Sonntag, 10. August 2025

Lasst uns wandeln im Lichte des Herrn

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 10. August 2025, über Jesaja 2,1-5

Liebe Schwestern und Brüder,

„weißt du, wie es war, als wir beim Antiquar das Buch fanden ‚Tausend weise Sprüche’ ?” fragt Hermann van Veen in einem melancholischen Lied. „Mir fällt einer ein, der passt dort gut heinein: Mit der Zeit geht alles in die Brüche.”

Weise Sprüche - davon gibt es viele. In der Bibel eine ganze Sammlung davon, das Buch der Sprüche Salomos. Auch außerhalb der Bibel werden weise Sprüche gesammelt; der Bedarf nach solchen Sprüchen ist offenbar groß. Sogar in Jesajas Vision drängen die Völker nach Jerusalem, um Weisung von Gott zu erhalten.

Weise Sprüche sind manchmal weise, und manchmal sind es bloß Sprüche. „Mit der Zeit geht alles in die Brüche” - schwer zu sagen, ob das wirklich weise ist, oder einfach nur eine banale Feststellung.

Sprüche, die man so im Leben zu hören bekommt, auch und gerade die scheinbar banalen, haben einen größeren Einfluss auf uns, als man denkt oder sich eingesteht.

Das gilt sicherlich nicht für jede und jeden. Mancher, manche geht ihren Weg unbeirrt von den Sprüchen, mit denen man sie belegt, unbeeindruckt von den Ratschlägen, die man ihr erteilt. Wer weiß, was er will, besitzt einen inneren Kompass, der verlässlich die Richtung weist, sodass man sich nicht ablenken lässt von seinem Weg.

Andere werden beeinflusst von Sprüchen und Ratschlägen. Denn Ratschläge sind auch Schläge. Sie sind, so gut sie gemeint sein mögen, eine manchmal sanfte, manchmal sehr spürbare Form von Gewalt, durch die jemand zu einem bestimmten Handeln oder Verhalten bewegt werden soll. Ein Spruch, den Sie als Kind vielleicht auch hörten, bringt das ziemlich unverblümt zum Ausdruck: 

„Den jungen Bäumen gibt man ihre Stützen,
um einst als gerade Stämme frei zu stehn.
Die Jugend mag des Alters Rat benützen,
sich leiten lassen, es sie selbst kann gehn.” 

Diesen Spruch leitet die Überzeugung, dass das Alter der Jugend etwas voraus hat, weshalb die Jugend „angebunden” werden muss, wie das Bäumchen, das man gepflanzt hat. Sie darf nicht wachsen, wie sie will, die Jugend, sondern muss auf das Alter hören. Mit dieser Überzeugung sind wir wohl alle aufgewachsen und haben sie nie infrage gestellt. Dabei ist Alter an sich kein Grund, dass jemand etwas besser kann oder besser weiß als ein junger Mensch.

Ratschläge und Sprüche sagen nicht nur, was man tun oder lassen soll. Sie transportieren auch eine Weltanschauung, eine Ideologie. Im Fall des Spruches von den jungen Bäumen die, dass das Alter es besser weiß als die Jugend. Selbst wenn man es anders sieht, ist es schwer, gegen diese Überzeugung anzukommen, weil sie so verbreitet ist.

Es hat Jahrzehnte gedauert, bis man begriff, dass Kinder keine unfertigen Erwachsenen sind, die man heranzieht wie Ferkel und abrichtet wie Hunde. Denen man den Mund verbietet, wenn Erwachsene reden, und deren Wille gebrochen werden muss, damit sie lernen, das zu wollen, was die Erwachsenen wollen.

Bis heute ist es keineswegs selbstverständlich und allgemein verbreitet, dass Kinder vollwertige Mitmenschen sind, deren Willen man ebenso ernst nehmen und respektieren muss wie den eines Erwachsenen; dass Kinder eigene Interessen und Meinungen haben, die es wert sind, angehört, beachtet und gefördert zu werden; dass Kinder ihren Eltern nicht gehören und sie darum mit ihnen nicht tun und lassen können, was sie wollen. Ich will nicht sagen, dass die Sicht auf die Kinder als unfertige Erwachsene durch den Spruch von den jungen Bäumen und ihren Stützen kommt. Dieser Spruch ist nur das Symptom einer zu meiner Kindheit jedenfalls noch weit verbreiteten Anschauung.

Ratschläge und Sprüche sind sozusagen die Spitze des Eisbergs einer Weltanschauung, einer Ideologie, mit der wir aufwachsen und leben. Weltanschauungen und Ideologien trennen Generationen voneinander und Völker. Sie stehen hinter den Vorurteilen, die man gegenüber anderen hegt - gegenüber den eigenen Kindern, gegenüber dem anderen Geschlecht, gegenüber Menschen, die anders aussehen, anders leben, anders lieben als man selbst.

Jerusalem, die Stadt aus der Vision Jesajas, kann man als ein Symbol für die Unversöhnlichkeit ansehen, zu der unterschiedliche Ideologien führen. Juden, Muslime, Christen und Atheisten leben dort miteinander und können doch nicht zusammenleben.

Es gab und gibt viele geteilte Städte, viele gespaltene Gesellschaften. Jerusalem, als himmlisches Jerusalem Ort der Sehnsüchte und Hoffnungen, ist der Ort, an dem die Zerrissenheit und Unversöhnlichkeit der Menschheit besonders erfahrbar wird. Weil der schon so lange währende Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis, zwischen Muslimen, Christen und Juden nicht beendet werden kann. Auf allen Seiten Täter und Opfer. Weil die Situation so verfahren und unlösbar ist, macht Jesajas Vision schmerzlich bewusst, dass es eine Lösung dieses Konfliktes erst am Ende der Zeiten geben wird. Denn das Problem liegt nicht an den unterschiedlichen Interessen von Israelis und Palästinensern, nicht an den religiösen Unterschieden zwischen Christen, Juden und Muslimen. Es ist in unserem Menschsein selbst begründet; darum ist es auch von uns nicht lösbar.

Wir wachsen mit einer Weltanschauung, einer Ideologie auf. Mit Bildern von Freund und Feind, von Gut und Böse, richtig und falsch, die wir sozusagen mit der Muttermilch aufsaugen und die uns ständig umgeben und begleiten, wie die Ratschläge und Sprüche. Sie verhindert, dass wir uns die Hände reichen, einander vertrauen und Frieden schließen.

Doch zugleich zeigt Jesajas Vision die Lösung auf, wie die Konflikte zwischen Menschen und Völkern, die in Gewalt und Krieg münden, überwunden werden könnten: „Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen!”

Die Lösung ist nicht eine Wallfahrt zum Zion. Sie ist nicht an der Mauer zu finden, die allein vom zweiten Tempel übrig geblieben ist. Die Lösung besteht darin, dass man nach dem Willen Gottes fragt, seine Wege kennenlernt und nach seiner Weisung lebt. Dabei ist es, wie wir wissen und wie die Geschichte uns lehrt, nicht damit getan, dass man die Bibel aufschlägt und tut, was da steht.

Denn wir können die Bibel nur als die lesen, die wir sind: mit der Brille unserer Weltanschauung, unserer Ideologie. Wir lesen hinein, was wir darin finden wollen, was wir zu finden gewohnt sind oder gelehrt wurden.

Zunächst müssen wir uns also bewusst werden, dass wir die Welt durch eine Brille sehen - nicht nur durch die auf der Nase. Dann müssen wir den Mut haben, diese Brille wegzuwerfen: Uns lösen von unseren Vorstellungen von richtig und falsch, gerecht und ungerecht, Wahrheit und Fiktion, damit wir überhaupt erst einmal fragen können, was Gott von uns will.

Das ist ein sehr mühsamer Weg. Die Konflikte dieser Welt werden sich damit nicht beenden lassen. Aber es ist der einzige Weg, der wirklich erfolgreich und nachhaltig ist.

Dass die Völker sich friedlich am Zion treffen, um nach Gottes Weisung zu fragen, wird wohl erst am Ende der Zeiten geschehen. Aber etwas davon kann jetzt schon wirklich werden in kleinen Schritten, die wir als Einzelne gehen. Vielleicht spricht es sich herum, dass das ein gangbarer Weg ist. Vielleicht macht unser Verhalten anderen Mut, es auch mit Gottes Weisung zu versuchen.

Irgendwann werden die, die Schwerter zu Pflugscharen und Spieße zu Sicheln machen wollen, mehr sein als die, die mit Schwertern und Sicheln aufeinander losgehen. Irgendwann werden sie einflussreicher sein als die, die ihr Geld damit verdienen, dass sie Schwerter und Sicheln herstellen, neue, noch tödlichere Waffen entwickeln und Regierungen dazu bewegen, sie bei ihnen in großen Massen zu bestellen.

„Mit der Zeit geht alles in die Brüche.” Ja, die Ideologien und Weltanschauungen müssen zerbrechen, damit wir zu fragen beginnen können, was dem Leben dient: Die Weisung und der gute Wille dessen, der uns und allen Menschen das Leben geschenkt hat; der will, dass wir und alle Menschen glücklich sind und in Frieden leben können.

Und der weiß, wie das geht: Indem man seine Ideologie nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern anerkennt, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, die Welt zu sehen und zu erleben. Nicht meine Weltsicht ist die Maßgebliche. Nicht die desjenigen, der am lautesten schreit oder mich dazu zwingen kann, die Welt so zu sehen, wie er will.

Gottes unbedingte Liebe ist der Maßstab, an dem jede Ideologie zerschellt. Sie ist der Weg, der uns ins Leben und in sein Licht führt.

Samstag, 9. August 2025

du bist gemeint

Liedpredigt am Vorabend des 8.Sonntag nach Trinitatis, 9.8.2025
über EG 318, O gläubig Herz, gebenedei

Liebe Schwestern und Brüder,

den Gottesdienst hält nicht nur einer, und im Gottesdienst redet auch nicht nur einer – auch wenn es oft den Anschein hat. Da sind auch die Organistin, die Küsterin, die Lektorin. Und da sind Sie: die Gemeinde. Der Gottesdienst ist die gemeinsame Feier aller, die hier und heute versammelt sind. Der Gottesdienst ist Sache der ganzen Gemein­de.

Das unterstreicht ein winziges Wört­chen, das wir meist automatisch sagen und das sozusagen unsere Unterschrift unter das ist, was wir hörten, beteten oder sangen: Das hebrä­ische Wörtchen Amen.

Wer „Amen“ sagt, stimmt zu, sagt „Ja und Amen“ zu dem, was sie, was er gerade hörte, sprach oder sang, und macht sich damit das Gesagte zu eigen. Beteiligung, Mittun geschieht nicht nur dadurch, dass man die Kirche vorbereitet, die Lesung hält, die Orgel spielt oder auf die Kanzel steigt. Mitsingen, Mitbeten und vor allem: die innere Beteiligung sind Formen des Mitwirkens am Gottesdienst.

Wir sagen und singen Vieles im Gottesdienst. Meist tun wir es, ohne darüber groß nachzudenken; dazu geht es auch einfach zu schnell. Singen und dabei auf den Text achten funktioniert nur bei bekannten Liedern. Manches wiederum ist so vertraut, dass man es im Schlaf herunterbeten könnte, wie Glaubensbekenntnis oder Vaterunser.

Die Worte und Melodien, die wir sprechen und singen, wirken auf eine unterschwellige, subversive Weise: Diese Worte, diese Melodien machen etwas mit uns. Etwas geschieht mit uns, wenn wir sprechen oder singen, ohne dass wir es bemerken. Was das sein könnte, möchte ich Ihnen an dem Lied zeigen, das wir gerade gesungen haben.

„O gläubig Herz, gebenedei“ - nicht gerade ein Schlager, dieses Lied. Manche von Ihnen haben es heute wohl zum ersten Mal gesungen. Seine altertümliche Ausdrucksweise befremdet und schreckt ab. Gerade weil uns die Sprache des Liedes so fremd ist, muss man genauer hinschauen, was wir da eigentlich gerade gesungen haben.

Schon in der ersten Zeile findet sich das Wörtchen „gebenedei“. „Gebenedei” - woher kennt man das bloß? Ach ja! Aus dem „Ave Maria“:  

„Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnaden.
        Der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen,
        und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus ...”

Da ist es, das Wort „gebenedeit“. Es stammt vom Lateinischen „benedicere”. Wörtlich bedeutet es “gutsprechen”. Nicht „gut sprechen” als Eigenschaft im Sinne von „sich gut ausdrücken, schön oder verständlich sprechen.” Sondern als Vorgang: ich sage, dass etwas gut ist - oder ich sage etwas Gutes. Das eine ist das Preisen, das andere des Segnen. Das Lied spricht also vom Segnen und Preisen. Aber es heißt nicht „O gläubig Herz, gebenedei-T,” „gesegnet“, sondern gebened-EI – „segne“. Das Herz wird aufgefordert zu segnen und zu preisen ...

Wie kann ein Herz segnen? Ein Herz schlägt im Körper, pumpt Blut. Aber segnen? Doch ein Herz kann mehr als nur schlagen: Uns hat es bei großem Liebeskummer das Herz zerrissen, das wir vorher unserer Liebsten oder unserem Geliebten geschenkt hatten. Wenn es ganz schlimm kam, dann hat uns jemand das Herz gebrochen. Unvermittelt sind wir in eine andere Sprachwelt eingetaucht: in die Welt der Bilder, in der Herzen zerrissen, verschenkt und auch gebrochen werden können. Damit sage ich nichts anderes, als dass ich zerrissen wurde, ich mich verschenkte, ich gebrochen wurde. Das Herz steht für das, was mich ausmacht, was ich im Innersten bin. 

Das „gläubig Herz” - das bin ich. Das „gläubig Herz” ist auch der oder die, die ich „ansinge“. Wenn wir singen, geschehen zwei Dinge auf einmal: Wir sprechen etwas aus, und wir sprechen uns an, sagen und singen uns etwas zu. Mit den Worten „O gläubig Herz, gebenedei“ fordere ich mich nicht nur selbst zum Segnen und Preisen auf, sondern auch die, die mit mir singen. Zugleich werde ich, indem andere mich „ansingen“, von ihnen ermuntert, zu segnen und den Herrn zu loben. So sind wir beim Singen zugleich Geben­de und Empfangende, Worte Schenkende und mit Worten Beschenkte

Was aber soll das Segnen bedeuten? Der Segen im Gottesdienst kommt ja erst am Schluss. Der Segen: Das Versprechen von Gottes Nähe und Beistand: „Der Herr segne dich und behüte dich.“ Das Ver­spre­chen von Gottes Freundlichkeit und Güte: „Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig.“ Das Versprechen von Gottes liebevoller Zuwendung und seiner Versöhnung: „Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.“

„O gläubig Herz, gebenedei“ will also sagen: Diesen Segen, den wir von Gott empfangen, können und sollen wir weitergeben, indem wir erzählen, was Gott für uns getan hat. 

Was hat Gott denn für mich, für uns getan? Das finden wir in den nächsten Versen des Liedes. Doch Halt! So viele Worte, so viele Gedanken, allein für den ersten Satz der ersten Strophe des Liedes! Und es hat insgesamt neun … Was mag das noch werden, wie lange mag die Predigt heute noch dauern, werden Sie jetzt vielleicht ängstlich denken!

Oder Sie fragen sich, wie viel Zeit und Hirnschmalz man aufwenden muss, um dieses Lied zu verstehen – und ob es wegen dieses Aufwandes nicht besser wäre, auf solche alten Lieder zu verzichten?

Beide Befürchtungen haben ihr Recht. Aber zuerst möchte ich Entwarnung geben: So viel zu sagen wie zum ersten Satz des Liedes habe ich zu den übrigen Stro­phen nicht. In diesem Lied hängt alles am ersten Satz; wenn wir den verstanden haben, ergibt sich alles andere von allein. 

Allerdings – ums Verstehen und verstehen Wollen kommen wir nicht herum. Und das nicht, weil unser Glaube etwa schwer zu begreifen wäre: Nein, die Schwierigkeit liegt darin, dass wir oft nicht merken oder wahrhaben wollen, oft nicht merken oder wahrhaben können, dass Gott gut zu uns ist – und wie gut Gott zu uns ist. Barmherzig, liebevoll, freundlich kann nur sein, wer Barmherzigkeit, Liebe und Freundlichkeit erfährt. Nur wer etwas hat, kann etwas geben. Wenn also das Herz segnen und preisen soll, dann muss dieses Herz voll sein – denn nur „wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ (Luk 6,45). Und da kommt jetzt der spannende Moment und der sprin­gende Punkt: Kann ich das fühlen, kann ich dem zustimmen, dass mein Herz voll ist, dass ich von Gott gesegnet bin?

Oft fühlt man ihn nicht, diesen Überschwang, die Lust zu loben und Gott zu danken. Denn wie oft fehlt es uns an Wich­tigem – an Liebe und Zuwendung, an Bestätigung und Erfolg. Wer Streit in der Beziehung, in der Familie hat, wer von seiner Arbeit überfordert ist, wer krank ist oder einsam – wie kann dessen Herz voll sein? Wie soll segnen können, wer selbst so dringend des Segens bedarf?

Schauen wir uns ein letztes Mal die ersten beiden Zeilen des Liedes an: „O gläubig Herz, gebenedei und gib Lob deinem Herren!“ Auf den ersten Blick klingen sie wie eine Aufforderung, die ich nur müde abwinken kann: Mir ist nach Loben nicht zumute. Erst beim Weiterlesen und -singen wird deutlich, dass uns hier etwas zugesprochen wird: Nämlich, dass es Grund zum Lob gibt, weil unser Herz gefüllt ist. Wir können segnen und Gott loben, weil wir allen Grund dazu haben. Warum?

Weil Gott uns ein guter Vater ist, der uns von Herzen liebt und alles mit uns teilt, uns – wie der Vater den verlorenen Sohn – aufnimmt, vergibt und Gutes tut. Das ganze Lied möchte uns davon überzeugen, wie sehr wir geliebt, wie reich wir gesegnet sind – auch und gerade dann, wenn unsere Lebenserfahrung dem zu widersprechen scheint. 

Damit komme ich zu meiner Behauptung vom Anfang zurück, dass das Singen unterschwellig,  subversiv wirkt: Wer diese Worte singt, spricht sich selbst zu, wie reich er, wie reich sie beschenkt ist. Spricht es sich selbst zu, und der Nachbarin, dem Nachbarn in der Bank. Bekommt es von vorn, von  hinten, von rechts und links zugesprochen und zugesungen. Es ist uns gar nicht bewusst, wie viel wir einander geben, wie viel wir da füreinander tun, wenn wir uns durch unser Mitsingen und Mitbeten gute Worte sagen und zusprechen. Und wie wichtig, wie unentbehrlich gerade unser Mitsingen und Mitbeten sind - denn wie sollte unser Banknachbar sonst diese wichtigen Worte hören?

Es ist gerade diese altertümliche, schwer verständliche Form, durch die man aushalten und vielleicht sogar annehmen kann, was einem da an Gutem zugesprochen wird. Wie komisch wäre es, wenn wir uns gegenseitig mit treuem Blick sagen würden: „Gott hat dich lieb.” So verfremdet durch die altertümliche Form aber kann man es hören und annehmen, wann - und wenn - man will. Man kann, muss aber nicht. Und gerade in dieser Freiheit will mich das Lied verlocken, es doch einmal zu versuchen: Seine Worte auf mich beziehen, sie mir gesagt sein zu lassen und zu spüren: Sie gelten mir. Ich bin gemeint.

Sonntag, 3. August 2025

wie werden Menschen satt

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 2./3.8.2025 über Johannes 6,30-35

Liebe Schwestern und Brüder,

ach, wäre das schön, wenn man Probleme ganz einfach lösen könnte. Wenn Autos mit Wasser fahren würden, wenn wir unsere Häuser warm bekämen, ohne Gas und Öl dafür verbrennen zu müssen.

Ach, wäre das schön, wenn man Frieden herstellen könnte zwischen Israelis und Palästinensern, Drusen und Beduinen, Russen und Ukrainern.

Ach, wäre das schön, wenn es auch eine einfache Lösung gäbe, wie man Menschen satt macht. Angesichts der verhungernden oder bereits verhungerten Kinder im Sudan und in Gaza ein ganz dringlicher Wunsch.

Man fragt sich, warum es überhaupt so weit kommen konnte. Warum es immer wieder so weit kommt, dass Menschen vor Hunger sterben müssen, während wir hier im Überfluss leben und Nahrung wegwerfen, weil sie niemand kaufen will.

Jesus bietet für das große Problem, wie Menschen satt werden, eine genial einfache Lösung an. Wir haben es im Evangelium gehört: „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.”

I

Immer wieder werden einfache Lösungen für schwierige Probleme angeboten. Manchmal ist die Lösung tatsächlich ganz einfach: Wenn man ein Marmeladenglas nicht aufbekommt, gibt es einen Trick. Man muss nur wissen, wie, schon geht das Glas auf. 

Eine Freundin konnte einmal ihre Ente nicht starten; nachdem sie alles mögliche versucht hatte, haute sie schließlich entnervt mit der Faust auf die Motorhaube. Aber davon sprang der Wagen natürlich auch nicht an. Da sagte jemand, der gesehen hatte, wie sie sich abmühte, sie solle das Auto nicht schlagen, sondern streicheln. Weil sie so verzweifelt war und dringend weg musste, tat sie, was der Mann ihr geraten hatte: Sie streichelte ihrer Ente über die Motorhaube - und sofort sprang sie an.

Solche radikal einfachen Lösungen müsste es doch auch für die großen Probeme geben. Da müsste es doch auch einen Trick geben. Und manchmal geht's einem wie Wickie: man hat einen Geistesblitz und denkt, Ha! jetzt hab ich’s! So könnte, so müsste es gehen. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt - und spätestens dann, wenn man seine Idee anderen vorstellt -, zeigt sich, dass man doch etwas Wesentliches übersehen hat, und dass die Lösung nicht so einfach ist, wie man dachte.

Für die großen Probleme scheint es keine einfachen Lösungen zu geben - ja, es scheint gar keine Lösungen zu geben.  Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, der Krieg Russlands gegen die Ukraine, die globale Erwärmung und vor allem die Bekämpfung des Hungers - dafür hat noch niemand ein Rezept gefunden.

Oder vielleicht doch? 

Hat Jesus vor knapp 2.000 Jahren bereits die Lösung für das Problem des Hungers gezeigt? „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.” Beim ersten Hören klingt es so. Nie mehr hungrig, nie mehr durstig sein - was für eine tolle Aussicht! 

Jesus bietet für das große Problem, wie Menschen satt werden, eine ganz einfache Lösung an: Er bricht das Brot, und alle werden satt. So wird im Johannesevangelium von der Speisung der 5.000 erzählt,  die von fünf Broten und zwei Fischen satt werden - am Ende blieben sogar 12 Körbe mit Brocken übrig.

II

Was bei der Speisung der 5.000 geschah, war ein Wunder. Ein Wunder aber, das lehrt uns die Erfahrung, ist keine Lösung. Wunder gibt es zwar immer wieder, wie es in einem Schlager heißt, aber sie passieren doch so unberechenbar und zufällig; man kann sich nicht darauf verlassen, dass sie eintreten, wenn man sie braucht. Wenn, dann geschehen sie unverhofft.

Ein Wunder scheint Jesus auch nicht zu meinen, wenn er nach der Speisung der 5.000 sagt: „Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.” Nachdem die Menschen gesättigt sind, geht es um einen anderen Hunger, den Jesus stillen will. 

Der Hunger, den Jesus meint, ist ein Hunger der Seele. Den kennen wir auch.  Jemand ist „hungrig nach Anerkennung,” oder „hungrig nach Liebe.” Man hat „Wissensdurst” oder „dürstet nach Leben.” In solchen Redewendungen zeigen sich Hunger und Durst der Seele. Ich weiß nicht, ob man auch seelisch verhungern kann. Aber quälend und schmerzhaft kann der seelische Hunger sein.  Und ist nicht weniger schwer zu ertragen als der körperliche.

III

„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral,” singt Meckie Messer in der „Dreigroschenoper.” Wenn Menschen hungrig sind  und ihnen das Lebensnotwendige fehlt, kann man wohl nicht erwarten, dass sie sich menschlich verhalten. Das ist nicht nur die Meinung von Meckie Messer. Wenn Hunger und Durst zu groß werden, wird für die meisten alles andere zur Nebensache. Erst wer satt ist, kann sich um Anderes und um Andere kümmern.

Es gibt Ausnahmen von dieser Regel. Es gibt Menschen, die in extremsten Situationen ihre Menschlichkeit bewahrten und dadurch zu einem Vorbild wurden. Pater Kolbe zum Beispiel, der freiwillig für einen Mithäftling, der von der SS willkürlich für den Hungertod ausgewählt worden war, in den Hungerbunker ging, weil dieser Familie hatte und er nicht.

Irgendetwas hatte dieser Pater Kolbe. Etwas, das ihn so erfüllte, dass er den Hunger, der auch ihn quälte, aushalten konnte. Sein seelischer Hunger war gestillt. 

Wenn der Hunger der Seele gestillt ist, kann man offenbar körperlichen Hunger besser aushalten. Oder zumindest in Situationen, wo erst das Fressen kommt und dann die Moral, seine Menschlichkeit bewahren.

Wie werden Menschen satt? Keine Frage: Indem sie etwas essen. Nein, das ist noch nicht die Antwort. Denn auch ein satter Mensch empfindet noch Hunger. Den seelischen Hunger, den auch eine üppige Mahlzeit nicht stillen kann.

IV

Was Jesus anbietet, wenn er sagt: „Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten,” was Jesus anbietet ist das, was den Hunger der Seele stillt: Er selbst. 

Jesus stillt den Hunger der Seele, weil er uns mit Gott verbindet. Der direkte Draht zu Gott, die Verbindung mit der Schöpfermacht, mit der Fülle des Lebens, stillt den Hunger der Seele. Was könnte ihn besser stillen?

Wer mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott angesehen, geliebt und anerkannt. Kann die Anerkennung seiner Mitmenschen genießen, muss sie aber nicht um jeden Preis haben. Kann selbst andere anerkennen, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Kann anderen Anerkennung gönnen, ohne das Gefühl zu haben, zu kurz zu kommen.

Wer mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott geliebt. Muss nicht alle Liebe von seinen Mitmenschen, von der Partnerin oder dem Partner erwarten. Kann Durststrecken und Krisen einer Beziehung ertragen. 

Wer mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott angenommen, auch mit seinen Fehlern, seinem  Versagen, seiner Schuld. Findet den Mut, noch einmal von vorn anzufangen. Findet die Größe, anderen zu vergeben, mit anderen noch einmal von vorn anzufangen.

Wer mit Gott verbunden ist, hat die Fülle des Lebens gefunden. Muss nicht gierig oder geizig sein, muss nicht immer mehr Wachstum, immer größere Gewinne erzielen. Muss nicht den Neid empfinden auf das Glück und das Wohlergehen der anderen.

Muss die innere Leere nicht mit den völlig überflüssigen Dingen anfüllen, die die Werbung uns andrehen will. 

V

Vielleicht gibt es sie ja doch, die einfache Lösung der großen Probleme. Vielleicht liegt er näher, als wir meinen, der Trick, mit dem der Verschluss aufgeht.

Vielleicht besteht die Lösung darin, dass wir, die wir körperlichen Hunger zum Glück nicht mehr kennen, begreifen, dass auch der Hunger unserer Seele gestillt ist. Wir sind mit Gott verbunden, auf die engste nur denkbare Weise. 

Beim Abendmahl erleben wir diese enge Verbindung, wenn wir Gott in uns aufnehmen - ihn essen, so dass er in uns ist. Mit dem Leib Christi nehmen wir Gottes Fülle in uns auf. Sie ist in uns wie ein Energieball, der aus und heraus strahlt in Liebe und Freundlichkeit und Mitgefühl.

Wenn der Hunger gestillt ist, der Hunger des Körpers wie der Seele, dann kann selbst ein Meckie Messer sich nicht mehr entschuldigen mit seinem Satz „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.”

Wenn der Hunger gestillt ist, finden wir zu unserem Menschsein und zu unserer Bestimmung: Füreinander da zu sein und uns das Leben nicht zur Hölle, sondern zu einem Vorgeschmack des Himmels zu machen. Amen.

Sonntag, 27. Juli 2025

du bist ein:e Priester:in

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 27. Juli 2025, über 1.Petrus 2,2-10

Liebe Schwestern und Brüder,


„ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, 

ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum.”


Fühlen Sie sich angesprochen?

Das sollten Sie. Denn Sie sind es. Sie sind gemeint.

Wir alle sind mit diesem Satz gemeint.

Wir alle sind „ein königliches Priestertum,” mit anderen Worten: 

wir sind alle, jede und jeder Einzelne von uns, Priesterinnen und Priester.


Dieser Satz aus dem 1.Petrusbrief ist die Belegstelle

für das sogenannte „Priestertum aller Getauften.”

Wegen der großen Bedeutung, 

die das „Priestertums aller Getauften” für unseren Glauben hat,

ist es nicht unwichtig, dass dieser Satz gerade in dem Brief steht,

der Petrus als seinen Absender nennt.


Von ihm sagt Jesus nämlich:

„Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen. 

Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: 

Was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, 

und was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.”

Schauen Sie nach dem Gottesdienst mal in den Chorumgang,

in die „Vasenkapelle” auf der Südseite:

Dort finden Sie Petrus mit dem blauen Himmelsschlüssel im Fenster dargestellt.


Petrus mit einem blauen Schluessel. Darstellung auf einem mittelalterlichen Glasfenster im Schweriner Dom.

Petrus erhält von Jesus den Himmelsschlüssel.

Damit wird er vor allen anderen ausgezeichnet

und aus der Schar der Jünger herausgehoben.

In Rom, wo Petrus der erste Bischof gewesen sein soll,

wo er als Märtyrer starb und begraben wurde,

haben seine Nachfolger mit seiner Sonderstellung begründet,

dass der Bischof von Rom der erste unter allen Bischöfen

und das Oberhaupt der Kirche sei: Der Papst.


Petrus, der Briefautor, scheint davon nichts wissen zu wollen.

Er nimmt kein Privileg für sich in Anspruch, im Gegenteil:

Alle Gläubigen sind ohne Unterschied erwählt, heilig,

sind Gottes Eigentum und Priester oder Priesterinnen, schreibt er.

Alle Gläubigen haben den Schlüssel in der Hand,

mit dem sie sich und anderen den Weg zu Gott aufschließen können.

Weil Petrus das schreibt, 

darum kennt und achtet auch die katholische Kirche 

das „Priestertum aller Getauften.”

Trotzdem gibt es in der katholischen Kirche einen Unterschied

zwischen den Gläubigen und den geweihten Priestern.


Was ist denn nun eigentlich ein „Priester”, und wozu braucht man ihn?


Als das Telefon erfunden wurde - Sie erinnern sich -,

gab es noch keine Handapparate mit Tasten, wie wir sie heute kennen,

noch keine Telefone mit Wählscheibe und einer immer viel zu kurzen Strippe,

mit denen sich die Älteren unter uns herumplagten,

wenn sie in Ruhe ein privates Gespräch führen wollten,

ohne dass die ganze Familie mithören konnte.


Als das Telefon erfunden wurde, gab es nur einen Hörer und eine Sprechmuschel.

Wenn man den Hörer abnahm, bekam man das „Amt” - das Telegraphenamt.

In Schwerin befand es sich direkt gegenüber dem Dom; es wird gerade renoviert.

Am anderen Ende der Leitung, im „Amt”, saß eine Dame, das „Frollein vom Amt”,

der man seinen Gesprächspartner nennen musste.

Die sagte dann „Moment, ich verbinde”,

stöpselte Kabel auf einer großen Schalttafel um - und dann war man verbunden.


Ostfassade des ehemaligen Schweriner Telegrafenamtes mit allegorischer Darstellung der Telegrafie als nackter Goettin mit einem Telegrafenmast in der Hand

Was ein „Frollein vom Amt” tat, das tut auch ein Priester:

Er stellt die Verbindung her zwischen Mensch und Gott.

Uns ist diese Vorstellung fremd, weil wir - 

eben: wegen des Priestertums aller Getauften -

einen unmittelbaren Zugang zu Gott haben.

Wir brauchen keine Vermittlung und keinen Vermittler mehr.


Die ersten Christinnen und Christen brauchten das auch nicht.

Jesus hatte Gott als „Vater” angesprochen

und gesagt: so sollt auch ihr Gott anreden.

Mit seinem Vater kann man direkt sprechen, ohne Umwege und Vermittler.

Sogar zu den Zeiten, als man seine Eltern noch mit „Sie” 

und „Frau Mutter“ und „Herr Vater” anredete.


Aber als aus den Christinnen und Christen „das Christentum”

und aus den christlichen Gemeinden „die Kirche” wurde;

und als diese Kirche verstaatlicht und zur Staatskirche wurde,

da entstand parallel zum staatlichen auch ein kirchliches Beamtentum.


Wie man als einfache Bürgerin nicht einfach mit dem König reden konnte,

wenn man sich beschweren oder mal einen Schnack halten wollte,

sondern nur mit einem untergeordneten Beamten,

so gab es auch in der Kirchenbehörde Beamte, die Priester,

die zwischen einem weit, weit in den Himmel entrückten Gott

und den einfachen Gläubigen vermittelten.

Sie hatten den direkten Draht, den die Gläubigen nicht hatten.


Wer direkten Zugang zur Macht hat, verfügt selbst über Macht.

Die Kirche übte Macht über die Gläubigen aus,

indem sie sich zur Vermittlerin machte.

Sie bestimmte auch, was man zu glauben hatte

und was man auf gar keinen Fall denken und glauben durfte.


Es war die wohl größte und folgenschwerste Errungenschaft der Reformation,

dass sie die Gläubigen ermächtigte, selbst zu denken,

selbst zu beurteilen, was die Bibel über den Glauben sagt.

Wir können es heute, wo es Bibeln in Hülle und Fülle gibt,

nicht mehr ermessen, wie aufregend es für die Menschen zur Zeit Luthers war,

die Bibel in ihrer Muttersprache lesen

und miteinander darüber sprechen zu können, was es bedeutete, was sie da lasen.


Die Reformation ermächtigte die Gläubigen, indem sie ihnen die Bibel gab

und erklärte, dass alle Gläubigen Priesterinnen und Priester sind:

alle gleich unmittelbar zu Gott, alle gleichermaßen berufen,

alle gleich heilig, alle Kinder Gottes.

Schon 1520, drei Jahre nach seinem Thesenanschlag, 

ging Martin Luther in zwei wichtigen Schriften auf das Allgemeine Priestertum ein.


Allerdings wäre Luther nicht Luther,

wenn er dabei nicht eine Einschränkung machte:

„Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, 

dass es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei, 

obwohl es nicht jedem ziemt, dieses Amt auch auszuüben,”

heißt es in seiner „Adelsschrift”.


Um der Ordnung willen muss es dabei bleiben,

dass nicht jede und jeder Priester sein kann.

Bei Luther sind es wenigstens nicht die Kirche und der Bischof,

die einen Menschen zum Priester machen.

Vielmehr bestimmt die Gemeinde, wen sie für den Predigtdienst berufen will.


Wenn man vergisst - oder verschleiert -, 

dass das Amt nur um der Ordnung wíllen eingerichtet ist,

bekommt man auch in der Kirche der Reformation

eine Priesterschaft, die Macht über die Gläubigen ausübt,

indem sie ihnen sagt, was sie zu glauben haben und was nicht,

und indem sie so tut, als könne sie das Heil vermitteln.


Wir alle sind Priesterinnen und Priester.

Dazu brauchen wir keine Erlaubnis, keine kirchliche Genehmigung.

Die Taufe hat uns dazu gemacht,

viele von uns, als wir noch Kinder waren.


Die Taufe ermächtigt uns dazu,

mit Gott wie mit einem Freund zu sprechen.

Sie ermächtigt uns dazu, selbst zu entscheiden,

was wir glauben wollen und was nicht.


Allerdings gibt es auch im 1.Petrusbrief das berühmt-berüchtigte Kleingedruckte.

In der Lutherübersetzung ist es nicht klein, sondern fett gedruckt:

„Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, 

ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, 

dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, 

der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht.”


Das Priestertum ist kein Selbstzweck.

Wir alle sind Priesterinnen und Priester,

weil wir tun sollen, was ein Priester tut:

Wir sollen verkündigen.

Das bedeutet nicht, dass jede und jeder von uns auf eine Kanzel steigen muss,

oder wahlweise auf eine Bananenkiste.

Man verkündigt nicht nur mit Worten,

sondern auch und viel eindrücklicher mit der Tat.


In der Art, wie wir mit unseren Mitmenschen umgehen,

wie wir ihnen begegnen, wie hilfsbereit, verständnisvoll,

freundlich und tolerant wir sind,

verkündigen wir „die Wohltaten dessen, der uns berufen hat.”

An unserer Freundlichkeit können Menschen sehen, wie freundlich Gott ist.

An unserem Glauben können Menschen erfahren, dass es sich lohnt, zu glauben.

Durch unsere Liebe führen wir den Beweis, dass es Gott gibt.


Es gibt noch ein zweites Kleingedrucktes, das ich nicht verschweigen darf.

Wir Priesterinnen und Priester sind zur Fortbildung verpflichtet.

Der 1.Petrusbrief sagt das so:

„seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, 

auf dass ihr durch sie wachset zum Heil.”

Die „vernünftige, lautere Milch” - das ist die Bibel,

die der Petrusbrief so ausgiebig zitiert.

Der Glaube verändert sich. 

Er ist nicht derselbe, den wir als Kinder hatten oder als Jugendliche. 

Er wird angefochten, er ist manchmal unsicher, 

und manchmal kommt er einem abhanden.

Darum ist die Bibel das wichtigste Werkzeug jeder Priesterin, jedes Priesters.


Nur, wer sich mit Gottes Wort beschäftigt, kann im Glauben wachsen.

Die Taufe macht uns zu Priesterinnen und Priestern,

aber sie gibt uns nicht das Wissen, das man dafür braucht.

Das müssen wir uns erwerben. 

Und wir hören nie auf, von Gottes Wort zu lernen.


„Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, 

ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum.”

Die Taufe macht uns zu dem, was wir sind.

Kein Pastor, keine Pastorin,

keine kirchliche Urkunde oder Bescheinigung.


Wir gehören zur Gemeinde, weil wir getauft sind.

Nicht, weil jemand so nett war, uns einzuladen.

Wir haben ein Recht, hier zu sein.

Und wir haben eine Stimme - wie alle anderen auch.


Das ist für mich die wichtigste Folgerung

aus dem Priestertum aller Getauften.

Und ich hoffe und wünsche mir, dass Sie das auch so sehen und empfinden können.

Dass Sie, jede und jeder von Ihnen, sich angesprochen und gemeint fühlen,

wenn Petrus schreibt:

„Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, 

ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, 

dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, 

der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht.”