Mittwoch, 19. November 2025

Entschuldigung

Predigt am Buss- und Bettag, 17.11.2010, über Römer 2,1-11:

Du bist ohne Entschuldigung, Mensch, jeder, der urteilt:
Worin du den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst;
denn du, der urteilt, tust dasselbe.
Wir wissen doch, dass Gottes Urteil über die, die Unrecht tun,
der Wahrheit entspricht.
Meinst du aber dies, Mensch, wenn du verurteilst, die Unrecht tun -
tust aber dasselbe -, dass du dem Gericht Gottes entgehen wirst?
Oder verachtest du die Fülle seiner Güte, Nachsicht und Langmut
in Unkenntnis dessen, dass Gottes Güte dich zur Buße treibt?
Wegen deines Starrsinns und deines unbußfertigen Herzens
häufst du dir doch Zorn an für den Tag des Zorns
und der Offenbarung von Gottes gerechtem Gericht,
der „jedem nach seinen Werken vergelten wird” (Sprüche 24,12);
denen, die in ausdauerndem Gutes Tun
Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit suchen, ewiges Leben;
den Streithähnen aber, die der Wahrheit nicht folgen,
folgen aber der Ungerechtigkeit, Wut und Zorn.
Drangsal und Not komme über jedermann, der Unrecht tut,
Juden zuerst und auch Griechen.
Jedoch Ruhm, Ehre und Friede jedem, der das Gute tut,
Juden zuerst und auch Griechen;
denn bei Gott gibt es keine Parteilichkeit.

Liebe Schwestern und Brüder,

entschuldigen Sie bitte.

Entschuldigen Sie bitte - wie oft sagt man das.
Im Theater z.B., wenn man zu spät kommt
'und alle anderen aufstehen müssen,
damit man zu seinem Platz gelangt.
Wenn man bei Tisch nach etwas greift
und dabei das Glas des Nachbarn umwirft.
Wenn man jemanden nach dem Weg fragt, oder nach der Uhrzeit.

Entschuldigen Sie bitte - wie oft sagt man das so dahin.
Es gehört zum guten Ton, sich zu entschuldigen,
wenn man anderen in irgendeiner Weise Umstände macht.
Meistens meint man es sogar, wenn man sagt:
"Entschuldigen Sie bitte": Es ist unangenehm,
wenn andere etwas für eine:n tun sollen.
Man bittet nur im äußersten Notfall darum.
"Ich will doch keine Umstände machen", hört man dann,
"ich möchte niemandem zur Last fallen".
Ja, wir sind höfliche, rücksichtsvolle Mitmenschen,
wenn es um die Etikette geht, um den höflichen Umgang,
das richtige Verhalten in der Öffentlichkeit.

"Du kannst dich nicht entschuldigen, Mensch, wer du auch bist."
Man kann sich nicht selbst entschuldigen.
Das müssen andere für eine:n tun.
Die, bei denen man in der Schuld steht.
Darum vermeiden es viele, andere um Hilfe zu bitten:
Man möchte niemandem etwas schuldig sein.
Es ist manchmal schwerer auszuhalten,
jemandem einen Gefallen schuldig zu sein,
als Schulden auf dem Konto zu haben.
Darum beißen sich manche lieber auf die Zunge,
als andere um Hilfe zu bitten.

Besonders unangenehm wird es,
wenn man jemand um Entschuldigung bitten muss.
Es geht noch, wenn man nur zu spät gekommen ist,
etwas vergessen oder irgendein Missgeschick begangen hat.
Schwerer wird es, wenn man etwas Schlimmes getan hat.
Etwas beschädigte oder zerstörte,
das einem Anderen lieb und teuer war.
Eine Beziehung beschädigte oder zerstörte,
indem man jemanden kränkte oder verletzte
durch böse Worte oder falsches Verhalten.

Und am allerschwersten fällt es, sich zu entschuldigen,
wenn man sich gar keiner Schuld bewusst ist,
weil man meint, die, der andere hätte das viel nötiger.
Ja, erst müsse er, müsse sie sich entschuldigen,
dann könne man vielleicht auch etwas eingestehen.
Viele Beziehungen stecken in so einer Schuldenfalle,
viele Partnerschaften, Nachbarschaften und Freundschaften.
Beide sind verletzt, beide haben Fehler gemacht,
aber keiner von beiden kann und will den ersten Schritt tun:
Einen Fehler, eine Schuld eingestehen
und um Entschuldigung bitten.

Woran liegt es, dass es oft so schwer fällt, um Entschuldigung zu bitten?
"Du kannst dich nicht entschuldigen, Mensch, wer du auch bist",
schreibt Paulus am Beginn seines Briefes an die Römer.
Warum kann man sich nicht entschuldigen?
Offenbar möchte man das gern, sich ent-schuldigen.
Oder, besser gesagt: Man möchte nicht "schuld" sein.
Kaum eine:r gibt freiwillig einen Fehler zu;
wer nicht auf frischer Tat ertappt wird,
gesteht nicht von sich aus ein, einen Fehler gemacht zu haben.

Wie peinlich ist es, schuld an etwas zu sein!
Da ist die Angst vor Strafe, vor der Demütigung,
vor einer Gardinenpredigt, die man zu hören bekommt.
Man fürchtet die Konsequenzen seiner Tat,
die Traurigkeit, die Wut oder die Enttäuschung des Geschädigten,
den Bruch der Freundschaft, das Ende der Beziehung.

Man möchte nicht schuld sein.
Vor allem deshalb nicht, weil das nicht zu unserem Selbstbild passt.
Wir wissen zwar, dass wir nicht perfekt sind, dass wir Fehler machen.
Aber es zu wissen - und es sich selbst und anderen einzugestehen,
sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe.

Lieber beobachtet man, was anderen so Dummes passiert,
achtet darauf, was andere falsch machen.
Man "urteilt", wie Paulus schreibt.
Man urteilt über andere und beurteilen sie:
Die ist gut, der ist schlecht,
die ist schön, die ist hässlich,
der ist sportlich, der ist dick.

Und man tauscht sich darüber aus.
Fragt andere nach ihrer Meinung,
vergewissert sich, dass man zum gleichen Urteil kommt,
kurz: man tratscht und redet hinter dem Rücken der Leute, um die es geht.

Das ist überhaupt das allergrößte: Das Reden über andere.
Eine ganze Industrie lebt von Klatsch und Tratsch:
Fernsehzeitungen und bunte Blätter,
die "Sozialen Medien" im Internet
und die Boulevardmagazine im Fernsehen
verbreiten sich darüber, wer was mit wem hat,
wer sich von wem getrennt hat und wer wo was getan oder nicht getan hat.
Leute nehmen es begierig auf, als wären das wichtige Neuigkeiten!

Man redet so gern über andere.
Und am schönsten ist es, am interessantesten wird es,
wenn die sich etwas zuschulden kommen ließen;
wenn es herauskommt, dass sie Dreck am Stecken haben.
Dann freut man sich, statt sie deswegen zu bedauern.
Freut sich, dass die Schönen, Mächtigen und Reichen,
die Großkopferten und Gutbetuchten auch nur Menschen sind
- als ob man das nicht vorher gewusst hätte!

Das ist vielleicht der Sinn der ganzen Tratscherei,
der Neugier auf die Fehler der anderen,
des "Richtens", wie Paulus schreibt:
Dass man befriedigt feststellen kann:
Die anderen sind ja gar nicht besser als ich, die machen ja auch Fehler.
Die sind ja auch nur Menschen ...

Wer glücklich ist oder frisch verliebt, wer einen großen Erfolg feiert
oder die Geburt des Enkelkindes - den interessiert es überhaupt nicht,
was Heidi Klum oder Sarah Wagenknecht,
Friedrich März oder Boris Becker denken und tun.
Der, dem ist das herzlich egal.

Aber im Trott des Alltags kann man nicht genug davon bekommen
und tratscht fleißig mit.

Man braucht das Gerede, das Getratsche,
das Vergleichen und Kritisieren, um sich besser zu fühlen,
wie der Pharisäer im Gleichnis, das Jesus erzählt:
„Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie dieser Sünder …”
Man braucht das Gerede und Getratsche,
um sich gegenseitig zu vergewissern:
Wir tun, wir denken und sagen das Richtige -
wir sind richtig, die anderen sind falsch.

Reden über andere, Tratschen hilft auch,
wenn man nicht alles richtig gemacht hat.
Denn dann gilt: Wenn alle anderen Schweinehunde sind,
dann ist es nicht so schlimm, wenn ich auch einer bin.

Man sucht nach den Fehlern der anderen,
um die eigenen Fehler und Schwächen nicht sehen zu müssen.
Man erträgt es nicht, ein Mensch zu sein mit Fehlern und Schwächen.
Man zerrt die Intimitäten anderer ans Tageslicht,
damit niemand auf die Idee kommt,
dass es auch im eigenen Leben dunkle Flecken gibt:
verpasste Gelegenheiten und Geheimnisse, die man besser verschweigt.

Man braucht das Vergleichen und Kritisieren vielleicht auch,
weil man so schnell vergisst, wie glücklich man war.
Weil man den verpassten Gelegenheiten, den vertanen Chancen nachtrauert.
Weil man sich schämt für das, was man ist.

Wir brauchen das Vergleichen und Kritisieren ...
- dabei brauchen wir uns gar nicht mit anderen zu vergleichen,
haben es gar nicht nötig, andere zu kritisieren.
Wir brauchen es nicht, weil wir Menschen sind und sein dürfen.
Und Menschen sind nun einmal nicht perfekt -
nicht einmal die, von denen wir das gern glauben würden.
Nicht einmal wir …

Menschen machen Fehler. Fehler gehören zu unserem Menschsein.
Fehler machen uns erst zu Menschen.
Was zählt, sind nicht die Fehler, ist nicht das, was wir getan haben.

Was zählt ist, was wir jetzt tun.
„Drangsal und Not komme über jedermann, der Unrecht tut.
Jedoch Ruhm, Ehre und Friede jedem, der das Gute tut."

Gott interessiert sich nicht dafür, was wir einmal getan haben;
deckt nicht auf, was uns peinlich ist, was wir verschweigen möchten.
Gott zählt die Haare auf dem Kopf, nicht die in der Suppe.
Gott interessiert sich für uns, weil er uns liebt und glücklich sehen will.
Gott interessiert, was wir jetzt tun - und was wir tun werden.
Ob wir den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut verachten,
indem wir den Fehlern anderer hinterherhecheln.
Oder ob wir seine Güte annehmen als ein Geschenk, das Gott uns macht.
Ein Geschenk, das alle Fehler auslöscht wie ein Radiergummi
und uns jeden Tag neu als unbeschriebenes, weißes Blatt schenkt.

Und Gott interessiert, ob wir das anderen auch zugestehen können:
Das Recht, eine andere, ein anderer zu werden.
Und sie nicht festlegen auf die Person, die sie gestern waren,
auf das, was sie gestern taten.
Denn Gottes Güte, Geduld und Langmut
gilt für sie genauso wie für mich.

Sonntag, 2. November 2025

einen Bogen schlagen

 Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 2. November 2025, über 1.Mose 8,18-22; 9,12-17

Liebe Schwestern und Brüder,

 

heute schlagen wir einen Bogen - und das in mehrfacher Hinsicht:


1. Der Predigttext erzählt vom Regenbogen als Zeichen des Bundes,

den Gott mit Noah schließt. Noah wird nach der Sintflut, die alles Leben

bis auf die wenigen Seelen auf der Arche auslöschte, zum neuen Stammvater der Menschheit. 

Das Bündnis mit Noah ist kein Vertrag zum Vorteil eines Einzelnen; es ist Gottes Bund mit der gesamten Menschheit. Dieses globale Bündnis wird zur Blaupause und zur Grundlage der partikularen Bündnisse, die Gott mit einem Einzelnen, Abraham, oder einer Familie, der von Jakob, schließt. Durch den Noahbund werden auch die anderen Bundesschlüsse Gottes für uns durchlässig, dürfen wir uns eingeladen und mitgemeint fühlen.

Gerade heute werden Bündnisse wieder enorm wichtig. Staaten verbünden sich, um ihre Interessen, ihre Werte,

ihre Lebensweise und ihre Regierungsform gegen andere Staaten zu verteidigen. Auch Verteidigung - so notwendig, so legitim sie ist -

bedeutet, in einen Krieg verwickelt zu werden. Krieg entfesselt Gewalt, die Leben auslöscht, wie es die Sintflut tat. Einzelne Menschen und ganze Staaten sind dazu bereit, Gewalt anzuwenden, Natur und Städte zu zerstören, Menschen zu töten, damit sie so weitermachen können wie bisher, damit alles so bleibt, wie es war. 

Gottes Bündnis mit Noah ist keines, das den Tod in Kauf nimmt

oder billigend mit einschließt. Es ist ein Bündnis des Lebens:

„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht.”

Das klingt nach einer Garantie, dass alles so bleibt, wie es ist;

der Fortbestand dessen, was wir seit jeher gewohnt sind.

Aber auch wenn es so klingt:

Der Kreislauf der Natur von Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht dreht sich nicht auf der Stelle.

Die Natur entwickelt sich weiter - „Evolution” hat Charles Darwin das genannt.

Darwin wurde - und wird bis heute - bekämpft von denen,

die an eine unerschütterliche Ordnung der Schöpfung glauben wollen.

Die glauben wollen, dass Gott will, dass alles so bleibt, wie es ist. 

Auch Gott steht nicht auf der Stelle.

Gott ändert seine Meinung über den Menschen.

Gott lässt sich nicht festlegen, und Gott legt den Menschen nicht fest:

Er legt ihn nicht fest auf das Böse, zu dem jeder Mensch fähig ist.

Er glaubt an die Fähigkeit des Menschen zur Veränderung - „Umkehr” nennt das die Bibel.

Darum gibt er der Menschheit eine neue Chance.

Und nicht nur eine. Der Bogen Gottes in den Wolken ist das Zeichen:

Wie die Natur in Zyklen voranschreitet und auf jede Ernte eine neue Aussaat folgt,

so können auch wir immer wieder neu beginnen in Versuch und Irrtum,

ohne dass Gott noch einmal die Geduld mit uns verliert. 

Die Menschen früherer Zeiten sahen in dem Bogen die Waffe,

die damals neben dem Speer die einzige Fernkampfwaffe war.

Sie sahen im Regenbogen eine Waffe,

wie die ersten Christen das Kreuz nicht als Deko-Element wahrnahmen,

sondern als das Folterinstrument, das es damals war.

Wenn Gott seinen Bogen in die Wolken setzt,

dann hängt er ihn damit sozusagen an den Nagel.

Gott verzichtet darauf, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen.

Statt dessen setzt er auf die Liebe.

Die Liebe, die er für die Menschen empfindet, berührt und bewegt sie, so hofft er,

dass sie sich selbst, ihre Mitmenschen und Gott zu lieben beginnen.

Diese Liebe hört niemals auf.

Sie ist eine Naturgewalt, die den Menschen zu den radikalsten Veränderungen fähig macht:

Dazu, über den eigenen Schatten zu springen,

Verantwortung zu übernehmen, Schuld einzugestehen

und von einem falschen Weg umzukehren. 


2. Vom Predigttext schlagen wir einen Bogen in den Dom,

zu den Lichtbögen Günter Ueckers.

Gestern Abend konnten wir hören, wie Christian Domke sie sieht.

Ich möchte heute, ausgehend vom Predigttext, einen weiteren Blickwinkel beisteuern:

Als der Bogen als Kriegswaffe noch allgegenwärtig war,

sah man im Regenbogen eine Waffe.

Er war nicht nur schön, faszinierend, zauberhaft. Er war auch bedrohlich.

Er erinnerte an Gewalt und Zerstörung,

die Gott mit der Sintflut über die Erde gebracht hatte.

Und er erinnerte Gott daran, dass er Noah geschworen hatte, auf Gewalt zu verzichten

und sich selbst in seiner Allmacht zu beschneiden,

damit Leben auf der Erde möglich sein und fortbestehen konnte.

Günter Uecker sprach vom Lichtbogen in seinen Fenstern als einer „Narbe”,

über die man hinaus in das Licht gelangt.

Der Regenbogen am Himmel ist sozusagen die Narbe,

die der Welt von der Sintflut geblieben ist.

Sie ruft uns dazu auf, über Gewalt und Zerstörung hinauszugehen,

uns zu entwickeln zu einer Spezies, die nicht einander bekämpft,

sondern friedlich und einträchtig diesen Planeten bevölkert.

Ueckers Lichtbogen mag uns auch an unsere persönlichen Narben erinnern:

Die körperlichen, und die Narben der Seele.

Man denkt nicht gern an solche Narben.

Was uns die Narbe beibrachte, hat weh getan, war schrecklich, war unerträglich.

Man wünschte, man könnte es vergessen.

Groß ist die Angst, dass besonders eine Seelen-Narbe wieder aufbrechen könnte. 

Gottes Liebe trägt uns über solche Erinnerungen hinaus.

Sie verwandelt die Erinnerung.

Dadurch sind wir in der Lage, die Veränderung anzunehmen,

deren Zeichen diese Narbe ist.

Veränderungen bringen nicht automatisch Gutes.

Manche würden sagen: Sie bringen selten etwas Gutes.

Veränderungen sind oft anstrengend, unerfreulich, unbequem.

Oft geht dabei etwas verloren, das man sehr vermisst;

etwas, von dem man glaubte, ohne es nicht leben zu können.

Aber weil wir von Gottes Liebe umfangen sind,

muss jede Veränderung uns unweigerlich zum Guten dienen

und uns neue Räume eröffnen, auch wenn uns jetzt alle Türen verschlossen scheinen.


3. Und so schlagen wir einen dritten Bogen,

gehen noch einen Schritt weiter zu dem neuen Kapitel,

das mit Domkantor Christian Domke heute in der Musik am Dom aufgeschlagen wird.

Auch hier war ein erster Impuls die Abwehr jeglicher Veränderung;

der Wunsch, alles möge so bleiben, wie es war.

Auch hier sehen und spüren wir zunächst die Narbe,

die der Weggang von Jan Ernst hinterlässt.

Aber auch hier gilt das Versprechen, das Gott Noah gibt:

Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören.

Jan Ernst hat gesät, und Christian Domke wird die Saat begießen,

wird ernten und wiederum Neues säen,

wie Jan Ernst die Früchte der Arbeit von Winfried Petersen begossen, geerntet

und seinerseits Neues gesät hat.

Zugleich arbeitet jeder ein wenig anders im schönen Garten der Gemeinde,

setzt andere Pflänzchen, gestaltet die Beete anders als sein Vorgänger,

hat die Blumen lieber als Obst und Gemüse - oder umgekehrt.

Und natürlich entwickelt sich die Kirchenmusik weiter,

sind die Sängerinnen und Sänger andere als vor 30 Jahren.

Was von Winfried Petersen über Jan Ernst zu Christian Domke weitergeht,

ist die Verheißung, dass Christus seine Kirche durch die Zeit begleitet.

Seine Einladung ergeht weiter, dass wir alle Steine sein dürfen und sein sollen

im Bauwerk der Gemeinde, dessen Eckstein Jesus Christus ist -

ob als Sängerinnen und Sänger in den Kantoreien,

als Kirchenälteste, als Kirchenführer, bei der Domaufsicht,

als Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendarbeit, beim Kindergottesdienst,

der Frauengruppe oder den vielen anderen Orten.

Oder, wie Paulus im 1.Korintherbrief schreibt:

„Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen; aber Gott hat das Gedeihen gegeben.

So ist nun weder der etwas, der pflanzt, noch der begießt,

sondern Gott, der das Gedeihen gibt.

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau.

Nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist,

habe ich den Grund gelegt als ein weiser Baumeister;

ein anderer baut darauf.

Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist,

welcher ist Jesus Christus.”

Sonntag, 26. Oktober 2025

ein neues Lied

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2025,
im Kantatengottesdienst “Singet dem Herrn ein neues Lied”, BWV 190
zur Verabschiedung von Jan Ernst als Domkantor

 

Liebe Schwestern und Brüder,


„singet dem Herrn ein neues Lied”,

so der Titel der Kantate, die wir gerade hörten,

und so sang und wiederholte es der Chor viele Male: 

„Singet dem Herrn ein neues Lied”


Doch ein neues Lied kann man die Kantate beim besten Willen nicht nennen.

Bereits am 1. Januar 1724 erklang sie erstmals im Gottesdienst.

Mit 300 Jahren auf dem Buckel ist Bachs Musik alles andere als neu.

„Klassische Musik” sagt man dazu;

manch eine:r hört diesen Begriff als Euphemismus für „antiquiert”.


Die Kantate befindet sich für uns also in einer Spannung,

einer Spannung zwischen Alt und Neu:

das „neue Lied”, das sie im Titel trägt, trägt sie in einer Weise vor,

die nicht dem entspricht, was wir heute unter „neuer Musik” verstehen.

Deshalb klingt sie für uns „alt” - selbst für diejenigen unter uns,

die Fans „klassischer” Musik sind.


Die Spannung zwischen Alt und Neu 

findet sich auch in dem Anlass wieder,

zu dem Bach die Kantate komponiert hat: Dem Neujahrstag.

Er hat etwas Janusköpfiges:

Er blickt auf das alte Jahr zurück und feiert den Beginn des Neuen.


Alt und Neu tauchen in der Kantate an vielen Stellen auf:

Im 2. Satz, wo der Bass das neue Jahr besingt,

der Tenor auf das vergangene zurückblickt

und der Alt Gottes Vatertreue lobt,

die mit dem Alten Jahr nicht ans Ende gekommen ist,

sondern jeden Morgen neu wird, ein Leben lang.


Im 5. Satz singen Tenor und Bass von Jesus, der Anfang ist und Ende,

wie er es von sich selbst sagt: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.”

Jesus ist das auch für mich: „Jesus soll mein Anfang bleiben,”


Weil Jesus mein Anfang ist,

muss ich die Bedingungen für einen Neuanfang nicht selbst schaffen

und muss auch nicht warten, bis z.B. der Ruhestand eintritt.

Ich kann jederzeit von vorn anfangen.

Jeden Tag, jeden Moment kann etwas neu und anders werden.


Und weil Jesus mein Ende ist, 

brauche ich das Ende nicht zu fürchten,

muss vor dem Tod keine Angst haben,

denn „Jesus macht mein Ende gut.”


Die Spannung zwischen Alt und Neu,

Anfang und Ende prägt auch unseren Gottesdienst.

Wir verabschieden heute unseren Kantor Jan Ernst.

Für ihn beginnt in wenigen Tagen ein neuer Lebensabschnitt,

auf den er sich freut, während uns große Dankbarkeit erfüllt

und uns deshalb eher zum Heulen zumute ist.


Und gleichzeitig ist dieser Gottesdienst heute für Dich, Jan,

der Abschied von einem Amt, das Du 32 Jahre mit Liebe zur Musik, 

zu den Menschen dieser Gemeinde und zum Dom ausgefüllt hast.

Wir werden immer deine Gemeinde, und dies wird immer dein Dom bleiben.

Aber nun nicht mehr als Domkantor, sondern als einfaches Gemeindeglied,

während wir am kommenden Sonntag den neuen Domkantor Christian Domke

hier in einem Gottesdienst begrüßen.


Eine solche Spannung wie die zwischen Abschied und Neubeginn,

Trauer und Freude, Anfang und Ende nennt man „Ambivalenz”.


Ambivalenzen lassen sich schwer aushalten.

Man möchte sie nach einer Seite hin auflösen.

Möchte diese Spannung nicht mehr empfinden.

Aber man kann sie nicht auflösen, und man soll es auch nicht.

Sie machen den Reiz unseres Lebens aus,

sie sind ein Zeichen von Lebendigkeit.


Ambivalenzen finden sich auch in Bachs Musik:

Im festlichen Eingangssatz mit Pauken und Trompeten

singt der Chor plötzlich unisono: „Herr Gott, dich loben wir!”

Man erschauert bei diesem Umschlag der Musik. 

Ein heiliger Schauer, der uns da ergreift.


Er weist auf den hin,

um dessentwillen Bach diese Kantate geschrieben hat;

den Du, Jan, mit deiner Musik zu Wort kommen lassen wolltest

und in dessen Namen wir heute hier versammelt sind:

Den dreieinigen Gott.

Alt und Bass stellen ihn uns im 3. und 4. Satz

als Vater, Sohn und Heiliger Geist vor.


Ihm ist alle Musik, ihm ist das neue Lied gewidmet.

Denn das vergisst man leicht:

1724 war Bachs Kantate topaktuell.

Das Allerneueste, was man damals in Leipzig an Musik erleben konnte.

Aber warum tun wir das, Gott loben?

Braucht Gott etwa Unterhaltung?

Ist es ihm im Himmel zu langweilig,

oder ist ihm das ewige „Halleluja” der Engel zu eintönig?


Wenn man sich Gott als alten Herrn mit Bart vorstellt,

mag man auf solche Gedanken kommen.

Aber das Lob Gottes besteht nicht darin,

dass wir ihm schmeicheln oder ihm schöne Lieder vorsingen.


Gott wird dadurch gelobt,

dass wir uns eingestehen, anerkennen und öffentlich bekennen,

dass wir ohne Gott nicht leben wollen und nicht leben können:


Gott steht am Anfang unseres Lebens; 

ihm verdanken wir es.

Er ist die Mitte, um die unser Leben kreist, 

die unser Leben hält und erhält. 

Und er steht an seinem Ende

das bei Gott ein neuer Anfang sein wird.


So singen es Bass und Tenor in ihrer Arie:

„Jesus soll mein Alles sein.”

So bekennt es der Bass in seinem Rezitativ:

Jesus ist „meiner Seelen bestes Teil”,

Grund meiner Freude, meines Trostes und meines Heils.

So klingt es auch im neuen Lied,

wie dem Gospel „Jesus is my salvation”:


< Flashmob Jugendkantorei >


Da bekommt man eine Gänsehaut.

Das macht die Musik mit einem:

Sie ergreift, rührt zu Tränen, erschüttert,

macht fröhlich und überschwänglich.


Was wir mit Worten nur mühsam zum Ausdruck bringen:

„Dass Jesus meine Freude,

mein treuer Hirt, mein Trost und Heil

und meiner Seelen bestes Teil” sei,

vermittelt die Musik scheinbar mühelos.


Dennoch braucht die Musik auch Worte.

Sonst wüssten wir mit den Gefühlen,

die sie in uns erregt, nichts anzufangen.

Sie füllt die Worte mit Leben.

Wir müssen nicht darüber nachdenken, was sie bedeuten.

Wir fühlen unmittelbar, was gemeint ist.

Die Musik hilft uns, die Ambivalenzen auszuhalten.

Sie spielt mit ihnen und macht sie für uns fruchtbar.

Wir müssen sie nicht auflösen,

wir können sie nebeneinander stehen lassen,

die Trauer und die Freude,

den Abschied und den Neuanfang,

den Anfang und das Ende.

Sie schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander.

Wir begreifen, dass das Ende auch ein Anfang ist,

und dass unser Leben davon geprägt ist:

„Deine Vatertreu hat noch kein Ende,

sie wird bei uns noch alle Morgen neu.

Drum sagen wir lebenslang

mit Mund und Herzen Lob und Dank.”


Das Lob Gottes lässt uns die Ambivalenzen des Lebens,

lässt uns das Leben selbst aushalten und genießen.

Dieses Lob geschieht immer wieder neu,

auch wenn wir es mit den alten Worten

und den alten Melodien einer Kantate Johann Sebastian Bachs singen.


Durch uns wird daraus ein neues Lied.

Denn so, wie wir es singen, erklang es noch nie;

so können nur wir es singen und mit Leben füllen.


Lieber Jan, du hast eine ganze Generation gelehrt,

Gottes Lob zu singen und zu musizieren. 

Du hast die Worte der Choräle, Messen, Oratorien, 

Motetten, Passionen und Kantaten mit Leben gefüllt 

und dich von ihnen tragen lassen.

So hast du uns vorgelebt, dass wir ihren Worten trauen können 

und dass die Musik uns dabei hilft, das Leben zu bestehen.


Wir singen weiter neue Lieder mit alten und neuen Melodien.

Wir tragen das Lob Gottes in die nächste Generation 

und hoffen, dass du hin und wieder 

und noch viele Jahre mit uns singst.