Predigt am Buss- und Bettag, 17.11.2010, über Römer 2,1-11:
Du bist ohne Entschuldigung, Mensch, jeder, der urteilt:
Worin du den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst;
denn du, der urteilt, tust dasselbe.
Wir wissen doch, dass Gottes Urteil über die, die Unrecht tun,
der Wahrheit entspricht.
Meinst du aber dies, Mensch, wenn du verurteilst, die Unrecht tun -
tust aber dasselbe -, dass du dem Gericht Gottes entgehen wirst?
Oder verachtest du die Fülle seiner Güte, Nachsicht und Langmut
in Unkenntnis dessen, dass Gottes Güte dich zur Buße treibt?
Wegen deines Starrsinns und deines unbußfertigen Herzens
häufst du dir doch Zorn an für den Tag des Zorns
und der Offenbarung von Gottes gerechtem Gericht,
der „jedem nach seinen Werken vergelten wird” (Sprüche 24,12);
denen, die in ausdauerndem Gutes Tun
Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit suchen, ewiges Leben;
den Streithähnen aber, die der Wahrheit nicht folgen,
folgen aber der Ungerechtigkeit, Wut und Zorn.
Drangsal und Not komme über jedermann, der Unrecht tut,
Juden zuerst und auch Griechen.
Jedoch Ruhm, Ehre und Friede jedem, der das Gute tut,
Juden zuerst und auch Griechen;
denn bei Gott gibt es keine Parteilichkeit.
Liebe Schwestern und Brüder,
entschuldigen Sie bitte.
Entschuldigen Sie bitte - wie oft sagt man das.
Im Theater z.B., wenn man zu spät kommt
'und alle anderen aufstehen müssen,
damit man zu seinem Platz gelangt.
Wenn man bei Tisch nach etwas greift
und dabei das Glas des Nachbarn umwirft.
Wenn man jemanden nach dem Weg fragt, oder nach der Uhrzeit.
Entschuldigen Sie bitte - wie oft sagt man das so dahin.
Es gehört zum guten Ton, sich zu entschuldigen,
wenn man anderen in irgendeiner Weise Umstände macht.
Meistens meint man es sogar, wenn man sagt:
"Entschuldigen Sie bitte": Es ist unangenehm,
wenn andere etwas für eine:n tun sollen.
Man bittet nur im äußersten Notfall darum.
"Ich will doch keine Umstände machen", hört man dann,
"ich möchte niemandem zur Last fallen".
Ja, wir sind höfliche, rücksichtsvolle Mitmenschen,
wenn es um die Etikette geht, um den höflichen Umgang,
das richtige Verhalten in der Öffentlichkeit.
"Du kannst dich nicht entschuldigen, Mensch, wer du auch bist."
Man kann sich nicht selbst entschuldigen.
Das müssen andere für eine:n tun.
Die, bei denen man in der Schuld steht.
Darum vermeiden es viele, andere um Hilfe zu bitten:
Man möchte niemandem etwas schuldig sein.
Es ist manchmal schwerer auszuhalten,
jemandem einen Gefallen schuldig zu sein,
als Schulden auf dem Konto zu haben.
Darum beißen sich manche lieber auf die Zunge,
als andere um Hilfe zu bitten.
Besonders unangenehm wird es,
wenn man jemand um Entschuldigung bitten muss.
Es geht noch, wenn man nur zu spät gekommen ist,
etwas vergessen oder irgendein Missgeschick begangen hat.
Schwerer wird es, wenn man etwas Schlimmes getan hat.
Etwas beschädigte oder zerstörte,
das einem Anderen lieb und teuer war.
Eine Beziehung beschädigte oder zerstörte,
indem man jemanden kränkte oder verletzte
durch böse Worte oder falsches Verhalten.
Und am allerschwersten fällt es, sich zu entschuldigen,
wenn man sich gar keiner Schuld bewusst ist,
weil man meint, die, der andere hätte das viel nötiger.
Ja, erst müsse er, müsse sie sich entschuldigen,
dann könne man vielleicht auch etwas eingestehen.
Viele Beziehungen stecken in so einer Schuldenfalle,
viele Partnerschaften, Nachbarschaften und Freundschaften.
Beide sind verletzt, beide haben Fehler gemacht,
aber keiner von beiden kann und will den ersten Schritt tun:
Einen Fehler, eine Schuld eingestehen
und um Entschuldigung bitten.
Woran liegt es, dass es oft so schwer fällt, um Entschuldigung zu bitten?
"Du kannst dich nicht entschuldigen, Mensch, wer du auch bist",
schreibt Paulus am Beginn seines Briefes an die Römer.
Warum kann man sich nicht entschuldigen?
Offenbar möchte man das gern, sich ent-schuldigen.
Oder, besser gesagt: Man möchte nicht "schuld" sein.
Kaum eine:r gibt freiwillig einen Fehler zu;
wer nicht auf frischer Tat ertappt wird,
gesteht nicht von sich aus ein, einen Fehler gemacht zu haben.
Wie peinlich ist es, schuld an etwas zu sein!
Da ist die Angst vor Strafe, vor der Demütigung,
vor einer Gardinenpredigt, die man zu hören bekommt.
Man fürchtet die Konsequenzen seiner Tat,
die Traurigkeit, die Wut oder die Enttäuschung des Geschädigten,
den Bruch der Freundschaft, das Ende der Beziehung.
Man möchte nicht schuld sein.
Vor allem deshalb nicht, weil das nicht zu unserem Selbstbild passt.
Wir wissen zwar, dass wir nicht perfekt sind, dass wir Fehler machen.
Aber es zu wissen - und es sich selbst und anderen einzugestehen,
sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe.
Lieber beobachtet man, was anderen so Dummes passiert,
achtet darauf, was andere falsch machen.
Man "urteilt", wie Paulus schreibt.
Man urteilt über andere und beurteilen sie:
Die ist gut, der ist schlecht,
die ist schön, die ist hässlich,
der ist sportlich, der ist dick.
Und man tauscht sich darüber aus.
Fragt andere nach ihrer Meinung,
vergewissert sich, dass man zum gleichen Urteil kommt,
kurz: man tratscht und redet hinter dem Rücken der Leute, um die es geht.
Das ist überhaupt das allergrößte: Das Reden über andere.
Eine ganze Industrie lebt von Klatsch und Tratsch:
Fernsehzeitungen und bunte Blätter,
die "Sozialen Medien" im Internet
und die Boulevardmagazine im Fernsehen
verbreiten sich darüber, wer was mit wem hat,
wer sich von wem getrennt hat und wer wo was getan oder nicht getan hat.
Leute nehmen es begierig auf, als wären das wichtige Neuigkeiten!
Man redet so gern über andere.
Und am schönsten ist es, am interessantesten wird es,
wenn die sich etwas zuschulden kommen ließen;
wenn es herauskommt, dass sie Dreck am Stecken haben.
Dann freut man sich, statt sie deswegen zu bedauern.
Freut sich, dass die Schönen, Mächtigen und Reichen,
die Großkopferten und Gutbetuchten auch nur Menschen sind
- als ob man das nicht vorher gewusst hätte!
Das ist vielleicht der Sinn der ganzen Tratscherei,
der Neugier auf die Fehler der anderen,
des "Richtens", wie Paulus schreibt:
Dass man befriedigt feststellen kann:
Die anderen sind ja gar nicht besser als ich, die machen ja auch Fehler.
Die sind ja auch nur Menschen ...
Wer glücklich ist oder frisch verliebt, wer einen großen Erfolg feiert
oder die Geburt des Enkelkindes - den interessiert es überhaupt nicht,
was Heidi Klum oder Sarah Wagenknecht,
Friedrich März oder Boris Becker denken und tun.
Der, dem ist das herzlich egal.
Aber im Trott des Alltags kann man nicht genug davon bekommen
und tratscht fleißig mit.
Man braucht das Gerede, das Getratsche,
das Vergleichen und Kritisieren, um sich besser zu fühlen,
wie der Pharisäer im Gleichnis, das Jesus erzählt:
„Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie dieser Sünder …”
Man braucht das Gerede und Getratsche,
um sich gegenseitig zu vergewissern:
Wir tun, wir denken und sagen das Richtige -
wir sind richtig, die anderen sind falsch.
Reden über andere, Tratschen hilft auch,
wenn man nicht alles richtig gemacht hat.
Denn dann gilt: Wenn alle anderen Schweinehunde sind,
dann ist es nicht so schlimm, wenn ich auch einer bin.
Man sucht nach den Fehlern der anderen,
um die eigenen Fehler und Schwächen nicht sehen zu müssen.
Man erträgt es nicht, ein Mensch zu sein mit Fehlern und Schwächen.
Man zerrt die Intimitäten anderer ans Tageslicht,
damit niemand auf die Idee kommt,
dass es auch im eigenen Leben dunkle Flecken gibt:
verpasste Gelegenheiten und Geheimnisse, die man besser verschweigt.
Man braucht das Vergleichen und Kritisieren vielleicht auch,
weil man so schnell vergisst, wie glücklich man war.
Weil man den verpassten Gelegenheiten, den vertanen Chancen nachtrauert.
Weil man sich schämt für das, was man ist.
Wir brauchen das Vergleichen und Kritisieren ...
- dabei brauchen wir uns gar nicht mit anderen zu vergleichen,
haben es gar nicht nötig, andere zu kritisieren.
Wir brauchen es nicht, weil wir Menschen sind und sein dürfen.
Und Menschen sind nun einmal nicht perfekt -
nicht einmal die, von denen wir das gern glauben würden.
Nicht einmal wir …
Menschen machen Fehler. Fehler gehören zu unserem Menschsein.
Fehler machen uns erst zu Menschen.
Was zählt, sind nicht die Fehler, ist nicht das, was wir getan haben.
Was zählt ist, was wir jetzt tun.
„Drangsal und Not komme über jedermann, der Unrecht tut.
Jedoch Ruhm, Ehre und Friede jedem, der das Gute tut."
Gott interessiert sich nicht dafür, was wir einmal getan haben;
deckt nicht auf, was uns peinlich ist, was wir verschweigen möchten.
Gott zählt die Haare auf dem Kopf, nicht die in der Suppe.
Gott interessiert sich für uns, weil er uns liebt und glücklich sehen will.
Gott interessiert, was wir jetzt tun - und was wir tun werden.
Ob wir den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut verachten,
indem wir den Fehlern anderer hinterherhecheln.
Oder ob wir seine Güte annehmen als ein Geschenk, das Gott uns macht.
Ein Geschenk, das alle Fehler auslöscht wie ein Radiergummi
und uns jeden Tag neu als unbeschriebenes, weißes Blatt schenkt.
Und Gott interessiert, ob wir das anderen auch zugestehen können:
Das Recht, eine andere, ein anderer zu werden.
Und sie nicht festlegen auf die Person, die sie gestern waren,
auf das, was sie gestern taten.
Denn Gottes Güte, Geduld und Langmut
gilt für sie genauso wie für mich.