Sonntag, 13. Oktober 2024

ein Brief Christi

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 13.10.2024, über 2.Korinther 3,3-6:


Es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid,

durch uns zugestellt;

geschrieben nicht mit Tinte,

sondern durch den Geist des lebendigen Gottes;

nicht auf steinerne Tafeln,

sondern auf Tafeln lebendiger Herzen.

Solches Selbstvertrauen Gott gegenüber haben wir durch Christus.

Nicht dass wir von uns aus fähig wären,

etwas nach unseren Maßstäben zu beurteilen.

Unsere Fähigkeit kommt von Gott,

der uns befähigt als Mitarbeiter eines neuen Bundes,

nicht des Buchstabens, sondern des Geistes.

Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.


Liebe Schwestern und Brüder,


es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid.”

Sie - ich - ein Brief, wer hätte das gedacht?

Und wie soll man sich das vorstellen?

Etwa so, wie Christian Morgenstern es

von seinem „Herrn v. Korf” beschreibt?


„Korf lässt sich in einen Folianten einbinden,

um selben immer bei sich zu tragen;

die Rücken liegen gemeinsam hinten,

doch vorn ist das Buch auseinandergeschlagen.

So dass er, gleichsam flügelbelastet,

mit hinter den Armen flatternden Seiten

hinwandelt oder zu anderen Zeiten

in seinen Flügeln blätternd rastet.”


Sind wir also, ähnlich wie v. Korf,

offene Briefe, in denen jede:r lesen kann?

Oder stecken wir noch in unseren Umschlägen

und suchen unsere Adressat:innen?


Es ist nicht allein die Frage,

ob wir offene Briefe sind oder verschlossene.

Das Bild des Briefes selbst ist nicht mehr zeitgemäß.

Es werden ja kaum noch Briefe geschrieben.

Statt dessen schreibt man eMails.

Das geht viel schneller, und sie sind quasi sofort da -

und preiswerter als ein Brief sind sie auch noch.


Doch längst ist auch die eMail überholt.

Im Zeitalter der Smartphones verschickt man Kurznachrichten -

per SMS oder per Whatsapp.

Kurznachrichten sind noch schneller als eMails,

noch schneller geschrieben und noch schneller gelesen.

Oft ist eine neue Nachricht da,

während man noch auf die vorhergehende antwortet,

sodass die Antwort schon überholt ist,

bevor man sie abgesendet hat.


Der altmodische, handgeschriebene Brief steht für eine andere,

eine entschleunigte Art der Kommunikation.

Eine, die sich Zeit nimmt und Zeit benötigt.

Ein Brief nimmt sich sogar dreimal Zeit:

Beim Geschriebenwerden, beim Unterwegssein

und beim Gelesenwerden.


Das Schreiben eines Briefes braucht Zeit,

weil man es vorbereiten muss:

Man schafft Platz auf dem Tisch,

legt Papier und Schreibgerät bereit,

sucht einen Umschlag und eine Briefmarke,

muss womöglich erst eine bei der Post kaufen,

und vielleicht muss man auch die Anschrift erst finden.


Vor allem braucht das Schreiben selbst Zeit:

Man denkt an den Menschen, dem man schreiben will.

Man versetzt sich in ihn, in sie hinein.

Man sammelt die Gedanken und überlegt sich,

was man sagen will, und wie man es sagen will.


Dabei muss man die zweite Zeit im Auge behalten,

die sich der Brief nimmt: Das Unterwegssein.

Die Gedanken müssen eine lange Reise überstehen.

Sind sie auch noch in drei Tagen

oder in drei Wochen gültig und interessant?

Kann das, was man am Abend schrieb,

auch am Morgen gelesen werden?

Was in trauriger Stimmung geschrieben wurde,

trifft vielleicht auf einen fröhlichen Menschen.

Der Mensch, an den man beim Schreiben dachte,

ist vielleicht nicht mehr derselbe, der den Brief liest.


Das Gelesenwerden ist die dritte Zeit, die sich der Brief nimmt.

Manche reißen den Umschlag sofort auf,

sobald sie den Brief aus dem Kasten geholt haben,

und lesen ihn schon im Gehen.

Andere kochen sich erst einmal einen Tee,

oder legen den Brief beiseite, bis sie ihn in Ruhe lesen können.


Wenn wir ein Brief Christi sind -

ein Brief, keine eMail oder SMS -,

wird auch für uns der Faktor Zeit eine Rolle spielen.

Werden auch wir die Zeit brauchen,

uns die Zeit nehmen, die sich der Brief nimmt:

Das Geschriebenwerden, das Unterwegssein

und das Gelesenwerden.


Es hat sich gezeigt, dass ihr ein Brief Christi seid.”

Nein, wir sind keine unbeschriebenen Blätter.

Nicht nur das Leben hat uns gezeichnet;

wir sind auch von Christus gezeichnet,

beschrieben wie ein Brief.


Man hat sich dieses Gezeichnetwerden durch Christus

früher ganz wörtlich vorgestellt:

Vom Heiligen Franz von Assisi wird erzählt,

dass an seinem Körper die Stigmata zu sehen gewesen seien,

die fünf Wundmale Jesu:

Die Nägelmale in Händen und Füßen

und die Seitenwunde durch den Speer,

der Jesus in den Brustkorb gestoßen wurde,

als er schon gestorben war.


Stigma - wir kennen dieses Wort aus einem anderen Zusammenhang:

Stigmatisierung steht für Ausgrenzung.

Jemand, der oder die stigmatisiert ist, hat etwas an sich,

das andere auf Abstand hält.

Armut kann ein Stigma sein, oder eine Behinderung.

Eine von der Mehrheit abweichende Meinung kann ein Stigma sein

oder der Glaube, den man hat:

Juden wurden mit dem Judenstern stigmatisiert.


Wir sind von Christus Gezeichnete.

Aber dieses Gezeichnetsein ist für uns kein Stigma,

obwohl es genau das bedeutet.

Wer von Christus gezeichnet ist,

trägt nicht nur das für andere unsichtbare Zeichen der Taufe an sich.

Sondern auch eine Haltung: eine Art zu leben

und eine Einstellung zum Leben und zu den Mitmenschen,

die eine:n früher oder später als Christ:in verrät.

Oder, positiv gesagt: an der man als Christ:in erkannt wird.


Damit eine solche Haltung wachsen kann, braucht es Zeit.

Die Taufe, die uns zu Christen macht, ist ein kurzer Vorgang,

vergleichbar der Kurznachricht:

Du gehörst zu Christus.

Du bist ein Kind Gottes.

Damit wir ein Brief Christi sein können,

braucht es Zeit, in der wir von Christus beschrieben, gezeichnet werden.


In dieser Zeit, die es braucht,

setzen wir uns mit unserem Glauben auseinander.

Wir versuchen zu verstehen,

wer Christus für uns ist, was er für uns ist,

und was er für uns und unser Leben will.


Dieses verstehen Wollen ist das Unterwegssein des Briefes:

Wir sind mit dem Wort Gottes auf einem Weg.

Es begleitet unser Leben, unseren Alltag.

Es formt uns in Zustimmung und Ablehnung,

in Nähe und Distanz zu diesem Wort Gottes.


In Glaube und Zweifel wachsen wir

an dem Wort und durch das Wort.

Das Verstehen vollzieht sich nicht nur im Kopf,

es findet auch in unseren Herzen statt.

Das Wort Gottes wird unseren Herzen eingeschrieben,

gleichsam auf lebendige Tafeln.

Es wird zur Richtschnur unseres Handelns,

zur Orientierung in unserem Alltag.


Das Wort Gottes, das unseren Herzen eingeschrieben wurde,

scheint durch uns hindurch, sodass andere in uns lesen können.

Sie können durch uns Christus begegnen.

Nicht, weil wir Christus ähnlich sind,

oder weil wir besondere Fähigkeiten entwickelt hätten.

Sondern weil wir ein Brief Christi sind,

der einem Menschen in dem Augenblick zugestellt wird,

in dem er uns begegnet.


Das ist die dritte Zeit des Briefes.

Das Gelesenwerden geschieht in einem Augen-Blick,

durch eine Geste, ein Lächeln.

Meistens braucht es Zeit, bis anderen Christus durch uns begegnet.

Weil der erste Eindruck oft trügt.

Weil man erst Vertrauen gewinnen, miteinander warm werden muss.

Weil es Gelegenheiten braucht,

in denen sich zeigen kann, dass wir ein Brief Christi sind.


Wir sind keine unbeschriebenen Blätter mehr.

Als von Christus Gezeichnete, Stigmatisierte

sind wir Mitarbeiter:innen eines neuen Bundes.

Christus sendet uns als Briefe zu allen Menschen,

damit wir Hoffnung, Frieden und Gottes Liebe ausbreiten.


Nicht, indem wir uns anstrengen und wunder was leisten.

Sondern indem wir Gottes Geist wirken lassen.

Er schreibt Gottes Wort auf die Tafeln unserer Herzen,

sodass andere Menschen sie in uns lesen,

durch uns hindurch Christus sehen können.


Durchsichtig auf Gottes Wort hin werden wir,

wenn wir so sind, wie wir sind:

So schwach, so fehlbar, so verletzlich -

und so voller Sehnsucht, voller Hoffnung,

voller Vertrauen auf Gott und sein Versprechen:

Solange die Erde steht,

soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht.”