Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 20.10.2024, über Matthäus 5,38-48
Liebe Schwestern und Brüder,
das Gebot der Feindesliebe gehört zu den zentralen christlichen Texten.
Für manche ist es ein Eckstein,
ein Fundament und Kennzeichen ihres Glaubens.
Für andere ein Stein des Anstoßes:
- Die Feinde unbedingt zu lieben,
das liegt quer zu den Kriegen und der Gewalt in der Welt,
die viele erleben und erleiden.
- Liegt quer zu der Notwendigkeit eines Staates,
seine Bürger:innen zu beschützen,
und sich gegen äußere und innere Feinde zu wehren.
- Liegt quer auch zu unserem Miteinander,
wo wir gerade an diesem Gebot immer wieder scheitern.
So wird das Gebot der Feindesliebe zum Prüfstein,
wie glaubwürdig unser Glaube ist.
Ich möchte Ihnen heute das Gebot der Feindesliebe als Edelstein vorstellen,
als Tüpfelchen auf dem I des Glaubens.
Ein Edelstein, der unserem Glauben Schönheit verleiht,
ihm sozusagen die Krone aufsetzt.
Doch damit man die Feindesliebe als Edelstein erkennen kann,
muss man erst einige Missverständnisse und Irrtümer davon abschälen,
um zum Kern vorzudringen.
„Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen.”
Das ist zunächst einmal eine Zumutung.
Sie wäre es nicht, wenn „Feind” ein abstrakter Begriff wäre,
der keinen bestimmten Menschen meint.
Solche imaginären Feinde könnte man lieben,
weil auch die Feindesliebe im Ungefähren bleibt,
ohne direktes Gegenüber, an dem sie sich bewähren müsste.
Die Zumutung, die die Feindesliebe darstellt, liegt darin,
dass Jesus verlangt, den konkreten Feind zu lieben:
Den Menschen, der mich hasst, der mir Böses will und tut,
der mich am liebsten tot sähe oder mir das Leben nehmen will.
Den Menschen, der grausam und bösartig zu mir ist.
Wenn Jesus verlangt, dass wir solche Menschen lieben sollen,
verlangt er etwas Unmögliches.
Denn wie sollte man jemanden lieben können,
dem man nicht vergeben kann, was er einem angetan hat?
Feindesliebe ist ein Ding der Unmöglichkeit.
Darum kann man sie nicht zum Programm erheben
oder sie gar anderen vorschreiben.
Allenfalls können Einzelne sie für sich entdecken und wagen.
Feindesliebe ist auch deshalb ein Ding der Unmöglichkeit,
weil wir nicht nur für uns selbst verantwortlich sind,
sondern auch für unsere Familien und unsere Mitmenschen,
die wir vor feindlicher Gewalt und Bosheit beschützen müssen.
Die Feindesliebe ist eins der zentralen Gebote des Glaubens.
Jesus selbst hat bei seiner Kreuzigung für seine Peiniger gebetet:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.”
Zugleich ist es unmöglich, dieses Gebot zu erfüllen.
Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?
Ein Ausweg war und ist es, zu leugnen, dass es überhaupt Feinde gibt.
„Alle Menschen werden Brüder”, heißt es in Schillers „Ode an die Freude”.
Als Kinder Gottes sind wir alle Schwestern und Brüder.
Geschwister müssen sich doch irgendwie vertragen.
In einer Familie kann doch niemand so schlecht,
so bösartig, so gemein sein, dass ich sie oder ihn
als „Feind” ansehen und ansprechen muss.
Leider zeigt das Leben immer wieder,
dass der Glaube an das Gute im Menschen die Menschen nicht gut macht.
Und dass es tatsächlich böse, ja, bösartige Menschen gibt.
Einen anderen Ausweg zeigt der Satz auf, mit dem Jesus schließt:
„Darum sollt ihr vollkommen sein,
wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.”
Wenn man diesen Satz nicht auf sich bezieht,
sondern auf wenige, ganz bestimmte Gläubige,
die zu einem solchen Leben berufen sind,
ist das Problem mit der Feindesliebe gelöst:
Diese besonderen Menschen erfüllen stellvertretend
das unerfüllbare Gebot, seine Feinde zu lieben.
Wer nach Vollkommenheit im Glauben strebt
und sein ganzes Leben Gott weihen will
stellt fest, dass es im Alltag der Welt nicht möglich ist,
sich ganz auf Gott zu konzentrieren.
So zieht man sich zurück in die Abgeschiedenheit des Klosters.
Man entzieht sich den Menschen, die zu Feinden werden könnten
und kommt gar nicht in die Verlegenheit,
seine Feinde lieben zu müssen.
Doch auch innerhalb der Klostermauern
wird man sich und die anderen niemals los.
Auch hier gibt es Neid, Missgunst und Konkurrenz,
die Feindschaft und Gemeinheit hervorbringen.
An diesen beiden gescheiterten Auswegen aus dem Dilemma lässt sich erkennen,
dass man das Gebot der Feindesliebe nicht erfüllen kann.
Warum verlangt es Jesus dann von uns?
Bevor Jesus davon spricht, dass man seine Feinde lieben soll,
fordert er dazu auf, keine Vergeltung zu üben:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn.’
Ich aber sage euch, dass ihr dem Bösen nicht widerstreben sollt.”
Auch hier treibt Jesus das Gebot so auf die Spitze, dass man es nicht erfüllen kann.
Wer z.B. verklagt wird, ein Kleidungsstück als Pfand herzugeben
und dann zusammen mit der Unterbekleidung auch den Mantel hergibt, ist splitternackt.
Wenn man sich das bildhaft vor Augen stellt,
wird einem bewusst, wie unmöglich diese Forderung ist.
Wenn einer das wirklich täte, sich vor seinem Schuldherrn nackt ausziehen,
und damit zeigte, dass er nichts hat als das Leben,
würde deutlich werden, wie ungerecht,
wie unmöglich die Forderung des Schuldherrn ist.
Gut möglich, dass der Schuldherr sich davon nicht beeindrucken lässt
und kaltherzig die Kleidung an sich nimmt.
Aber der, dem die Kleidung genommen wurde
und der nun nichts mehr hat als das nackte Leben,
hat sich seine Würde bewahrt
und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten gewehrt.
Er hat ein Zeichen gesetzt, das von vielen verstanden worden ist.
Es geht Jesus nicht darum,
dass man sich in einem Schuldverfahren nackt ausziehen soll;
dass man bei einer Ohrfeige auch die andere Wange hinhalten
oder bei erzwungenen Leistungen das Doppelte erbringen soll.
Es sind Beispiele für einen phantasievollen Widerstand,
der durch den Glauben ermöglicht wird.
Joseph Beuys wird der Satz zugeschrieben:
„Jeder Mensch ist ein Künstler.”
Das soll nicht bedeuten, jede und jeder könnte ein Kunstwerk erschaffen,
wie manche vor einem abstrakten Gemälde
oder einer Installation von Beuys stehen und sagen:
„Das könnte ich auch, das ist doch keine Kunst!”
Wenn jeder Mensch eine Künstlerin, ein Künstler ist, bedeutet das:
Jeder Mensch schafft mit seinem Leben etwas Einzigartiges.
Ein Kunstwerk.
Jedes Menschenleben verdient es,
dass man es gelten lässt wie jedes andere Kunstwerk,
wie jedes Musikstück, jeden Roman,
auch wenn die Geschmäcker verschieden sind.
Der Respekt vor dem Wert und der Würde jedes Menschen:
Das ist es, was Jesus mit der Feindesliebe fordert.
Zum phantasievollen Widerstand beim Verzicht auf Vergeltung
gesellt sich bei der Feindesliebe die Liebe hinzu.
Beide zusammen führen zu der verrückten, ja, leichtsinnigen Idee,
dass auch der ärgste Feind ein Mensch ist.
Ein Mensch, den Gott geschaffen hat.
Ein Mensch, den Gott liebt.
Ein Mensch, für den Christus am Kreuz gestorben ist.
Es wird uns wohl nicht oft gelingen, unsere Feinde so anzusehen: als Menschen.
Besonders dann nicht, wenn sie unmenschlich handeln.
Aber darauf kommt es nicht an.
Es kommt auf den Versuch an.
Es kommt darauf an, die Humanität, die Menschlichkeit zu bewahren,
gerade dort, wo andere unmenschlich handeln,
wo Menschen ihrer Würde beraubt werden.
Es kommt auf den Versuch an,
der ein Zeichen des Protestes ist, nicht zuletzt für unsere Feinde,
und ein Zeichen der Menschlichkeit.
Das ist der Edelstein, den ich Ihnen heute zeigen wollte:
Das so unmöglich erscheinende Gebot der Feindesliebe
weckt das Beste in uns: unsere Humanität.
Die Menschlichkeit, die uns zu Mitmenschen macht
und zu Künstlerinnen und Künstlern.
Als Künstlerinnen und Künstler erschaffen wir Schönheit
in dieser Welt und für unsere Welt: Unser Leben,
das auf so einzigartige Weise Antwort gibt auf die Liebe Gottes,
und das von dieser Liebe Zeugnis gibt.
Wo wir versuchen, unsere Feinde zu lieben,
halten wir das Licht der Menschlichkeit dort hoch,
wo Gewalt herrschen und Krieg,
Unmenschlichkeit und Unterdrückung.
Ein Licht, das ein Zeichen setzt:
Ein Protest des Lebens gegen den Tod.
Ein Licht, das Mut macht und Hoffnung.
Und ein Licht, das inmitten der Dunkelheit des Leides
die Schönheit der Menschlichkeit aufstrahlen lässt.