Sonntag, 27. Oktober 2024

Treue

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis, 27.10.2024, über Micha 6,1-8:

Hört doch, was Gott sagt:
Los, streite mit den Bergen
und lass die Hügel deine Stimme hören!

Hört, ihr Berge, wie Gott wettert,
hört hin, Grundfesten der Erde!
Denn Gott streitet sich mit seinem Volk,
mit Israel liegt er im Clinch:

Mein Volk, was habe ich dir getan?
Womit habe ich dich ermüdet? Antworte mir!
Weil ich dich aus Ägypten heraufführte,
dich aus dem Sklavenhaus befreite?
Weil ich Mose, Aaron und Mirjam vor dir hersandte?
Mein Volk, erinnere dich doch daran,
was Balak, der Königs Moabs, vorhatte
und was ihm Bileam, der Sohn Beors, antwortete,
was zwischen Schittim und Gilgal geschah,
damit du die gerechten Taten Gottes erkennst.

Womit soll ich Gott gegenübertreten,
mich Gott in der Höhe beugen?
Soll ich ihm gegenübertreten mit Brandopfern von einjährigen Stieren?
Gefallen Gott tausende Widder,
unermessliche Ströme von Öl?
Soll ich meinen Erstgeborenen für meine Auflehnung geben,
meine Leibesfrucht als Sühne meiner Verfehlung?

Es wurde dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert,
nämlich: Gerechtigkeit zu üben, Liebe zur Treue,
und demütig mit deinem Gott zu gehen.


Liebe Schwestern und Brüder,

in jeder Freundschaft, jeder Beziehung gibt es mal Streit,
aus den unterschiedlichsten Ursachen und Gründen.
Eine Freundschaft, eine Beziehung hält das aus -
manche finden sogar, so ein Streit gäbe ihr erst die richtige Würze.

Bei einem Streitpunkt aber wird es gefährlich.
Wenn es um Loyalität geht, um Treue:
Die Freundin, den Freund zu verraten,
den Partner, die Partnerin zu hintergehen
bedeutet in aller Regel das Ende der Beziehung -
oder zumindest eine handfeste Krise, die alles infrage stellt,
was zwischen Zweien bisher als selbstverständlich erschien.

Mit dem heutigen Predigttext werden wir Zeug:innen
einer solchen Krise zwischen Gott und seinem Volk Israel.
An vielen anderen Stellen der Bibel
begegnet uns diese Wut Gottes auf sein Volk, das ihm untreu geworden ist.

Die Beziehung Gottes zu seinem Volk ist wie eine Liebesbeziehung.
Darum hat das Hohelied Salomos, in dem die Schönheit der Liebenden,
die Sehnsucht, und die Freuden der Liebe besungen werden, einen Platz in der Bibel gefunden:
Weil die Liebe Gottes zu seinen Menschen genauso tief und intensiv ist
wie die von Zweien, die sich lieben.

Gott tritt dabei nicht in Konkurrenz zu unseren Partner:innen.
Wenn man den Zölibat, wenn man freiwillige Enthaltsamkeit so versteht,
dass man sich zwischen Gott und dem Menschen, den man liebt, entscheiden muss,
hat man den Glauben missverstanden.

Wir können ja auch unsere Partner:in und zugleich unsere Eltern lieben,
unsere Geschwister und unsere Kinder.
Wir können eine beste Freundin, einen besten Freund haben,
dem wir auf andere Weise vertrauen, Anderes anvertrauen
als unserer Partnerin, unserem Partner, und ihr, ihm trotzdem treu sein.

Die Liebe zu den Kindern, zu den Eltern oder Geschwistern,
die große Nähe zu Freundin oder Freund
sind in der Regel kein Problem für eine Beziehung.
Untreue schon.
Warum ist da so ein gewaltiger Unterschied -
und warum macht Gott da einen so großen Unterschied?

Es muss wohl das Vertrauen sein, das mit der Treue einhergeht:
Das Vertrauen, dass ich mit meiner Partnerin, meinem Partner
gemeinsam auf dem Weg bin - dass er, sie „mit mir geht”,
wie man früher gesagt hat.

Dabei handelt es nicht nur um gegenseitige Begleitung,
nicht nur darum, dass man im Leben nicht allein unterwegs ist.
Uns begleiten auf den Stationen unseres Lebens unterschiedliche Menschen,
Eltern, Freundinnen und Freunde, die Kinder, die Enkel,
aber nur eine, nur einer geht den ganzen Lebensweg mit uns.

Eine:r, mit der, mit dem wir alles teilen: Geld und Besitz, Freude und Leid.
Eine:r, der, dem wir alles sagen und dem wir vertrauen können.
Eine:r, der, dem wir alles, geben: Nähe, Liebe, Verständnis, Rückhalt und Treue.

Statt Treue könnte man auch sagen: Solidarität, oder: Loyalität.
Treue bedeutet: ich habe mich für meine:n Partner:in entschieden.
Ich habe eine Wahl getroffen mit allen Konsequenzen, die das hat -
z.B. die Einschränkungen zu akzeptieren,
die der Beruf oder ein Handicap des anderen mit sich bringt;
die Sorge um die Kinder oder die alten Eltern,
den häuslichen Alltag miteinander zu teilen;
die selben Werte, die gleichen Ziele zu haben;
einander nicht im Stich zu lassen.

Solche Treue erwartet auch Gott von seinen Menschen.
Sie sollen sich für Gott entscheiden.
Sie sollen die Konsequenzen dieser Entscheidung tragen
und Gott zum Leitstern ihres Lebens machen.
Das bedeutet: keine Werte haben, die Gottes Geboten widersprechen.
Oder, in der Sprache der Bibel: keine anderen Götter haben.

Der wichtigste dieser anderen Götter ist der Mammon, das Geld.
Dem Geld ist alles heilig, alles ist dem Geld geweiht:
Es gibt nichts, das man nicht kaufen könnte,
nichts, das nicht käuflich wäre - es kommt nur auf die Summe an.

Geld ist nicht wirklich ein Gott - so würde es die Bibel nennen,
und so nennt es Jesus: „Mammon”.
Geld hat keinen eigenen Willen, hat keine Macht außer der, die wir dem Geld geben.
Aber wir verhalten uns dem Geld gegenüber wie einem Gott:
Wir verehren es. Wir geben ihm Macht über uns.
Wir lassen zu, dass es unser Leben bestimmt.
Wir richten uns nach den Maßstäben des Geldes.

Gott will, dass wir uns zwischen ihm und dem Geld entscheiden.
Das heißt nicht, auf Geld zu verzichten oder in Armut zu leben.
Aber es bedeutet, die Maßstäbe des Geldes nicht zu übernehmen,
das alles nach seinem Preis, seinem Wert, seinem Ertrag taxiert.
Das Lebewesen wie Gegenstände in wertvoll und wertlos einteilt.
Das Lebewesen wie Gegenstände besitzen und über sie verfügen will.

Was kann man tun, wenn man seine Untreue bereut,
wenn man die Beziehung, die man durch Untreue zerstört hat, wieder herstellen möchte?
Das Volk Gottes überlegt sich, es mit Geschenken wieder gut zu machen:
Wertvolle Rinder und tausende Widder sollen geschlachtet,
Unmengen von Öl vergossen werden,
damit Gott sieht, wie ernst es seinem Volk mit seiner Beziehung zu Gott ist, wie sehr es Gott liebt.

Doch solche Verschwendung macht nichts wieder gut.
Sie bewegt sich immer noch im Rahmen der Beziehung zum Mammon.
Dem vergötterten Geld würde man damit dienen,
indem man möglichst viel konsumiert - je mehr, desto besser.
Aber die Maßstäbe Gottes sind nicht die Maßstäbe des Geldes:
„Es wurde dir gesagt, Mensch, was gut ist und was Gott von dir fordert,
nämlich: Gerechtigkeit zu üben, Liebe zur Treue,
und demütig mit deinem Gott zu gehen.”

Treue kann man sich nicht erkaufen, weder durch Geschenke, noch durch Opfer.
Treue erweist sich durch das Verhalten.
Dieses Verhalten wird dadurch begründet,
dass die Beziehung zur/zum Anderen für mich wertvoll ist -
wertvoller als alles, was dieser Beziehung Konkurrenz machen könnte.

Wenn mir die Beziehung am Herzen liegt,
werde ich sie nicht um des eigenen Vorteils willen aufs Spiel setzen,
sondern danach suchen, was für Beide gut ist.
Das gilt nicht nur für eine Partnerschaft.
Es gilt überall, wo es auf Solidarität, auf Loyalität ankommt.

Und es gilt auch für unsere Beziehung zu Gott.
Für unsere Beziehung zu Gott ist Gerechtigkeit ausschlaggebend.
Eine Gerechtigkeit, die nicht nur darum sorgt,
dass ich zu meinem Recht komme,
dass ich nicht weniger habe als andere,
nicht weniger gesehen, geachtet, geliebt werde als andere.

Die Gerechtigkeit, die Gott fordert, ist eine Lebenshaltung, die von Fairness geprägt ist.
Fairness bedeutet, dass ich einen Vorteil nicht ausnutze,
Schwächere nicht übervorteile, sondern auf sie Rücksicht nehme, und mich an die Regeln halte.
Fair play - das möchte Gott von uns,
und darunter kann man auch die Gebote zusammenfassen.

Dann möchte Gott, dass wir Treue lieben - mit anderen Worten:
Dass uns an unseren Beziehungen etwas liegt.
Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, sich selbst zu verwirklichen,
so viel wie möglich für sich herauszuholen.
Der Sinn des Lebens ist Beziehung - zu Gott, zu den Mitmenschen, zu Gottes Schöpfung.

Und das Dritte: demütig gehen mit deinem Gott.
Gemeint ist der Lebensweg, weshalb Luther übersetzt: „wandeln”.
Demütig gehen heißt nicht, dass wir uns klein machen sollen, weil Gott so groß ist.
Wir müssen uns nicht ständig zurücknehmen, ständig verzichten.
Wir dürfen strahlen, stolz sein, Erfolg haben und gewinnen.

Demut meint, dass wir uns in unserer Beziehung zu Gott an seinen Werten orientieren sollen
und nicht meinen sollen, Gott müsse sich nach uns richten.
Wir sollen uns an Gottes Werten orientieren, weil Gott in Vorleistung gegangen ist:
Er hat seine unerschütterliche Liebe, seine Treue zu uns bereits gezeigt:

Gott liebt uns so sehr, jede und jeden Einzelnen von uns.
Wie sehr, das hat sein Sohn Jesus Christus mit seinem Leben bewiesen.
Gott liebt alle Menschen auf dieser Welt in der selben Weise.
Gott ist so groß, dass in seinem Herzen Alle Platz haben,
ohne dass auch nur eine oder einer weniger geliebt wird als die anderen.

Die Liebe ist der entscheidende Wert, den Gott mit uns teilen möchte.
Unsere Beziehung zu Gott hängt daran,
dass die Liebe das Wichtigste auch in unserem Leben ist.
Dass wir sie nicht um eines vermeintlichen Vorteils willen verraten
und Gott dadurch untreu werden.

Gott hat sich seine Treue zu uns bewahrt,
und er ist dabei bis zum Äußersten gegangen:
Sein Sohn hat für unsere Beziehung zu Gott den Tod auf sich genommen.
Der Vorschuss an Vertrauen, den Gott dadurch gewonnen hat,
ermutigt uns dazu, uns auf die Beziehung mit Gott einzulassen,
uns ganz auf Gott zu verlassen.
Gott ist treu. Er wird uns niemals im Stich lassen.

Sonntag, 20. Oktober 2024

Feindesliebe

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 20.10.2024, über Matthäus 5,38-48

Liebe Schwestern und Brüder,

das Gebot der Feindesliebe gehört zu den zentralen christlichen Texten.
Für manche ist es ein Eckstein,
ein Fundament und Kennzeichen ihres Glaubens.

Für andere ein Stein des Anstoßes:
- Die Feinde unbedingt zu lieben,
das liegt quer zu den Kriegen und der Gewalt in der Welt,
die viele erleben und erleiden.
- Liegt quer zu der Notwendigkeit eines Staates,
seine Bürger:innen zu beschützen,
und sich gegen äußere und innere Feinde zu wehren.
- Liegt quer auch zu unserem Miteinander,
wo wir gerade an diesem Gebot immer wieder scheitern.

So wird das Gebot der Feindesliebe zum Prüfstein,
wie glaubwürdig unser Glaube ist.

Ich möchte Ihnen heute das Gebot der Feindesliebe als Edelstein vorstellen,
als Tüpfelchen auf dem I des Glaubens.
Ein Edelstein, der unserem Glauben Schönheit verleiht,
ihm sozusagen die Krone aufsetzt.

Doch damit man die Feindesliebe als Edelstein erkennen kann,
muss man erst einige Missverständnisse und Irrtümer davon abschälen,
um zum Kern vorzudringen.

„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.”
Das ist zunächst einmal eine Zumutung.
Sie wäre es nicht, wenn „Feind” ein abstrakter Begriff wäre,
der keinen bestimmten Menschen meint.

Solche imaginären Feinde könnte man lieben,
weil auch die Feindesliebe im Ungefähren bleibt,
ohne direktes Gegenüber, an dem sie sich bewähren müsste.

Die Zumutung, die die Feindesliebe darstellt, liegt darin,
dass Jesus verlangt, den konkreten Feind zu lieben:
Den Menschen, der mich hasst, der mir Böses will und tut,
der mich am liebsten tot sähe oder mir das Leben nehmen will.
Den Menschen, der grausam und bösartig zu mir ist.
Wenn Jesus verlangt, dass wir solche Menschen lieben sollen,
verlangt er etwas Unmögliches.
Denn wie sollte man jemanden lieben können,
dem man nicht vergeben kann, was er einem angetan hat?

Feindesliebe ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Darum kann man sie nicht zum Programm erheben
oder sie gar anderen vorschreiben.
Allenfalls können Einzelne sie für sich entdecken und wagen.

Feindesliebe ist auch deshalb ein Ding der Unmöglichkeit,
weil wir nicht nur für uns selbst verantwortlich sind,
sondern auch für unsere Familien und unsere Mitmenschen,
die wir vor feindlicher Gewalt und Bosheit beschützen müssen.

Die Feindesliebe ist eins der zentralen Gebote des Glaubens.
Jesus selbst hat bei seiner Kreuzigung für seine Peiniger gebetet:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Zugleich ist es unmöglich, dieses Gebot zu erfüllen.
Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Ein Ausweg war und ist es, zu leugnen, dass es überhaupt Feinde gibt.
„Alle Menschen werden Brüder”, heißt es in Schillers „Ode an die Freude”.
Als Kinder Gottes sind wir alle Schwestern und Brüder.
Geschwister müssen sich doch irgendwie vertragen.
In einer Familie kann doch niemand so schlecht,
so bösartig, so gemein sein, dass ich sie oder ihn
als „Feind” ansehen und ansprechen muss.

Leider zeigt das Leben immer wieder,
dass der Glaube an das Gute im Menschen die Menschen nicht gut macht.
Und dass es tatsächlich böse, ja, bösartige Menschen gibt.

Einen anderen Ausweg zeigt der Satz auf, mit dem Jesus schließt:
„Darum sollt ihr vollkommen sein,
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.”
Wenn man diesen Satz nicht auf sich bezieht,
sondern auf wenige, ganz bestimmte Gläubige,
die zu einem solchen Leben berufen sind,
ist das Problem mit der Feindesliebe gelöst:
Diese besonderen Menschen erfüllen stellvertretend
das unerfüllbare Gebot, seine Feinde zu lieben.

Wer nach Vollkommenheit im Glauben strebt
und sein ganzes Leben Gott weihen will
stellt fest, dass es im Alltag der Welt nicht möglich ist,
sich ganz auf Gott zu konzentrieren.

So zieht man sich zurück in die Abgeschiedenheit des Klosters.
Man entzieht sich den Menschen, die zu Feinden werden könnten
und kommt gar nicht in die Verlegenheit,
seine Feinde lieben zu müssen.

Doch auch innerhalb der Klostermauern
wird man sich und die anderen niemals los.
Auch hier gibt es Neid, Missgunst und Konkurrenz,
die Feindschaft und Gemeinheit hervorbringen.

An diesen beiden gescheiterten Auswegen aus dem Dilemma lässt sich erkennen,
dass man das Gebot der Feindesliebe nicht erfüllen kann.
Warum verlangt es Jesus dann von uns?

Bevor Jesus davon spricht, dass man seine Feinde lieben soll,
fordert er dazu auf, keine Vergeltung zu üben:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.’
Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstreben sollt.”

Auch hier treibt Jesus das Gebot so auf die Spitze, dass man es nicht erfüllen kann.

Wer z.B. verklagt wird, ein Kleidungsstück als Pfand herzugeben
und dann zusammen mit der Unterbekleidung auch den Mantel hergibt, ist splitternackt.
Wenn man sich das bildhaft vor Augen stellt,
wird einem bewusst, wie unmöglich diese Forderung ist.

Wenn einer das wirklich täte, sich vor seinem Schuldherrn nackt ausziehen,
und damit zeigte, dass er nichts hat als das Leben,
würde deutlich werden, wie ungerecht,
wie unmöglich die Forderung des Schuldherrn ist.

Gut möglich, dass der Schuldherr sich davon nicht beeindrucken lässt
und kaltherzig die Kleidung an sich nimmt.
Aber der, dem die Kleidung genommen wurde
und der nun nichts mehr hat als das nackte Leben,
hat sich seine Würde bewahrt
und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gewehrt.
Er hat ein Zeichen gesetzt, das von vielen verstanden worden ist.

Es geht Jesus nicht darum,
dass man sich in einem Schuldverfahren nackt ausziehen soll;
dass man bei einer Ohrfeige auch die andere Wange hinhalten
oder bei erzwungenen Leistungen das Doppelte erbringen soll.
Es sind Beispiele für einen phantasievollen Widerstand,
der durch den Glauben ermöglicht wird.

Joseph Beuys wird der Satz zugeschrieben:
„Jeder Mensch ist ein Künstler.”
Das soll nicht bedeuten, jede und jeder könnte ein Kunstwerk erschaffen,
wie manche vor einem abstrakten Gemälde
oder einer Installation von Beuys stehen und sagen:
„Das könnte ich auch, das ist doch keine Kunst!”

Wenn jeder Mensch eine Künstlerin, ein Künstler ist, bedeutet das:
Jeder Mensch schafft mit seinem Leben etwas Einzigartiges.
Ein Kunstwerk.
Jedes Menschenleben verdient es,
dass man es gelten lässt wie jedes andere Kunstwerk,
wie jedes Musikstück, jeden Roman,
auch wenn die Geschmäcker verschieden sind.

Der Respekt vor dem Wert und der Würde jedes Menschen:
Das ist es, was Jesus mit der Feindesliebe fordert.
Zum phantasievollen Widerstand beim Verzicht auf Vergeltung
gesellt sich bei der Feindesliebe die Liebe hinzu.
Beide zusammen führen zu der verrückten, ja, leichtsinnigen Idee,
dass auch der ärgste Feind ein Mensch ist.
Ein Mensch, den Gott geschaffen hat.
Ein Mensch, den Gott liebt.
Ein Mensch, für den Christus am Kreuz gestorben ist.

Es wird uns wohl nicht oft gelingen, unsere Feinde so anzusehen: als Menschen.
Besonders dann nicht, wenn sie unmenschlich handeln.
Aber darauf kommt es nicht an.
Es kommt auf den Versuch an.
Es kommt darauf an, die Humanität, die Menschlichkeit zu bewahren,
gerade dort, wo andere unmenschlich handeln,
wo Menschen ihrer Würde beraubt werden.
Es kommt auf den Versuch an,
der ein Zeichen des Protestes ist, nicht zuletzt für unsere Feinde,
und ein Zeichen der Menschlichkeit.

Das ist der Edelstein, den ich Ihnen heute zeigen wollte:
Das so unmöglich erscheinende Gebot der Feindesliebe
weckt das Beste in uns: unsere Humanität.
Die Menschlichkeit, die uns zu Mitmenschen macht
und zu Künstlerinnen und Künstlern.

Als Künstlerinnen und Künstler erschaffen wir Schönheit
in dieser Welt und für unsere Welt: Unser Leben,
das auf so einzigartige Weise Antwort gibt auf die Liebe Gottes,
und das von dieser Liebe Zeugnis gibt.

Wo wir versuchen, unsere Feinde zu lieben,
halten wir das Licht der Menschlichkeit dort hoch,
wo Gewalt herrschen und Krieg,
Unmenschlichkeit und Unterdrückung.

Ein Licht, das ein Zeichen setzt:
Ein Protest des Lebens gegen den Tod.
Ein Licht, das Mut macht und Hoffnung.
Und ein Licht, das inmitten der Dunkelheit des Leides
die Schönheit der Menschlichkeit aufstrahlen lässt.

Sonntag, 13. Oktober 2024

ein Brief Christi

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 13.10.2024, über 2.Korinther 3,3-6:


Es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid,

durch uns zugestellt;

geschrieben nicht mit Tinte,

sondern durch den Geist des lebendigen Gottes;

nicht auf steinerne Tafeln,

sondern auf Tafeln lebendiger Herzen.

Solches Selbstvertrauen Gott gegenüber haben wir durch Christus.

Nicht dass wir von uns aus fähig wären,

etwas nach unseren Maßstäben zu beurteilen.

Unsere Fähigkeit kommt von Gott,

der uns befähigt als Mitarbeiter eines neuen Bundes,

nicht des Buchstabens, sondern des Geistes.

Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.


Liebe Schwestern und Brüder,


es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid.”

Sie - ich - ein Brief, wer hätte das gedacht?

Und wie soll man sich das vorstellen?

Etwa so, wie Christian Morgenstern es

von seinem „Herrn v. Korf” beschreibt?


„Korf lässt sich in einen Folianten einbinden,

um selben immer bei sich zu tragen;

die Rücken liegen gemeinsam hinten,

doch vorn ist das Buch auseinandergeschlagen.

So dass er, gleichsam flügelbelastet,

mit hinter den Armen flatternden Seiten

hinwandelt oder zu anderen Zeiten

in seinen Flügeln blätternd rastet.”


Sind wir also, ähnlich wie v. Korf,

offene Briefe, in denen jede:r lesen kann?

Oder stecken wir noch in unseren Umschlägen

und suchen unsere Adressat:innen?


Es ist nicht allein die Frage,

ob wir offene Briefe sind oder verschlossene.

Das Bild des Briefes selbst ist nicht mehr zeitgemäß.

Es werden ja kaum noch Briefe geschrieben.

Statt dessen schreibt man eMails.

Das geht viel schneller, und sie sind quasi sofort da -

und preiswerter als ein Brief sind sie auch noch.


Doch längst ist auch die eMail überholt.

Im Zeitalter der Smartphones verschickt man Kurznachrichten -

per SMS oder per Whatsapp.

Kurznachrichten sind noch schneller als eMails,

noch schneller geschrieben und noch schneller gelesen.

Oft ist eine neue Nachricht da,

während man noch auf die vorhergehende antwortet,

sodass die Antwort schon überholt ist,

bevor man sie abgesendet hat.


Der altmodische, handgeschriebene Brief steht für eine andere,

eine entschleunigte Art der Kommunikation.

Eine, die sich Zeit nimmt und Zeit benötigt.

Ein Brief nimmt sich sogar dreimal Zeit:

Beim Geschriebenwerden, beim Unterwegssein

und beim Gelesenwerden.


Das Schreiben eines Briefes braucht Zeit,

weil man es vorbereiten muss:

Man schafft Platz auf dem Tisch,

legt Papier und Schreibgerät bereit,

sucht einen Umschlag und eine Briefmarke,

muss womöglich erst eine bei der Post kaufen,

und vielleicht muss man auch die Anschrift erst finden.


Vor allem braucht das Schreiben selbst Zeit:

Man denkt an den Menschen, dem man schreiben will.

Man versetzt sich in ihn, in sie hinein.

Man sammelt die Gedanken und überlegt sich,

was man sagen will, und wie man es sagen will.


Dabei muss man die zweite Zeit im Auge behalten,

die sich der Brief nimmt: Das Unterwegssein.

Die Gedanken müssen eine lange Reise überstehen.

Sind sie auch noch in drei Tagen

oder in drei Wochen gültig und interessant?

Kann das, was man am Abend schrieb,

auch am Morgen gelesen werden?

Was in trauriger Stimmung geschrieben wurde,

trifft vielleicht auf einen fröhlichen Menschen.

Der Mensch, an den man beim Schreiben dachte,

ist vielleicht nicht mehr derselbe, der den Brief liest.


Das Gelesenwerden ist die dritte Zeit, die sich der Brief nimmt.

Manche reißen den Umschlag sofort auf,

sobald sie den Brief aus dem Kasten geholt haben,

und lesen ihn schon im Gehen.

Andere kochen sich erst einmal einen Tee,

oder legen den Brief beiseite, bis sie ihn in Ruhe lesen können.


Wenn wir ein Brief Christi sind -

ein Brief, keine eMail oder SMS -,

wird auch für uns der Faktor Zeit eine Rolle spielen.

Werden auch wir die Zeit brauchen,

uns die Zeit nehmen, die sich der Brief nimmt:

Das Geschriebenwerden, das Unterwegssein

und das Gelesenwerden.


Es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid.”

Nein, wir sind keine unbeschriebenen Blätter.

Nicht nur das Leben hat uns gezeichnet;

wir sind auch von Christus gezeichnet,

beschrieben wie ein Brief.


Man hat sich dieses Gezeichnetwerden durch Christus

früher ganz wörtlich vorgestellt:

Vom Heiligen Franz von Assisi wird erzählt,

dass an seinem Körper die Stigmata zu sehen gewesen seien,

die fünf Wundmale Jesu:

Die Nägelmale in Händen und Füßen

und die Seitenwunde durch den Speer,

der Jesus in den Brustkorb gestoßen wurde,

als er schon gestorben war.


Stigma - wir kennen dieses Wort aus einem anderen Zusammenhang:

Stigmatisierung steht für Ausgrenzung.

Jemand, der oder die stigmatisiert ist, hat etwas an sich,

das andere auf Abstand hält.

Armut kann ein Stigma sein, oder eine Behinderung.

Eine von der Mehrheit abweichende Meinung kann ein Stigma sein

oder der Glaube, den man hat:

Juden wurden mit dem Judenstern stigmatisiert.


Wir sind von Christus Gezeichnete.

Aber dieses Gezeichnetsein ist für uns kein Stigma,

obwohl es genau das bedeutet.

Wer von Christus gezeichnet ist,

trägt nicht nur das für andere unsichtbare Zeichen der Taufe an sich.

Sondern auch eine Haltung: eine Art zu leben

und eine Einstellung zum Leben und zu den Mitmenschen,

die eine:n früher oder später als Christ:in verrät.

Oder, positiv gesagt: an der man als Christ:in erkannt wird.


Damit eine solche Haltung wachsen kann, braucht es Zeit.

Die Taufe, die uns zu Christen macht, ist ein kurzer Vorgang,

vergleichbar der Kurznachricht:

Du gehörst zu Christus.

Du bist ein Kind Gottes.

Damit wir ein Brief Christi sein können,

braucht es Zeit, in der wir von Christus beschrieben, gezeichnet werden.


In dieser Zeit, die es braucht,

setzen wir uns mit unserem Glauben auseinander.

Wir versuchen zu verstehen,

wer Christus für uns ist, was er für uns ist,

und was er für uns und unser Leben will.


Dieses verstehen Wollen ist das Unterwegssein des Briefes:

Wir sind mit dem Wort Gottes auf einem Weg.

Es begleitet unser Leben, unseren Alltag.

Es formt uns in Zustimmung und Ablehnung,

in Nähe und Distanz zu diesem Wort Gottes.


In Glaube und Zweifel wachsen wir

an dem Wort und durch das Wort.

Das Verstehen vollzieht sich nicht nur im Kopf,

es findet auch in unseren Herzen statt.

Das Wort Gottes wird unseren Herzen eingeschrieben,

gleichsam auf lebendige Tafeln.

Es wird zur Richtschnur unseres Handelns,

zur Orientierung in unserem Alltag.


Das Wort Gottes, das unseren Herzen eingeschrieben wurde,

scheint durch uns hindurch, sodass andere in uns lesen können.

Sie können durch uns Christus begegnen.

Nicht, weil wir Christus ähnlich sind,

oder weil wir besondere Fähigkeiten entwickelt hätten.

Sondern weil wir ein Brief Christi sind,

der einem Menschen in dem Augenblick zugestellt wird,

in dem er uns begegnet.


Das ist die dritte Zeit des Briefes.

Das Gelesenwerden geschieht in einem Augen-Blick,

durch eine Geste, ein Lächeln.

Meistens braucht es Zeit, bis anderen Christus durch uns begegnet.

Weil der erste Eindruck oft trügt.

Weil man erst Vertrauen gewinnen, miteinander warm werden muss.

Weil es Gelegenheiten braucht,

in denen sich zeigen kann, dass wir ein Brief Christi sind.


Wir sind keine unbeschriebenen Blätter mehr.

Als von Christus Gezeichnete, Stigmatisierte

sind wir Mitarbeiter:innen eines neuen Bundes.

Christus sendet uns als Briefe zu allen Menschen,

damit wir Hoffnung, Frieden und Gottes Liebe ausbreiten.


Nicht, indem wir uns anstrengen und wunder was leisten.

Sondern indem wir Gottes Geist wirken lassen.

Er schreibt Gottes Wort auf die Tafeln unserer Herzen,

sodass andere Menschen sie in uns lesen,

durch uns hindurch Christus sehen können.


Durchsichtig auf Gottes Wort hin werden wir,

wenn wir so sind, wie wir sind:

So schwach, so fehlbar, so verletzlich -

und so voller Sehnsucht, voller Hoffnung,

voller Vertrauen auf Gott und sein Versprechen:

Solange die Erde steht,

soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht.”