Sonntag, 31. Juli 2016

Bekenntnis zur Bedürftigkeit

Predigt am Israelsonntag, 31. Juli 2016, über Römer 9,1-8.14-16


Liebe Schwestern und Brüder,

haben Sie am Freitag die Bilder des Besuches von Papst Franziskus im Konzentrationslager Auschwitz gesehen?
Er hat nicht, wie man es von einer solchen Persönlichkeit erwartet, eine bewegende Rede gehalten; Franziskus schwieg. Er setzte sich in die Zelle, in der Pater Kolbe verhungerte; er betete das jüdische Totengebet, das Kaddisch, mit, und ins Gästebuch von Auschwitz schrieb er:
„Herr, habe Erbarmen mit deinem Volk!
Herr, vergib uns so viel Grausamkeit.“

Franziskus ist gebürtiger Argentinier.
In Argentinien haben viele der damaligen Täter Unterschlupf gefunden. Adolf Eichmann, der Organisator des millionenfachen Mordens, lebte dort jahrelang unerkannt und unbehelligt, bis ihn der Mossad fand und einem Gerichtsverfahren zuführte.

Die Argentinier, und Franziskus im Besonderen, trifft natürlich trotzdem keine Schuld an Auschwitz. Die haben allein wir Deutschen zu tragen - selbst dann, wenn wir die „Gnade der späten Geburt“ für uns in Anspruch nehmen. Unsere Eltern oder Großeltern waren in der einen oder anderen Weise Mitläufer oder sogar Mittäter dieses unmenschlichen Regimes des Nationalsozialismus; als ihre Kinder und Enkel haben wir diese Schuld von ihnen geerbt. Für alle Zeiten wird der Name „Auschwitz“ und was dort geschah mit Deutschland verbunden bleiben. 

Franziskus bat Gott um Vergebung für diese Verbrechen. Damit stellt er sich zu den Schuldigen, obwohl er es seiner leiblichen Abstammung nach nicht ist.
Warum hat er das getan?

Die Antwort finden wir im Predigttext des Israelsonntages im Römerbrief im 9. Kapitel:

1 Ich sage die Wahrheit in Christus, ich lüge nicht; mein Gewissen bezeugt es im Heiligen Geist:
2 Ich habe großen Kummer, und unaufhörliche Herzensschmerzen.
3 Denn ich wünschte, ich selbst wäre von Christus verflucht zugunsten meiner Brüder, meiner leiblichen Volksgenossen,
4 die Israeliten sind,
denen die Gotteskindschaft gehört
und die Ehre
und der Bund Gottes
und die Tora
und der Gottesdienst
und die Verheißungen,
5 von denen die Väter herkommen und Christus in seiner leiblichen Natur, der ist Gott über alles und sei gelobt in Ewigkeit, Amen.
6 Es ist durchaus nicht so, dass Gottes Wort hinfällig geworden wäre. Denn nicht alle aus Israel sind Israel.
7 Noch sind alle Nachkommen Abrahams Gottes Kinder, sondern “in Isaak soll deine Nachkommenschaft bestehen“ (Genesis 21,12).
8 Das heißt: Nicht die leiblichen Nachkommen sind Gottes Kinder, sondern die Kinder der Verheißung werden zur Nachkommenschaft gezählt.
14 Was bedeutet das?
Gibt es etwa Ungerechtigkeit bei Gott?
Keinesfalls!
15 Er sagt nämlich zu Mose (Exodus 33,19):
„Ich erbarme mich dessen,
dem ich mich erbarmen werde,
und habe Mitleid mit dem,
dem ich Mitleid erweisen werde.“
16 Also liegt es weder am Willen noch am Fleiß, sondern an Gottes Erbarmen.

I
In diesem Abschnitt des Römerbriefes geht es um eine wichtige, ja, zentrale Frage des christlichen Glaubens: 
Es geht um unser Verhältnis zu Gottes erwähltem Volk, zu Israel, und um die Frage, ob wir uns dazu zählen dürfen - ob also auch wir Gottes Kinder sind, und ob die Verheißungen der Bibel an Israel auch uns gelten.
Im Alten Testament ist das Verhältnis Gottes zu seinem Volk exklusiv: alle anderen Völker sind aus diesem Verhältnis ausgeschlossen. Und noch im Neuen Testament finden sich Spuren eines Streites darüber, ob man Jude sein muss, um Christ werden zu können, oder nicht. Paulus vertritt in diesem Streit die Meinung, dass es nicht nötig ist; es dauert Jahre, bis er sich durchsetzen und das Evangelium auch zu den Griechen und schließlich sogar zu den Bürgern Roms tragen kann - wenn auch wohl nicht persönlich, sondern nur in einem Brief.

Paulus musste eine Antwort auf die Frage finden, wie es sein kann, dass Menschen, die nicht jüdischer Abstammung sind, Gottes Gaben an Israel erben können, wenn doch nur die leiblichen Nachkommen erben?
Aber eine Antwort auf diese Frage allein genügt nicht; sie zieht noch einen ganzen Rattenschwanz weiterer Fragen nach sich, z.B.:
Wenn wir Christen tatsächlich Gottes Kinder sind, was wird dann aus den Juden? Sind sie nicht mehr Gottes Kinder? 
Aber wenn sie nicht mehr Gottes Kinder wären, würde Gott sich ja selbst widersprechen, denn er hat doch seinen Bund mit ihnen geschlossen!? 
Aber wenn dieser Alte Bund - oder das Alte Testament, wie es auch heißt - nicht mehr gelten sollte, wer gerantiert uns dann, dass der Neue Bund - oder das Neue Testament - gilt, dass Gott es sich nicht vielleicht einmal anders überlegt?

Zu recht sagt Paulus, dass es keinesfalls so sein kann, dass Gott ungerecht ist - denn wenn selbst Gott nicht gerecht wäre, dann gäbe es überhaupt keine Gerechtigkeit mehr. 
Dann kann das aber doch nur bedeuten, dass Israel noch immer Gottes auserwähltes Volk ist und bleibt, dass Gottes Verheißungen für Israel in Kraft sind und bleiben. Und zugleich gilt auch, dass wir Gottes Kinder sind und deshalb auch zu Gottes Bund gehören.

II
Das Problem ist also:
Wie kann Gott sich selbst und seinem Versprechen treu bleiben, dass Israel sein auserwähltes Volk ist, und zugleich seinen Bund auch für Menschen öffnen, die nicht jüdischer Abstammung sind?

Die Lösung dieses Problems, die Paulus in der Bibel, im zweiten Buch Mose, fand, ist genial - und genial einfach. 
Sie lautet:
„Ich erbarme mich dessen,
dem ich mich erbarmen werde,
und habe Mitleid mit dem,
dem ich Mitleid erweisen werde.“

Diese Worte klingen sehr willkürlich. Ein absoluter Herrscher oder ein Diktator würde wohl sagen: „Ich erbarme mich, wem ich will“ - so klingen diese Sätze für uns beim ersten Hören.

Aber Gott sagt das nicht.

Diese Sätze haben eine große Ähnlichkeit mit einer anderen Selbstvorstellung Gottes, die sich ebenfalls im 2. Buch Mose findet: Als Mose Gottes Stimme aus dem brennenden Dornbusch hört, fragt er Gott nach seinem Namen. Gott aber verrät seinen Namen nicht, sondern antwortet (Exodus 3,14):
„Ich werde sein, der ich sein werde.“

Das klingt beim ersten Hören auch wieder nach Willkür: Gott ist eben so, wie er ist, und basta.

Aber auch das sagt Gott nicht.

III
Gott zeigt sich an beiden Stellen als der, der etwas tut - sich erbarmen, Mitleid haben, oder „sein“ - nicht im Sinne von „da sein“, sondern im Sinne von „für jemanden da sein“. Gott ist einer, der sich den Menschen erbarmend, mitleidig, fürsorgend zuwendet.

Wann braucht man Mitleid, Erbarmen, Fürsorge?
Nicht, wenn's einem gut geht.
Darum ist es auch kein Wunder, dass Menschen, die alles haben, die gesund und deren Sorgen klein sind, nicht nach Gott fragen und nicht im Gottesdienst auftauchen: Sie brauchen Gott nicht.

Erbarmen sucht man, wenn man etwas ausgefressen hat. Wenn man eine Verantwortung nicht tragen, mit den Folgen einer Schuld nicht leben kann.
Mitleid sucht man, wenn es einem schlecht geht, wenn man leidet und im Leiden nicht allein sein möchte, sondern Verständnis sucht und Trost.

Sind wir, die wir heute im Gottesdienst zusammenkommen, solche Leute? 
Haben wir alle etwas ausgefressen, 
geht es uns allen so schlecht?

Ich denke nicht, dass wir schlechter, ärmer dran sind als die, die nicht zum Gottesdienst kommen. 
Was uns allerdings von ihnen unterscheidet, ist unser Wissen darum, dass es so sein könnte
Wir wissen, dass unser Wohlstand, unsere Gesundheit, unser Glück nicht garantiert sind und nicht ewig andauern können.
Wir wissen, dass wir schuldig werden können, weil wir Verantwortung übernehmen für das, was wir tun.
Wir wissen um unsere Bedürftigkeit.
Darum rufen wir zu Beginn des Gottesdienstes:
Kyrie, eleison! - Herr, erbarme dich!“
Dieser Ruf ist nicht so sehr eine Bitte als vielmehr ein Bekenntnis, dass wir auf Gottes Mitleid und Erbarmen angewiesen sind, weil wir Menschen sind.

IV
Wenn Gott nun zu Mose sagt:
„Ich erbarme mich dessen,
dem ich mich erbarmen werde,
und habe Mitleid mit dem,
dem ich Mitleid erweisen werde“,
dann sagt er damit:
Wer sich an mich wendet, weil er Erbarmen oder Mitleid sucht, dem werde ich mich erbarmen; dem werde ich Mitleid erweisen.
Gott wendet sich uns zu, sofern wir unsere Bedürftigkeit erkennen und bekennen - daher der Ruf: Kyrie, eleison!

Die Voraussetzung für Gottes Mitleid und Erbarmen ist also nicht eine leibliche Abstammung, eine Zugehörigkeit
Voraussetzung sind auch nicht Wille oder religiöser Fleiß. 
Voraussetzung ist die Bedürftigkeit
Wer Gott braucht, für die oder den ist Gott da: „Ich werde sein, der ich sein werde“.

Wenn wir eine Mutter oder einen Vater brauchen, dann wird Gott unsere Mutter, unser Vater sein. 
Dann sind wir seine Kinder, wenn wir - wie Kinder nach der Hand von Vater oder Mutter - nach Gottes Hand greifen.
Es gibt keine Zugehörigkeit, kein Drinnen und Draußen, es gibt nur die Bedürftigkeit. Allein sie macht uns zu Gottes Kindern.

Mit anderen Worten:
Ob wir zu Gott gehören oder nicht, kann kein Mensch, keine Autorität, kein Papst, keine Pastorin entscheiden oder erlauben - und wir brauchen niemanden um Erlaubnis zu fragen. 
Ob wir zu Gott gehören, entscheidet sich allein daran, dass wir erkennen und bekennen, dass wir Gott brauchen. Wer das für sich erkannt hat, ist ein Kind Gottes.

V
Auf diese Weise kann beides nebeneinander bestehen: Die Verheißung Gottes an sein Volk Israel und sein Versprechen, dass er sich denen zuwendet, die ihn brauchen.
Paulus nimmt also den Juden weder die Gotteskindschaft weg noch den Bund, den Gott mit Israel geschlossen hat, weder die Gebote, noch den Gottesdienst, der in der Synagoge seinen Ursprung hat, sondern öffnet sie für alle Menschen, die nach Gott fragen.

Solche Öffnungen des Glaubens für alle Menschen hat es immer wieder gegeben: 
Martin Luther öffnete in der Reformation die Bibel für alle Menschen, weil das Wort Gottes nicht den Fachleuten vorbehalten bleiben sollte. 
Und in der neusten Zeit wurden kirchliche Ämter für Frauen geöffnet, weil die Predigt nicht den Männern vorbehalten bleiben sollte. 

Immer waren Mitleid und Erbarmen die leitenden Kräfte dieser Öffnungen. Weil man daran erkennen kann, dass Gott kein ausschließender Gott ist, sondern ein einschließender, der sich allen Menschen zuwendet, die nach ihm fragen.

VI
Können wir jetzt verstehen, warum Franziskus in das Gästebuch von Auschwitz schrieb:
„Herr, habe Erbarmen mit deinem Volk!
Herr, vergib uns so viel Grausamkeit“?
Wir sind nicht wie Gott. Wir kennen oft kein Mitleid, kein Erbarmen. Wir schließen Menschen aus - weil sie nicht unsere Sprache sprechen, nicht so aussehen, sich nicht so verhalten wie wir -, statt sie einzuschließen, einzuladen.

Unsere Vorfahren haben Juden ausgeschlossen allein deshalb, weil sie Juden waren, weil sie anders glaubten, anders lebten als sie. Das reichte als Grund für Demütigung, Ghettoisierung, Verfolgung, Ermordung.
Unsere Vorfahren waren aber keine schlechteren Menschen als wir. Sie waren Menschen - wie wir. 
Wie unsere Vorfahren haben auch wir die Möglichkeit, schuldig zu werden, das Falsche zu tun, das Rückgrat zu verlieren gerade dann, wenn es gebraucht wird.
Franziskus war so weise zu erkennen, dass auch er, trotz seines Papstamtes, ein Mensch ist. Und weil er das erkannte, bat er Gott um Erbarmen und Vergebung.

Amen.