Freitag, 13. Oktober 2017

Loslassen

Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 15. Oktober 2017, über Markus 10,17-27


Liebe Schwestern und Brüder,

„man kann doch über alles reden!“ – so behauptet eine Redewendung. 
„Man kann doch über alles reden!“, das bedeutet: 
Bei etwas gutem Willen auf beiden Seiten ist eine Verständigung möglich. 
Und wo man sich verständigt hat, da versteht man sich, 
da ist das Problem, ist der Streit gelöst.

„Man kann doch über alles reden!“ 
Sieht man genauer hin, klappt die Verständigung oft nicht. 
Zwar reden da zwei, aber sie reden nicht miteinander. 
Es scheint ein Gespräch stattzufinden,
in Wirklichkeit aber bleibt jeder bei sich, bei seiner Meinung; 
bleibt auf seinem Anliegen sitzen, weil  jeder etwas anderes will vom anderen,
aber keiner von beiden merkt es.

Ein solches Gespräch ist enttäuschend. 
Enttäuschend für mindestens eine Person.
Eine, einer resigniert, gibt auf, ist unzufrieden, geht traurig weg. 
Und auch den, der dieses Gespräch mit anhört, lässt es leer zurück. 
Die Enttäuschung, die Traurigkeit überträgt sich auf den Zuhörer.

I
Der Predigttext vom „reichen Jüngling“ gibt ein solch enttäuschendes Gespräch wieder:
„Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon“,
so endet für den reichen jungen Mann das Gespräch mit Jesus.

Dabei waren die Bedingungen für eine Verständigung denkbar günstig.
Zu Jesus kommt nicht, wie so häufig, ein Gegner. 
Einer, der ihn „versuchen“, ihn auf die Probe stellen will 
und hofft, ihn bei einem Fehler zu ertappen und überführen zu können. 

Der sich so ehrerbietig vor Jesus verbeugt und mit „guter Meister“ anredet,
ist kein Gegner, der Jesus mit Schmeicheleien einwickeln will, sondern ein Fan. 
Einer, der zu Jesus gekommen ist, weil er die Gelegenheit nutzen will, 
diesem größten aller Meister eine Frage zu stellen. 
Eine für ihn sehr wichtige Frage.
Er ist überzeugt, von ihm eine Antwort zu erhalten, die ihn ans Ziel seiner Wünsche bringt.

Die Situation ist spannend.
Stellen Sie sich nur vor, wir hätten Gelegenheit, jemanden wie Jesus zu treffen 
und ihm Auge in Auge gegenüber zu stehen.
Stellen Sie sich vor, wir könnten ihm eine Glaubensfrage stellen: 
Wie schwer wäre es, die richtige Frage zu finden und die richtige Formulierung!

II
Der junge Mann hat sich seine Frage gut überlegt: 
„Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ 
Eine klare, unmissverständliche Frage, wie es scheint. 
„Was soll ich tun?“ - das müsste doch eindeutig zu beantworten sein.

Aber Jesus geht nicht auf die Frage ein, 
sondern herrscht den jungen Mann schroff an: 
„Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein!“
Als Zuhörer zuckt man innerlich zusammen. Musste das denn sein? 
Da kommt einer zu Jesus, ist ihm wohlgesonnen, trägt höflich seine Bitte vor, 
aber seine Freundlichkeit wird beantwortet mit dem Hinweis auf einen Formfehler: 
„Du hast mich nicht mit „gut“ anzureden; das gebührt allein Gott.“ 
So wird das Gespräch beinahe schon im Keim erstickt.

Aber dann antwortet Jesus doch auf die Frage, 
und der schroffe, abweisende Ton scheint sich fortzusetzen: 
„Du kennst die Gebote: ‚Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.’“
Jesus zitiert aus den Zehn Geboten. 
Er zitiert die sogenannte „Zweite Tafel“ des Gesetzes.

In der Bibel ist von zwei Steintafeln die Rede (2.Mose 34,1), 
auf die Gott die Gebote geschrieben und sie dann Mose übergeben hatte. 
Aufgrund dieser Darstellung der Bibel hat man die Zehn Gebote auf zwei „Tafeln“ aufgeteilt: 
Die „erste Tafel“ enthält die Gebote, die Gott gelten.
Die „zweite Tafel“, die Jesus hier in einer etwas anderen als der gewohnten Reihenfolge zitiert, enthält die Gebote, die den Menschen gelten. 
Wobei Jesus mit „du sollst niemanden berauben“ nicht ein neues Gebot erfunden hat, 
sondern die letzten beiden Gebote vom „Begehren“ zu einem zusammengefasst hat. 
Also war Jesus – zumindest, was die Zehn Gebote betrifft – kein „Lutheraner“, sondern ein „Reformierter“.

III
Jesus scheint von dem jungen Mann, der mit seinem Anliegen zu ihm gekommen ist, nicht viel zu halten: 
Erst tadelt er ihn, weil er ihn falsch angesprochen hat, 
dann speist er ihn mit einer Aufzählung der Zehn Gebote ab. 
Er sagt ihm nichts Neues.
Er hat für diesen hoffnungsvollen jungen Mann keine Botschaft.
Nur das, was der längst kennt und schon im Konfirmandenunterricht gelernt hat. 
Die altbekannten Worte, die sich der junge Mann von jedem x-beliebigen Rabbi, 
ja, von jedem Gläubigen hätte sagen lassen können.
Die er im übrigen selbst gut und genau kennt. 
Und das zeigt er Jesus jetzt. 
Denn der junge Mann gibt nicht auf. 
So leicht lässt er sich nicht abspeisen und abweisen. 
Er versucht noch einmal, mit Jesus ins Gespräch zu kommen: 
„Meister“ (man beachte die jetzt korrekte Anrede!), 
„Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.“ 

Hier spricht jemand mit Jesus, der es wirklich ernst meint mit dem Glauben. 
Und damit gewinnt er Jesus. 
Der nimmt ihn zum ersten Mal, so scheint es, überhaupt wahr: 
Er „sah ihn an und gewann ihn lieb“
Plötzlich ist Zuneigung da. 
Der junge Mann hat sein Herz gewonnen und damit seine Sympathie und seine Aufmerksamkeit.
Agapáo – das griechische Wort kann man mit „lieb gewinnen“ übersetzen. 
Man kann es aber auch so verstehen, 
dass Jesus den jungen Mann liebevoll berührte, 
ihn über den Kopf strich oder ihn in den Arm nahm. 
Das Eis ist gebrochen.

IV
Endlich bekommt der junge Mann, was er sich erhoffte: 
Die ungeteilte Aufmerksamkeit Jesu. 
Und eine Antwort auf seine Frage, die mehr ist als der Rückgriff auf Altbekanntes. 
Aber die Antwort, die Jesus gibt, hat er nicht gesucht und nicht erwartet: 
„Eines fehlt dir. Geh hin und verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, 
so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“

Er hatte ja nicht nach einem „Schatz im Himmel“ gefragt. 
Er hatte an seinen irdischen Besitztümern genug 
und brauchte sich nicht nach einem himmlischen Schatz zu sehnen. 
Außerdem wusste er, dass jede gute Tat einen himmlischen Schatz anhäuft, 
und davon hatte er bestimmt ebenso viel wie an irdischen Gütern zusammen­gebracht. 
Nein, der junge Mann wollte doch von Jesus wissen, 
wie er „das ewige Leben ererben“ könnte. 

Das, was dazu getan werden musste, 
erwartete der junge Mann in etwa auf der Linie der Zehn Gebote. 
Schon irgendwie mehr als das. 
Aber auf keinen Fall ein so radikaler Schritt 
wie die Aufgabe seiner bisherigen Lebensweise und Existenz. 
Alles weggeben, was man hat, und sich in ein Leben ohne jede Sicherheit wagen? 
Er war doch kein religiöser Fanatiker! 
Er wollte nicht schon mit jungen Jahren wegen Unterernährung in den Himmel kommen, 
sondern einmal, am Ende eines hoffentlich langen und erfüllten Lebens, 
in Frieden sterben können in der Gewissheit, 
dass ihn dann das Ewige Leben erwarten würde.

Die Antwort Jesu ist beinahe noch abweisender, als es der Anfang des Gespräches war. 
Zwar lädt er ihn ein, sein Jünger zu werden, 
aber was er von ihm dafür verlangt, kann man guten Herzens nicht verlangen. 
Jesus ist überhaupt nicht auf den reichen Jüngling eingegangen. 
Er hat ihn nicht „abgeholt“ bei dem, was er verstehen und annehmen konnte.
Für so einen guten Menschen wie ihn, 
der mit seinem Reichtum sicher verantwortungsvoll und großzügig umging, 
gab es doch gar keinen Grund, etwas zu ändern. 

Und dabei hatte Jesus ihn doch „liebgewonnen“! …

V
Das Gespräch – wenn es denn überhaupt ein Gespräch war 
und nicht nur ein Aneinandervorbeireden 
– das Gespräch ist mit der unerhörten und unmöglichen Forderung Jesu zuende. 
Es bleibt nichts mehr zu sagen.

Der junge Mann ist enttäuscht. 
Das Gespräch hat ihn traurig gemacht, und man kann das verstehen. 
Er ist nicht verstanden worden. 
Da gab es, trotz aller überraschend erwiesenen Zuneigung, 
kein Entgegenkommen, kein für ihn annehmbares Angebot. 
Vielmehr muss man den Vorschlag, den Jesus dem jungen Mann machte, 
geradezu als Schlag ins Gesicht, als Ohrfeige verstehen. 
Jesus hätte sich in ihn einfühlen können und müssen, 
er hätte ihn „abholen“ müssen bei dem, was er verstehen und vertragen konnte.

Ist das Gespräch deswegen gescheitert?
Ist es die Schuld Jesu, dass aus dem reichen Jüngling kein Jünger geworden ist?

VI
Vielleicht hat niemand einen Fehler gemacht. 
Vielleicht haben da wirklich zwei aneinander vorbei geredet. 
Vielleicht war es unvermeidlich, 
dass der reiche Jüngling enttäuscht werden musste.
Es war „vorprogrammiert“ durch die Art, wie der Jüngling das Gespräch gesucht und begonnen hat:
Er begann mit einer Frage.

Daran ist an sich nichts Falsches. 
„Man wird doch wohl noch fragen dürfen!“
Aber ja! – bloß, was tut man, wenn man fragt? 

Wer so wie dieser junge Mann fragt 
- und der junge Mann fragt ja letztlich nach Gott -, 
der sucht eigentlich nicht die Wahrheit, 
- sucht also eigentlich nicht Gott.
Wer so fragt, stellt sich jenseits von Wahrheit und Lüge. 
Dem geht es nicht um die Wahrheit, sondern um etwas anderes.

Was aber sucht der reiche Jüngling dann, 
wenn er Gott nicht wirklich sucht? 
Was tut er mit seiner Frage 
„Was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ 

Er zeigt mit seiner Frage, dass er davon ausgeht, 
dass man für das Ewige Leben etwas „tun“ kann.
Dass es also – wie auch seine Besitztümer – durch irgendeine Leistung erreichbar sein muss. 
Und er weiß auch, durch welche: Durch das Halten der Gebote. 
Er will nur sicher gehen, dass er da nichts übersehen, nichts vergessen hat. 
Deshalb fragt er bei Jesus nach.

Er bringt also schon eine Menge an Vorwissen mit, 
das er auch gar nicht hinterfragt haben möchte, 
sondern bestätigt, höchstens noch ergänzt. 
Mit seiner Frage sucht er also die Bestätigung seiner selbst
Er möchte wissen, dass er auf dem richtigen Weg ist.
Er will nicht verunsichert, nicht ent-täuscht werden. 
Deshalb macht ihn die Antwort Jesu auch so traurig.
Sie bringt etwas ganz Anderes, etwas Neues ins Spiel.
Etwas, womit der Reiche Jüngling nicht gerechnet,
etwas, das er nicht erwartet hatte: 
Die Forderung, auf den Besitz zu verzichten.
Nicht nur den materiellen, sondern auch den an Vorwissen.

Jetzt fällt auf, was wir vorhin übersehen haben: 
Jesus hat nur die Gebote der „zweiten Tafel“ zitiert. 
Von der „ersten Tafel“, von Gott, war nicht die Rede. 
Die Frage nach dem Ewigen Leben ist aber eigentlich die Frage nach Gott: 
Wie man so leben kann, dass man eines Tages, wie Mose, 
Gott von Angesicht zu Angesicht sehen darf?

VII
Von Gott konnte nicht die Rede sein. 
Es war kein Platz für ihn. 
Da war schon der Besitz, da waren die vielen Güter. 
Und da war das Vorwissen, das Vor-Urteil, 
dass man so, wie man durch Leistung Besitz erwerben kann, 
auch durch seine Glaubensleistung eines Tages das Ewige Leben erhält.

Jesus hat mit seiner Antwort den empfindlichen Punkt getroffen.
Um Gott fassen zu können musste der junge Mann loslassen
loslassen, woran er am meisten hing. 
Das konnte er nicht.
Und er begriff, dass er das nicht konnte. 
Deshalb ging er traurig weg. 
Nicht, weil sein Fragen nicht zum Ziel gekommen ist. 
Nicht, weil das Gespräch scheiterte. 
Sondern weil ihm klar wurde, dass er diesen Schritt zu Gott hin nicht gehen konnte.

Das lag an seinem Reichtum. 
Aber es ist kein ausschließliches Problem der Wohlhabenden. 
Das wird den Jüngern schlagartig klar.
Deshalb erschrecken, ja entsetzen sie sich.
Damit Menschen Gott begegnen können, müssen sie erst Platz schaffen. 
Müssen innerlich leer werden und sich lösen von dem, was diesen Platz besetzt hält. 
Es ist sehr schwer, das loszulassen, woran man so sehr hängt. 
Nicht nur materielle Dinge, nicht nur Personen. 
Es ist auch sehr schwer, ja beinahe unmöglich, 
eingeschliffene Denkmuster, gepflegte und geliebte Vorurteile loszulassen,
feste Überzeugungen zu verändern. 
Da geht eher ein Kamel durch ein Nadelöhr 
Und doch hängt unsere Seligkeit daran, 
dass es uns gelingt, uns der Wahrheit, uns Gott zu öffnen. 
Die Jünger fragen sich zu recht: 
„Wer kann dann selig werden?“ 

Auch diese Frage beantwortet Jesus. 
Diesmal ist seine Antwort keine Zumutung, sondern eine Tröstung, 
weil sie vom eigenen Tun wegweist auf den, 
um den es die ganze Zeit unausgesprochen ging: auf Gott.
„Bei den Menschen ist’s unmöglich, aber nicht bei Gott; 
denn alle Dinge sind möglich bei Gott.“


Amen.