und dass diese Schönheit unschätzbar und unbezahlbar ist.

V
"Ihn, Jesus Christus, liebt ihr, obwohl ihr ihn nicht seht; an ihn glaubt ihr, ohne ihn jetzt zu sehen".
Der Glaube tut das in den Augen der "vernünftigen" Menschen Verrückte und hält sich an Christus. Wie von einem Blindenstock lässt er sich von Jesus durch die Wirklichkeit führen und sieht mit geschlossenen Augen mehr als viele kluge Wissenschaftler, Politiker oder Unternehmer. Denn er sieht die Konsequenzen. Er sieht die Mitmenschen, und er sieht die Zukunft. Er sieht die Schönheit dieser Welt, ihrer Pflanzen, Tiere und Menschen, die von unserer Gier, unserem rücksichtslosen Raubbau bedroht ist. Und so öffnet er sich für die andere Wirklichkeit, die Wirklichkeit Gottes, die Liebe. 
Martin Luther hat es in seiner Schrift "Von der Freiheit eines Cristenmenschen" so beschrieben:
"Aus dem allen ergibt sich die Folgerung, dass ein Christenmensch nicht in sich selbst lebt, sondern in Christus und in seinem Nächsten; in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe. Durch den Glauben fährt er über sich in Gott, aus Gott fährt er wieder unter sich durch die Liebe und bleibt doch immer in Gott und göttlicher Liebe".
Für diese Freiheit eines Christenmenschen öffnet der Glaube uns den Sinn: Er lässt uns Gottes Liebe zu uns erkennen, und er macht uns empfänglich für die Not und die Schönheit unserer Mitmenschen und Mitgeschöpfe. Es ist eine ganze Welt, die uns der Glaube aufschließt; eine Wirklichkeit, von der uns Hören und Sehen vergehen. Lassen wir sie vergehen. Unser Herz wird uns sagen, was zu tun ist.
Amen.