Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 10. August 2025, über Jesaja 2,1-5
Liebe Schwestern und Brüder,
„weißt du, wie es war, als wir beim Antiquar das Buch fanden ‚Tausend weise Sprüche’ ?” fragt Hermann van Veen in einem melancholischen Lied. „Mir fällt einer ein, der passt dort gut heinein: Mit der Zeit geht alles in die Brüche.”
Weise Sprüche - davon gibt es viele. In der Bibel eine ganze Sammlung davon, das Buch der Sprüche Salomos. Auch außerhalb der Bibel werden weise Sprüche gesammelt; der Bedarf nach solchen Sprüchen ist offenbar groß. Sogar in Jesajas Vision drängen die Völker nach Jerusalem, um Weisung von Gott zu erhalten.
Weise Sprüche sind manchmal weise, und manchmal sind es bloß Sprüche. „Mit der Zeit geht alles in die Brüche” - schwer zu sagen, ob das wirklich weise ist, oder einfach nur eine banale Feststellung.
Sprüche, die man so im Leben zu hören bekommt, auch und gerade die scheinbar banalen, haben einen größeren Einfluss auf uns, als man denkt oder sich eingesteht.
Das gilt sicherlich nicht für jede und jeden. Mancher, manche geht ihren Weg unbeirrt von den Sprüchen, mit denen man sie belegt, unbeeindruckt von den Ratschlägen, die man ihr erteilt. Wer weiß, was er will, besitzt einen inneren Kompass, der verlässlich die Richtung weist, sodass man sich nicht ablenken lässt von seinem Weg.
Andere werden beeinflusst von Sprüchen und Ratschlägen. Denn Ratschläge sind auch Schläge. Sie sind, so gut sie gemeint sein mögen, eine manchmal sanfte, manchmal sehr spürbare Form von Gewalt, durch die jemand zu einem bestimmten Handeln oder Verhalten bewegt werden soll. Ein Spruch, den Sie als Kind vielleicht auch hörten, bringt das ziemlich unverblümt zum Ausdruck:
„Den jungen Bäumen gibt man ihre Stützen,
um einst als gerade Stämme frei zu stehn.
Die Jugend mag des Alters Rat benützen,
sich leiten lassen, es sie selbst kann gehn.”
Diesen Spruch leitet die Überzeugung, dass das Alter der Jugend etwas voraus hat, weshalb die Jugend „angebunden” werden muss, wie das Bäumchen, das man gepflanzt hat. Sie darf nicht wachsen, wie sie will, die Jugend, sondern muss auf das Alter hören. Mit dieser Überzeugung sind wir wohl alle aufgewachsen und haben sie nie infrage gestellt. Dabei ist Alter an sich kein Grund, dass jemand etwas besser kann oder besser weiß als ein junger Mensch.
Ratschläge und Sprüche sagen nicht nur, was man tun oder lassen soll. Sie transportieren auch eine Weltanschauung, eine Ideologie. Im Fall des Spruches von den jungen Bäumen die, dass das Alter es besser weiß als die Jugend. Selbst wenn man es anders sieht, ist es schwer, gegen diese Überzeugung anzukommen, weil sie so verbreitet ist.
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis man begriff, dass Kinder keine unfertigen Erwachsenen sind, die man heranzieht wie Ferkel und abrichtet wie Hunde. Denen man den Mund verbietet, wenn Erwachsene reden, und deren Wille gebrochen werden muss, damit sie lernen, das zu wollen, was die Erwachsenen wollen.
Bis heute ist es keineswegs selbstverständlich und allgemein verbreitet, dass Kinder vollwertige Mitmenschen sind, deren Willen man ebenso ernst nehmen und respektieren muss wie den eines Erwachsenen; dass Kinder eigene Interessen und Meinungen haben, die es wert sind, angehört, beachtet und gefördert zu werden; dass Kinder ihren Eltern nicht gehören und sie darum mit ihnen nicht tun und lassen können, was sie wollen. Ich will nicht sagen, dass die Sicht auf die Kinder als unfertige Erwachsene durch den Spruch von den jungen Bäumen und ihren Stützen kommt. Dieser Spruch ist nur das Symptom einer zu meiner Kindheit jedenfalls noch weit verbreiteten Anschauung.
Ratschläge und Sprüche sind sozusagen die Spitze des Eisbergs einer Weltanschauung, einer Ideologie, mit der wir aufwachsen und leben. Weltanschauungen und Ideologien trennen Generationen voneinander und Völker. Sie stehen hinter den Vorurteilen, die man gegenüber anderen hegt - gegenüber den eigenen Kindern, gegenüber dem anderen Geschlecht, gegenüber Menschen, die anders aussehen, anders leben, anders lieben als man selbst.
Jerusalem, die Stadt aus der Vision Jesajas, kann man als ein Symbol für die Unversöhnlichkeit ansehen, zu der unterschiedliche Ideologien führen. Juden, Muslime, Christen und Atheisten leben dort miteinander und können doch nicht zusammenleben.
Es gab und gibt viele geteilte Städte, viele gespaltene Gesellschaften. Jerusalem, als himmlisches Jerusalem Ort der Sehnsüchte und Hoffnungen, ist der Ort, an dem die Zerrissenheit und Unversöhnlichkeit der Menschheit besonders erfahrbar wird. Weil der schon so lange währende Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis, zwischen Muslimen, Christen und Juden nicht beendet werden kann. Auf allen Seiten Täter und Opfer. Weil die Situation so verfahren und unlösbar ist, macht Jesajas Vision schmerzlich bewusst, dass es eine Lösung dieses Konfliktes erst am Ende der Zeiten geben wird. Denn das Problem liegt nicht an den unterschiedlichen Interessen von Israelis und Palästinensern, nicht an den religiösen Unterschieden zwischen Christen, Juden und Muslimen. Es ist in unserem Menschsein selbst begründet; darum ist es auch von uns nicht lösbar.
Wir wachsen mit einer Weltanschauung, einer Ideologie auf. Mit Bildern von Freund und Feind, von Gut und Böse, richtig und falsch, die wir sozusagen mit der Muttermilch aufsaugen und die uns ständig umgeben und begleiten, wie die Ratschläge und Sprüche. Sie verhindert, dass wir uns die Hände reichen, einander vertrauen und Frieden schließen.
Doch zugleich zeigt Jesajas Vision die Lösung auf, wie die Konflikte zwischen Menschen und Völkern, die in Gewalt und Krieg münden, überwunden werden könnten: „Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen!”
Die Lösung ist nicht eine Wallfahrt zum Zion. Sie ist nicht an der Mauer zu finden, die allein vom zweiten Tempel übrig geblieben ist. Die Lösung besteht darin, dass man nach dem Willen Gottes fragt, seine Wege kennenlernt und nach seiner Weisung lebt. Dabei ist es, wie wir wissen und wie die Geschichte uns lehrt, nicht damit getan, dass man die Bibel aufschlägt und tut, was da steht.
Denn wir können die Bibel nur als die lesen, die wir sind: mit der Brille unserer Weltanschauung, unserer Ideologie. Wir lesen hinein, was wir darin finden wollen, was wir zu finden gewohnt sind oder gelehrt wurden.
Zunächst müssen wir uns also bewusst werden, dass wir die Welt durch eine Brille sehen - nicht nur durch die auf der Nase. Dann müssen wir den Mut haben, diese Brille wegzuwerfen: Uns lösen von unseren Vorstellungen von richtig und falsch, gerecht und ungerecht, Wahrheit und Fiktion, damit wir überhaupt erst einmal fragen können, was Gott von uns will.
Das ist ein sehr mühsamer Weg. Die Konflikte dieser Welt werden sich damit nicht beenden lassen. Aber es ist der einzige Weg, der wirklich erfolgreich und nachhaltig ist.
Dass die Völker sich friedlich am Zion treffen, um nach Gottes Weisung zu fragen, wird wohl erst am Ende der Zeiten geschehen. Aber etwas davon kann jetzt schon wirklich werden in kleinen Schritten, die wir als Einzelne gehen. Vielleicht spricht es sich herum, dass das ein gangbarer Weg ist. Vielleicht macht unser Verhalten anderen Mut, es auch mit Gottes Weisung zu versuchen.
Irgendwann werden die, die Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln machen wollen, mehr sein als die, die mit Schwertern und Sicheln aufeinander losgehen. Irgendwann werden sie einflussreicher sein als die, die ihr Geld damit verdienen, dass sie Schwerter und Sicheln herstellen, neue, noch tödlichere Waffen entwickeln und Regierungen dazu bewegen, sie bei ihnen in großen Massen zu bestellen.
„Mit der Zeit geht alles in die Brüche.” Ja, die Ideologien und Weltanschauungen müssen zerbrechen, damit wir zu fragen beginnen können, was dem Leben dient: Die Weisung und der gute Wille dessen, der uns und allen Menschen das Leben geschenkt hat; der will, dass wir und alle Menschen glücklich sind und in Frieden leben können.
Und der weiß, wie das geht: Indem man seine Ideologie nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern anerkennt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen und zu erleben. Nicht meine Weltsicht ist die Maßgebliche. Nicht die desjenigen, der am lautesten schreit oder mich dazu zwingen kann, die Welt so zu sehen, wie er will.
Gottes unbedingte Liebe ist der Maßstab, an dem jede Ideologie zerschellt. Sie ist der Weg, der uns ins Leben und in sein Licht führt.