Liedpredigt am Vorabend des 8.Sonntag nach Trinitatis, 9.8.2025
über EG 318, O gläubig Herz, gebenedei
Liebe Schwestern und Brüder,
den Gottesdienst hält nicht nur einer, und im Gottesdienst redet auch nicht nur einer – auch wenn es oft den Anschein hat. Da sind auch die Organistin, die Küsterin, die Lektorin. Und da sind Sie: die Gemeinde. Der Gottesdienst ist die gemeinsame Feier aller, die hier und heute versammelt sind. Der Gottesdienst ist Sache der ganzen Gemeinde.
Das unterstreicht ein winziges Wörtchen, das wir meist automatisch sagen und das sozusagen unsere Unterschrift unter das ist, was wir hörten, beteten oder sangen: Das hebräische Wörtchen Amen.
Wer „Amen“ sagt, stimmt zu, sagt „Ja und Amen“ zu dem, was sie, was er gerade hörte, sprach oder sang, und macht sich damit das Gesagte zu eigen. Beteiligung, Mittun geschieht nicht nur dadurch, dass man die Kirche vorbereitet, die Lesung hält, die Orgel spielt oder auf die Kanzel steigt. Mitsingen, Mitbeten und vor allem: die innere Beteiligung sind Formen des Mitwirkens am Gottesdienst.
Wir sagen und singen Vieles im Gottesdienst. Meist tun wir es, ohne darüber groß nachzudenken; dazu geht es auch einfach zu schnell. Singen und dabei auf den Text achten funktioniert nur bei bekannten Liedern. Manches wiederum ist so vertraut, dass man es im Schlaf herunterbeten könnte, wie Glaubensbekenntnis oder Vaterunser.
Die Worte und Melodien, die wir sprechen und singen, wirken auf eine unterschwellige, subversive Weise: Diese Worte, diese Melodien machen etwas mit uns. Etwas geschieht mit uns, wenn wir sprechen oder singen, ohne dass wir es bemerken. Was das sein könnte, möchte ich Ihnen an dem Lied zeigen, das wir gerade gesungen haben.
„O gläubig Herz, gebenedei“ - nicht gerade ein Schlager, dieses Lied. Manche von Ihnen haben es heute wohl zum ersten Mal gesungen. Seine altertümliche Ausdrucksweise befremdet und schreckt ab. Gerade weil uns die Sprache des Liedes so fremd ist, muss man genauer hinschauen, was wir da eigentlich gerade gesungen haben.
Schon in der ersten Zeile findet sich das Wörtchen „gebenedei“. „Gebenedei” - woher kennt man das bloß? Ach ja! Aus dem „Ave Maria“:
„Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnaden.
Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen,
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus ...”
Da ist es, das Wort „gebenedeit“. Es stammt vom Lateinischen „benedicere”. Wörtlich bedeutet es “gutsprechen”. Nicht „gut sprechen” als Eigenschaft im Sinne von „sich gut ausdrücken, schön oder verständlich sprechen.” Sondern als Vorgang: ich sage, dass etwas gut ist - oder ich sage etwas Gutes. Das eine ist das Preisen, das andere des Segnen. Das Lied spricht also vom Segnen und Preisen. Aber es heißt nicht „O gläubig Herz, gebenedei-T,” „gesegnet“, sondern gebened-EI – „segne“. Das Herz wird aufgefordert zu segnen und zu preisen ...
Wie kann ein Herz segnen? Ein Herz schlägt im Körper, pumpt Blut. Aber segnen? Doch ein Herz kann mehr als nur schlagen: Uns hat es bei großem Liebeskummer das Herz zerrissen, das wir vorher unserer Liebsten oder unserem Geliebten geschenkt hatten. Wenn es ganz schlimm kam, dann hat uns jemand das Herz gebrochen. Unvermittelt sind wir in eine andere Sprachwelt eingetaucht: in die Welt der Bilder, in der Herzen zerrissen, verschenkt und auch gebrochen werden können. Damit sage ich nichts anderes, als dass ich zerrissen wurde, ich mich verschenkte, ich gebrochen wurde. Das Herz steht für das, was mich ausmacht, was ich im Innersten bin.
Das „gläubig Herz” - das bin ich. Das „gläubig Herz” ist auch der oder die, die ich „ansinge“. Wenn wir singen, geschehen zwei Dinge auf einmal: Wir sprechen etwas aus, und wir sprechen uns an, sagen und singen uns etwas zu. Mit den Worten „O gläubig Herz, gebenedei“ fordere ich mich nicht nur selbst zum Segnen und Preisen auf, sondern auch die, die mit mir singen. Zugleich werde ich, indem andere mich „ansingen“, von ihnen ermuntert, zu segnen und den Herrn zu loben. So sind wir beim Singen zugleich Gebende und Empfangende, Worte Schenkende und mit Worten Beschenkte
Was aber soll das Segnen bedeuten? Der Segen im Gottesdienst kommt ja erst am Schluss. Der Segen: Das Versprechen von Gottes Nähe und Beistand: „Der Herr segne dich und behüte dich.“ Das Versprechen von Gottes Freundlichkeit und Güte: „Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig.“ Das Versprechen von Gottes liebevoller Zuwendung und seiner Versöhnung: „Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“
„O gläubig Herz, gebenedei“ will also sagen: Diesen Segen, den wir von Gott empfangen, können und sollen wir weitergeben, indem wir erzählen, was Gott für uns getan hat.
Was hat Gott denn für mich, für uns getan? Das finden wir in den nächsten Versen des Liedes. Doch Halt! So viele Worte, so viele Gedanken, allein für den ersten Satz der ersten Strophe des Liedes! Und es hat insgesamt neun … Was mag das noch werden, wie lange mag die Predigt heute noch dauern, werden Sie jetzt vielleicht ängstlich denken!
Oder Sie fragen sich, wie viel Zeit und Hirnschmalz man aufwenden muss, um dieses Lied zu verstehen – und ob es wegen dieses Aufwandes nicht besser wäre, auf solche alten Lieder zu verzichten?
Beide Befürchtungen haben ihr Recht. Aber zuerst möchte ich Entwarnung geben: So viel zu sagen wie zum ersten Satz des Liedes habe ich zu den übrigen Strophen nicht. In diesem Lied hängt alles am ersten Satz; wenn wir den verstanden haben, ergibt sich alles andere von allein.
Allerdings – ums Verstehen und verstehen Wollen kommen wir nicht herum. Und das nicht, weil unser Glaube etwa schwer zu begreifen wäre: Nein, die Schwierigkeit liegt darin, dass wir oft nicht merken oder wahrhaben wollen, oft nicht merken oder wahrhaben können, dass Gott gut zu uns ist – und wie gut Gott zu uns ist. Barmherzig, liebevoll, freundlich kann nur sein, wer Barmherzigkeit, Liebe und Freundlichkeit erfährt. Nur wer etwas hat, kann etwas geben. Wenn also das Herz segnen und preisen soll, dann muss dieses Herz voll sein – denn nur „wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ (Luk 6,45). Und da kommt jetzt der spannende Moment und der springende Punkt: Kann ich das fühlen, kann ich dem zustimmen, dass mein Herz voll ist, dass ich von Gott gesegnet bin?
Oft fühlt man ihn nicht, diesen Überschwang, die Lust zu loben und Gott zu danken. Denn wie oft fehlt es uns an Wichtigem – an Liebe und Zuwendung, an Bestätigung und Erfolg. Wer Streit in der Beziehung, in der Familie hat, wer von seiner Arbeit überfordert ist, wer krank ist oder einsam – wie kann dessen Herz voll sein? Wie soll segnen können, wer selbst so dringend des Segens bedarf?
Schauen wir uns ein letztes Mal die ersten beiden Zeilen des Liedes an: „O gläubig Herz, gebenedei und gib Lob deinem Herren!“ Auf den ersten Blick klingen sie wie eine Aufforderung, die ich nur müde abwinken kann: Mir ist nach Loben nicht zumute. Erst beim Weiterlesen und -singen wird deutlich, dass uns hier etwas zugesprochen wird: Nämlich, dass es Grund zum Lob gibt, weil unser Herz gefüllt ist. Wir können segnen und Gott loben, weil wir allen Grund dazu haben. Warum?
Weil Gott uns ein guter Vater ist, der uns von Herzen liebt und alles mit uns teilt, uns – wie der Vater den verlorenen Sohn – aufnimmt, vergibt und Gutes tut. Das ganze Lied möchte uns davon überzeugen, wie sehr wir geliebt, wie reich wir gesegnet sind – auch und gerade dann, wenn unsere Lebenserfahrung dem zu widersprechen scheint.
Damit komme ich zu meiner Behauptung vom Anfang zurück, dass das Singen unterschwellig, subversiv wirkt: Wer diese Worte singt, spricht sich selbst zu, wie reich er, wie reich sie beschenkt ist. Spricht es sich selbst zu, und der Nachbarin, dem Nachbarn in der Bank. Bekommt es von vorn, von hinten, von rechts und links zugesprochen und zugesungen. Es ist uns gar nicht bewusst, wie viel wir einander geben, wie viel wir da füreinander tun, wenn wir uns durch unser Mitsingen und Mitbeten gute Worte sagen und zusprechen. Und wie wichtig, wie unentbehrlich gerade unser Mitsingen und Mitbeten sind - denn wie sollte unser Banknachbar sonst diese wichtigen Worte hören?
Es ist gerade diese altertümliche, schwer verständliche Form, durch die man aushalten und vielleicht sogar annehmen kann, was einem da an Gutem zugesprochen wird. Wie komisch wäre es, wenn wir uns gegenseitig mit treuem Blick sagen würden: „Gott hat dich lieb.” So verfremdet durch die altertümliche Form aber kann man es hören und annehmen, wann - und wenn - man will. Man kann, muss aber nicht. Und gerade in dieser Freiheit will mich das Lied verlocken, es doch einmal zu versuchen: Seine Worte auf mich beziehen, sie mir gesagt sein zu lassen und zu spüren: Sie gelten mir. Ich bin gemeint.