Sonntag, 7. Dezember 2025

Apokalypse

Predigt am 2.Advent, 7.12.2025, über Lukas 21,25-33:

Christus sprach:

Es wird Zeichen geben an Sonne, Mond und Sternen.

Auf der Erde wird Angst die Völker beherrschen;

das Brausen des Meeres und der Brandung wird sie irre machen.

Die Menschen werden die Besinnung verlieren vor Furcht

und in banger Erwartung dessen, was über den Erdkreis kommt,

denn die Mächte des Himmels werden erschüttert werden.

Dann werdet ihr den Menschensohn kommen sehen

in einer Wolke mit Macht und großem Glanz.

Beginnt das zu geschehen,

dann richtet euch auf und erhebt eure Häupter,

weil eure Erlösung nah ist.


Und er erzählte ihnen ein Gleichnis:

Seht euch den Feigenbaum an und alle Bäume.

Wenn ihr seht, dass sie endlich austreiben,

wisst ihr selbst, dass der Sommer endlich nah ist.

So wisst ihr auch, wenn ihr das geschehen seht,

dass das Reich Gottes nah ist.

Amen, ich sage euch:

Dieses Geschlecht wird nicht vergehen,

bis das alles geschieht.

Himmel und Erde werden vergehen,

aber meine Worte werden nicht vergehen.



Liebe Schwestern und Brüder,


was wohl die Zukunft bringen wird?

Zu gern würde man das wissen,

besonders in unsicheren Zeiten.

Die Zweige, die am Barbaratag, dem 4.Dezember, geschnitten werden,

damit sie am Heiligen Abend blühen,

waren ursprünglich nicht als Weihnachtsdeko gedacht.

Ob sie austrieben, wie viele Blüten sie trugen, sollte Auskunft geben,

wie die Ernte im nächsten Jahr ausfällt,

wer im kommenden Jahr mit etwas Gutem rechnen durfte,

wer vielleicht sogar heiraten würde.


Was wird die Zukunft bringen?

Jesus verheißt für die Zukunft Angst und Schrecken,

eine Apokalypse, die Erde und Himmel erschüttert.


Apokalypsen waren in der frühen Christenheit

eine eigene Literaturgattung.

Sie überboten sich geradezu in der Schilderung endzeitlicher Schrecken.

Die Offenbarung des Johannes, eine der ersten Apokalypsen,

liest sich stellenweise wie ein Horror-Roman.


Die Apokalypsen geben sich als Visionen,

in denen zukünftige Schrecknisse offenbart werden.

Aber es braucht gar keine Visionen.

Man muss nur schildern, was Menschen Menschen antun -

wie zum Beispiel die Folter in einem Militärkrankenhaus in Syrien -,

und man bewirkt einen Schrecken,

der jeden Horrorfilm im Kino in den Schatten stellt.

Das Blut im Kino - das sind nur Farbe und künstliche Effekte.

Die Qualen und Schmerzen, das Foltern und das Töten

in dem Krankenhaus in Damaskus waren real.


Auch die ersten Christen kannten die Angst vor Folter und Tod.

Sie wurden unter den römischen Machthabern verfolgt;

in den Märtyrerberichten kann man nachlesen,

was sie für ihren Glauben erleiden mussten.


Die Vorliebe der ersten Christen für Apokalypsen

hatte nichts mit dem Nervenkitzel zu tun,

den man erlebt, wenn man sich einen Horrorfilm ansieht.

Sie lasen die Apokalypsen aus dem selben Grund,

aus dem wir Krimis lesen: Weil am Ende des Gute siegt

und der Böse seine gerechte Strafe erhält.

Für sie waren die Apokalypsen Trostbücher,

die ihnen in ihrer hoffnungslosen Lage Mut machten,

dass Unrecht und Gewalt nicht das letzte Wort haben würden.


II

Man muss sich den Horror nicht ausdenken.

Man braucht nur hinzusehen und denen zuzuhören,

die Verfolgung, Vergewaltigung, Folter oder Krieg erlitten,

um unmittelbar die Angst vor dem zu empfinden,

was Menschen Menschen antun können.


Man muss sich die Folgen nicht ausmalen.

Man braucht nur hinzusehen,

wie Waffen in den Kriegen weltweit eingesetzt werden,

um zu begreifen, welche Gefahr, welche Zerstörungsgewalt

von diesen Waffen ausgeht.


Man muss nicht Meteorologie oder Physik studieren.

Man muss sich nur daran erinnern,

wie unerträglich heiß es im Sommer sein kann,

wie verzweifelt man war, als der Keller beim Gewitter voll lief,

um zu begreifen, was der Klimawandel anrichtet.


Apokalypse - das Wort bezeichnete ursprünglich keine Literaturgattung,

sondern eine Tätigkeit: etwas aufdecken;

den Schleier, die Hülle wegziehen

und zum Vorschein bringen, was darunter verborgen war.

Dazu braucht es keine besonderen Fähigkeiten.

Jesus traut seinen Jüngern zu, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Man kann sie nicht übersehen.

So deutlich, wie man das Kommen des Sommers daran erkennt,

dass die Bäume grün werden,

so deutlich kann man erkennen,

was uns bevorsteht, was uns droht.


Man muss allerdings hinsehen.


Nicht jede, nicht jeder kann es aushalten, hinzusehen.

Nicht jede, nicht jeder will hinsehen.

Wie ein Kind sich die Hände vor die Augen hält

und glaubt, dann wäre nicht da, was es nicht sehen will,

so glauben auch wir:

Wenn wir nicht hinsehen, dann ist das Schlimme auch nicht da.


Manche werden richtig böse,

wenn andere trotzdem beschreiben, was sie nicht sehen wollen.

Sie glauben nicht an den Klimawandel, sagen sie.

Sie finden, dass man Putin Unrecht tut - der will doch nur spielen.

Auch die Gefahr, die von Präsident Trump ausgeht,

wollen viele nicht wahr haben - im Gegenteil: Man bewundert ihn

und hätte auch gern so einen Anführer:

Einen, der mal so richtig durchgreift

und sich dabei nicht um Regeln und Gesetze schert.


III

Man muss hinsehen, um die Zeichen der Zeit zu erkennen.


Auch Leute wie Putin oder Trump sehen hin

und warnen vor dem, was uns ihrer Meinung nach bevorsteht.

Am Freitag wurde die neue Militärdoktrin der USA veröffentlicht.

Darin heißt es, dass Europa untergehen wird,

wenn nicht nationalistische Parteien wie die AfD bei uns,

der Front National in Frankreich, die PiS in Polen die Macht übernehmen.

Dabei war es doch der Nationalismus, der Europa und die Welt

mit zwei furchtbaren Kriegen überzogen hat.


Offenbar kommt zum Hinsehen noch ein Zweites hinzu:

Die Brille, durch die man die Wirklichkeit sieht.

Diese Brillen werden durch politische Schlagworte bezeichnet:

„rechts”, „links”, „konservativ” oder „liberal”.


Auch Jesus sieht durch eine Brille auf die Welt;

auch er ist nicht objektiv, nicht unparteiisch.

Jesus ergreift die Partei Gottes.

Und Gott hat ganz klar gemacht, auf welcher Seite er steht:

Auf der Seite der Schwachen.

Derer, die nicht auf die eigene Macht, die eigene Kraft vertrauen,

sondern auf Gottes Macht und Gottes Kraft.

Die darum das Heil nicht in Waffen und Gewalt suchen,

sondern in Mitgefühl und Nächstenliebe.


Selbst, wer den Klimawandel für eine Erfindung hält,

kann nicht übersehen, dass es katastrophale Überschwemmungen gibt,

in denen Menschen getötet werden.

Menschen, die sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.

Menschen, die sich kein richtiges Haus leisten konnten,

oder deren Haus nicht auf festem Grund stand.


Der kann auch nicht übersehen,

wie Menschen und Tiere unter der Hitze leiden.

Die Hitze macht denen zu schaffen,

die kein Geld für eine Klimaanlage haben,

die nicht in kühlere Gefilde auswandern können,

die durch Alter oder Krankheit besonders anfällig sind.


Es sind die Schwachen, die am meisten unter den Schrecken leiden,

die wir Menschen über diese Welt bringen.

Sie sind es gewohnt, den Kopf einzuziehen,

weil die große Politik ohnehin über ihre Köpfe hinweg gemacht wird.


Diesen Schwachen verheißt Jesus, dass sie aufstehen

und ihre Häupter erheben dürfen,

weil ihre Erlösung da ist.


IV

Manche von diesen Schwachen wären nicht anders als die Starken,

wenn sie nur die Macht, die Mittel dazu hätten.

Darum ist es nicht die gesellschaftliche, die körperliche,

die wirtschaftliche Benachteiligung allein,

es ist auch der Verzicht auf eigene Macht und Stärke,

die einen Menschen zu der, zu dem Schwachen macht,

dem die Verheißung Jesu gilt.


Jesus ruft nicht zum Umsturz, zur Revolution auf.

Denn die Welt ändert sich nicht zum Besseren,

das Reich Gottes bricht nicht an,

wenn die an die Macht kommen, die vorher machtlos waren;

wenn die Reichen arm und die Armen reich werden.


Das Reich Gottes wächst da, wo Menschen auf Macht verzichten.

Wo sie nicht auf Gewalt, auf Waffen vertrauen,

sondern allein darauf, dass Gottes Liebe sich durchsetzen wird,

und wo sie diese Liebe zum Maßstab

und zum Antrieb ihres Handelns machen.


Mit solchen Leuten ist kein Staat zu machen.

Aber sie werden gebraucht, heute dringender denn je.

Wir werden gebraucht.

Denn wir Christinnen und Christen,

wir sind das Salz der Erde.


Wir sind diejenigen, die sich trauen, hinzusehen

und die Zeichen der Zeit zu erkennen.

Wir sind diejenigen, die auf die Wunden hinweisen,

die unser Lebensstil dieser Welt schlägt,

und die als Salz in diesen Wunden brennen.

Wir sind diejenigen, die nicht aufhören, nach Frieden zu suchen,

wenn für den Krieg gerüstet wird.


Wir leben im Wissen, dass das Reich Gottes nahe ist.

Es blitzt dort auf,

wo Menschen für andere zum Mitmenschen werden.

Wo sie Gott die Ehre geben

und nicht einem Land, einem Anführer oder einer Ideologie.

Wo sie sich vom Brausen und Wogen der Meinungen

nicht irre machen lassen, sondern einen kühlen Kopf bewahren,

weil sie auf Gottes Wahrheit, Gottes Macht

und Gottes Liebe vertrauen.

Sonntag, 23. November 2025

Dinge, die man nicht teilen kann

Predigt am Ewigkeitssonntag, 23.11.2025, über Matthäus 25,1-13

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ich das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen höre,
kann ich mich jedes Mal über die klugen Jungfrauen ärgern.
Sie sind solche Musterschülerinnen!
Sie haben an alles gedacht,
sogar an das Öl zum Nachfüllen der Lampen.
Dabei war es nicht im Voraus bekannt,
dass der Bräutigam sich verspäten würde.
Wer rechnet schon damit,
dass jemand zur eigenen Hochzeit zu spät kommt?

Wenn man zu einer Hochzeitsfeier eingeladen ist,
nimmt man nicht mehr mit, als unbedingt nötig:
Ein Geschenk natürlich,
vielleicht noch Taschentücher - sicherheitshalber.
Aber sonst nichts.
Man geht unbeschwert von Alltagsdingen zu einer Hochzeit -
man will ja feiern.

Natürlich kann und will ich den Klugen keinen Vorwurf daraus machen,
dass sie so umsichtig sind.
Trotzdem ärgert mich an ihnen,
was mich auch an Musterschüler:innen ärgert:
Dass sie so strebsam und vorbildlich sind.
Nie vergessen sie eine Hausaufgabe,
haben immer ihr Sportzeug dabei,
denken an das Pausenbrot, die Regenjacke
und daran, zum Wandertag etwas zu Trinken einzupacken -
während ich manchmal einen knurrendem Magen hatte oder pitschnass wurde.

Ist es nicht menschlich, wenn man ab und zu mal etwas vergisst,
weil das Leben so viel spannender ist als die Schule?
Man hat den Tag mit Freund:innen verbracht
und ist abends spät nach Hause gekommen -
da war keine Zeit mehr für die Hausaufgaben.
Man hat den Wecker nicht gehört und musste sich beeilen -
da dachte man nicht an Pausenbrot oder Regenjacke.

Was mich noch an den klugen Jungfrauen ärgert:
Sie geben nichts ab von ihrem Öl.
Wenn sie uns schon als Beispiel dienen sollen,
hätten sie auch ihr Öl teilen müssen.
Denn das ist doch christlich: dass man miteinander teilt.

Sie haben natürlich einen guten Grund, warum sie nicht teilen.
Einen, der ihrer klugen, bedachten Art entspricht:
„Wenn wir euch etwas abgeben, würde es für uns alle nicht reichen.”
Meine Mitschüler:innen haben damals ihr Pausenbrot mit mir geteilt,
wenn ich vergessen hatte, mir eines zu einzupacken;
sie haben mir einen Schluck zu trinken abgegeben,
wenn ich keine Trinkflasche dabei hatte.
Warum kann man das Öl für die Lampen nicht teilen?

Nun, ich muss zugeben:
Hätten meine Mitschüler:innen nicht an Pausenbrot und Getränke gedacht,
hätten sie auch nichts mit mir teilen können.
Ich hatte Glück, dass sie so umsichtig waren,
und dass sie bereit waren, mit mir zu teilen.
Solches Glück hat man nicht immer.
Vor allem: Man kann sich nicht darauf verlassen,
dass jemand das bei sich trägt,
was man selbst vergessen hat, einzupacken.

Was für Lampenöl, Pausenbrote oder Trinkflaschen gilt,
das gilt in besonderem Maße von Dingen, die man nicht teilen kann.
Wenn ich z.B. vergessen hatte, Vokabeln zu lernen,
konnte mir beim besten Willen kein:e Mitschüler:in
ihr Wissen abgeben, wenn der Lehrer uns abfragte.

So ist es auch mit dem Glauben,
um den es im Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen geht.
Das Lampenöl, das die Nacht erhellt und dem Bräutigam den Weg weist,
ist in diesem Gleichnis ein Symbol für den Glauben.

Nun kann man den Glauben nicht wie das Lampenöl beim Krämer kaufen,
wie das die klugen den törichten Jungfrauen raten.
Aber gemeint ist wohl: Wenn es darauf ankommt,
dann muss man den Glauben sozusagen parat haben.
Es reicht nicht, dass man in diesem Moment zu glauben anfängt.
Dann merkt man schmerzlich, dass ein Glaube,
den man jahrelang vernachlässigt hatte, nicht hilft, wenn man ihn nötig hat.

Solange die Lampe brannte, dachte niemand an das Lampenöl.
Erst als sie beim Putzen des Dochtes merkten,
wie klein die Flamme geworden war, fiel den Törichten auf,
dass sie Öl nachfüllen mussten.
So ist es mit dem Glauben auch: Im Alltag vermisst man ihn nicht.
Ich wäre nie darauf gekommen, Gott die Schuld zu geben,
weil ich meine Vokabeln nicht gelernt hatte
und mir beim Abfragen die richtige Antwort nicht einfiel.

Aber wenn wir mit unserem Latein am Ende sind,
geben wir oft Gott die Schuld,
dass er nicht eingreift, dass er das zulässt,
dass er uns so fern zu sein scheint.

Man wird einwenden: Was hat das miteinander zu tun,
Vokabeln - und ein Schicksalsschlag?
Wie ich mit meinen Vokabeln,
so verlassen wir uns im Alltag auf unser Können,
unser Wissen, unsere Kraft.
Wir kämen nicht auf die Idee, von Gott zu erwarten,
dass er uns bei der Bewältigung unseres Alltags hilft.

Wenn aber etwas nicht Alltägliches passiert,
wenn man nicht mehr weiter weiß,
besinnt man sich auf Gott und fragt nach dem Warum.
Man geht mit Gott ins Gericht,
wähnt sich von Gott verlassen.
So, als sei Gott für den Schicksalsschlag verantwortlich,
den wir erleiden müssen.

Für unseren Alltag ist Gott nicht verantwortlich,
das können wir allein - und da wollen wir auch allein entscheiden.
Ich will nicht sagen, dass das nicht richtig ist,
dass das nicht so sein sollte.
Ich weise nur auf den Widerspruch hin:
Wenn etwas Außergewöhnliches passiert, erwarten wir ein Wunder,
'während wir im Alltag nicht damit rechnen.

Auch Gläubige, die ihren Glauben lebendig halten
und täglich - oder doch regelmäßig - damit umgehen,
erleben kein Wunder, wenn ihnen etwas Schlimmes widerfährt.
Auch sie werden von einem Schicksalsschlag aus der Bahn geworfen.
Aber der Glaube ist ihnen in diesem Moment ein Halt.
So, wie die klugen Jungfrauen Öl für die Lampen dabei haben,
wissen diese Gläubigen, wie und wo sie auftanken können,
wenn ihr Glaube ins Wanken gerät.

Niemand, mag er oder sie auch vom Glauben durchdrungen sein,
ist davor gefeit, Zweifel zu erleben,
wenn man vom Leben erschüttert wird.
Auch dem Frömmsten kann Gott manchmal sehr fern sein,
wie die Jungfrauen alle miteinander vom Warten müde werden,
die klugen genauso wie die törichten.

Darum ist es wichtig, den Glauben zu üben
und sich mit seinem Glauben auseinanderzusetzen.
Man steht mit Gott in Verbindung
'und muss nicht erst lange nach der Telefonnummer suchen.
Und selbst wenn die Verbindung einmal abreißt, weiß man,
dass Gott am anderen Ende der Leitung geduldig wartet.

Bei Rainer Maria Rilke heißt es im „Stundenbuch”:

    „Du Nachbar Gott, wenn ich dich manchesmal
    in langer Nacht mit hartem Klopfen störe, -
    so ist’s, weil ich dich selten atmen höre
    und weiß, du bist allein im Saal.
    Und wenn du etwas brauchst, ist keiner da,
    um deinem Tasten einen Trank zu reichen:
    Ich horche immer. Gib ein kleines Zeichen.
    Ich bin ganz nah.”

Gott ist da, im Alltag, in den Hoch-Zeiten und Tiefpunkten unseres Lebens.
Wenn wir ihn suchen, lässt er sich von uns finden.
Er hat sich nicht verborgen - wir haben ihn nur nicht sehen können.

Mittwoch, 19. November 2025

Entschuldigung

Predigt am Buss- und Bettag, 17.11.2010, über Römer 2,1-11:

Du bist ohne Entschuldigung, Mensch, jeder, der urteilt:
Worin du den anderen beurteilst, verurteilst du dich selbst;
denn du, der urteilt, tust dasselbe.
Wir wissen doch, dass Gottes Urteil über die, die Unrecht tun,
der Wahrheit entspricht.
Meinst du aber dies, Mensch, wenn du verurteilst, die Unrecht tun -
tust aber dasselbe -, dass du dem Gericht Gottes entgehen wirst?
Oder verachtest du die Fülle seiner Güte, Nachsicht und Langmut
in Unkenntnis dessen, dass Gottes Güte dich zur Buße treibt?
Wegen deines Starrsinns und deines unbußfertigen Herzens
häufst du dir doch Zorn an für den Tag des Zorns
und der Offenbarung von Gottes gerechtem Gericht,
der „jedem nach seinen Werken vergelten wird” (Sprüche 24,12);
denen, die in ausdauerndem Gutes Tun
Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit suchen, ewiges Leben;
den Streithähnen aber, die der Wahrheit nicht folgen,
folgen aber der Ungerechtigkeit, Wut und Zorn.
Drangsal und Not komme über jedermann, der Unrecht tut,
Juden zuerst und auch Griechen.
Jedoch Ruhm, Ehre und Friede jedem, der das Gute tut,
Juden zuerst und auch Griechen;
denn bei Gott gibt es keine Parteilichkeit.

Liebe Schwestern und Brüder,

entschuldigen Sie bitte.

Entschuldigen Sie bitte - wie oft sagt man das.
Im Theater z.B., wenn man zu spät kommt
'und alle anderen aufstehen müssen,
damit man zu seinem Platz gelangt.
Wenn man bei Tisch nach etwas greift
und dabei das Glas des Nachbarn umwirft.
Wenn man jemanden nach dem Weg fragt, oder nach der Uhrzeit.

Entschuldigen Sie bitte - wie oft sagt man das so dahin.
Es gehört zum guten Ton, sich zu entschuldigen,
wenn man anderen in irgendeiner Weise Umstände macht.
Meistens meint man es sogar, wenn man sagt:
"Entschuldigen Sie bitte": Es ist unangenehm,
wenn andere etwas für eine:n tun sollen.
Man bittet nur im äußersten Notfall darum.
"Ich will doch keine Umstände machen", hört man dann,
"ich möchte niemandem zur Last fallen".
Ja, wir sind höfliche, rücksichtsvolle Mitmenschen,
wenn es um die Etikette geht, um den höflichen Umgang,
das richtige Verhalten in der Öffentlichkeit.

"Du kannst dich nicht entschuldigen, Mensch, wer du auch bist."
Man kann sich nicht selbst entschuldigen.
Das müssen andere für eine:n tun.
Die, bei denen man in der Schuld steht.
Darum vermeiden es viele, andere um Hilfe zu bitten:
Man möchte niemandem etwas schuldig sein.
Es ist manchmal schwerer auszuhalten,
jemandem einen Gefallen schuldig zu sein,
als Schulden auf dem Konto zu haben.
Darum beißen sich manche lieber auf die Zunge,
als andere um Hilfe zu bitten.

Besonders unangenehm wird es,
wenn man jemand um Entschuldigung bitten muss.
Es geht noch, wenn man nur zu spät gekommen ist,
etwas vergessen oder irgendein Missgeschick begangen hat.
Schwerer wird es, wenn man etwas Schlimmes getan hat.
Etwas beschädigte oder zerstörte,
das einem Anderen lieb und teuer war.
Eine Beziehung beschädigte oder zerstörte,
indem man jemanden kränkte oder verletzte
durch böse Worte oder falsches Verhalten.

Und am allerschwersten fällt es, sich zu entschuldigen,
wenn man sich gar keiner Schuld bewusst ist,
weil man meint, die, der andere hätte das viel nötiger.
Ja, erst müsse er, müsse sie sich entschuldigen,
dann könne man vielleicht auch etwas eingestehen.
Viele Beziehungen stecken in so einer Schuldenfalle,
viele Partnerschaften, Nachbarschaften und Freundschaften.
Beide sind verletzt, beide haben Fehler gemacht,
aber keiner von beiden kann und will den ersten Schritt tun:
Einen Fehler, eine Schuld eingestehen
und um Entschuldigung bitten.

Woran liegt es, dass es oft so schwer fällt, um Entschuldigung zu bitten?
"Du kannst dich nicht entschuldigen, Mensch, wer du auch bist",
schreibt Paulus am Beginn seines Briefes an die Römer.
Warum kann man sich nicht entschuldigen?
Offenbar möchte man das gern, sich ent-schuldigen.
Oder, besser gesagt: Man möchte nicht "schuld" sein.
Kaum eine:r gibt freiwillig einen Fehler zu;
wer nicht auf frischer Tat ertappt wird,
gesteht nicht von sich aus ein, einen Fehler gemacht zu haben.

Wie peinlich ist es, schuld an etwas zu sein!
Da ist die Angst vor Strafe, vor der Demütigung,
vor einer Gardinenpredigt, die man zu hören bekommt.
Man fürchtet die Konsequenzen seiner Tat,
die Traurigkeit, die Wut oder die Enttäuschung des Geschädigten,
den Bruch der Freundschaft, das Ende der Beziehung.

Man möchte nicht schuld sein.
Vor allem deshalb nicht, weil das nicht zu unserem Selbstbild passt.
Wir wissen zwar, dass wir nicht perfekt sind, dass wir Fehler machen.
Aber es zu wissen - und es sich selbst und anderen einzugestehen,
sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe.

Lieber beobachtet man, was anderen so Dummes passiert,
achtet darauf, was andere falsch machen.
Man "urteilt", wie Paulus schreibt.
Man urteilt über andere und beurteilen sie:
Die ist gut, der ist schlecht,
die ist schön, die ist hässlich,
der ist sportlich, der ist dick.

Und man tauscht sich darüber aus.
Fragt andere nach ihrer Meinung,
vergewissert sich, dass man zum gleichen Urteil kommt,
kurz: man tratscht und redet hinter dem Rücken der Leute, um die es geht.

Das ist überhaupt das allergrößte: Das Reden über andere.
Eine ganze Industrie lebt von Klatsch und Tratsch:
Fernsehzeitungen und bunte Blätter,
die "Sozialen Medien" im Internet
und die Boulevardmagazine im Fernsehen
verbreiten sich darüber, wer was mit wem hat,
wer sich von wem getrennt hat und wer wo was getan oder nicht getan hat.
Leute nehmen es begierig auf, als wären das wichtige Neuigkeiten!

Man redet so gern über andere.
Und am schönsten ist es, am interessantesten wird es,
wenn die sich etwas zuschulden kommen ließen;
wenn es herauskommt, dass sie Dreck am Stecken haben.
Dann freut man sich, statt sie deswegen zu bedauern.
Freut sich, dass die Schönen, Mächtigen und Reichen,
die Großkopferten und Gutbetuchten auch nur Menschen sind
- als ob man das nicht vorher gewusst hätte!

Das ist vielleicht der Sinn der ganzen Tratscherei,
der Neugier auf die Fehler der anderen,
des "Richtens", wie Paulus schreibt:
Dass man befriedigt feststellen kann:
Die anderen sind ja gar nicht besser als ich, die machen ja auch Fehler.
Die sind ja auch nur Menschen ...

Wer glücklich ist oder frisch verliebt, wer einen großen Erfolg feiert
oder die Geburt des Enkelkindes - den interessiert es überhaupt nicht,
was Heidi Klum oder Sarah Wagenknecht,
Friedrich März oder Boris Becker denken und tun.
Der, dem ist das herzlich egal.

Aber im Trott des Alltags kann man nicht genug davon bekommen
und tratscht fleißig mit.

Man braucht das Gerede, das Getratsche,
das Vergleichen und Kritisieren, um sich besser zu fühlen,
wie der Pharisäer im Gleichnis, das Jesus erzählt:
„Ich danke dir, Gott, dass ich nicht so bin wie dieser Sünder …”
Man braucht das Gerede und Getratsche,
um sich gegenseitig zu vergewissern:
Wir tun, wir denken und sagen das Richtige -
wir sind richtig, die anderen sind falsch.

Reden über andere, Tratschen hilft auch,
wenn man nicht alles richtig gemacht hat.
Denn dann gilt: Wenn alle anderen Schweinehunde sind,
dann ist es nicht so schlimm, wenn ich auch einer bin.

Man sucht nach den Fehlern der anderen,
um die eigenen Fehler und Schwächen nicht sehen zu müssen.
Man erträgt es nicht, ein Mensch zu sein mit Fehlern und Schwächen.
Man zerrt die Intimitäten anderer ans Tageslicht,
damit niemand auf die Idee kommt,
dass es auch im eigenen Leben dunkle Flecken gibt:
verpasste Gelegenheiten und Geheimnisse, die man besser verschweigt.

Man braucht das Vergleichen und Kritisieren vielleicht auch,
weil man so schnell vergisst, wie glücklich man war.
Weil man den verpassten Gelegenheiten, den vertanen Chancen nachtrauert.
Weil man sich schämt für das, was man ist.

Wir brauchen das Vergleichen und Kritisieren ...
- dabei brauchen wir uns gar nicht mit anderen zu vergleichen,
haben es gar nicht nötig, andere zu kritisieren.
Wir brauchen es nicht, weil wir Menschen sind und sein dürfen.
Und Menschen sind nun einmal nicht perfekt -
nicht einmal die, von denen wir das gern glauben würden.
Nicht einmal wir …

Menschen machen Fehler. Fehler gehören zu unserem Menschsein.
Fehler machen uns erst zu Menschen.
Was zählt, sind nicht die Fehler, ist nicht das, was wir getan haben.

Was zählt ist, was wir jetzt tun.
„Drangsal und Not komme über jedermann, der Unrecht tut.
Jedoch Ruhm, Ehre und Friede jedem, der das Gute tut."

Gott interessiert sich nicht dafür, was wir einmal getan haben;
deckt nicht auf, was uns peinlich ist, was wir verschweigen möchten.
Gott zählt die Haare auf dem Kopf, nicht die in der Suppe.
Gott interessiert sich für uns, weil er uns liebt und glücklich sehen will.
Gott interessiert, was wir jetzt tun - und was wir tun werden.
Ob wir den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut verachten,
indem wir den Fehlern anderer hinterherhecheln.
Oder ob wir seine Güte annehmen als ein Geschenk, das Gott uns macht.
Ein Geschenk, das alle Fehler auslöscht wie ein Radiergummi
und uns jeden Tag neu als unbeschriebenes, weißes Blatt schenkt.

Und Gott interessiert, ob wir das anderen auch zugestehen können:
Das Recht, eine andere, ein anderer zu werden.
Und sie nicht festlegen auf die Person, die sie gestern waren,
auf das, was sie gestern taten.
Denn Gottes Güte, Geduld und Langmut
gilt für sie genauso wie für mich.

Sonntag, 2. November 2025

einen Bogen schlagen

 Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 2. November 2025, über 1.Mose 8,18-22; 9,12-17

Liebe Schwestern und Brüder,

 

heute schlagen wir einen Bogen - und das in mehrfacher Hinsicht:


1. Der Predigttext erzählt vom Regenbogen als Zeichen des Bundes,

den Gott mit Noah schließt. Noah wird nach der Sintflut, die alles Leben

bis auf die wenigen Seelen auf der Arche auslöschte, zum neuen Stammvater der Menschheit. 

Das Bündnis mit Noah ist kein Vertrag zum Vorteil eines Einzelnen; es ist Gottes Bund mit der gesamten Menschheit. Dieses globale Bündnis wird zur Blaupause und zur Grundlage der partikularen Bündnisse, die Gott mit einem Einzelnen, Abraham, oder einer Familie, der von Jakob, schließt. Durch den Noahbund werden auch die anderen Bundesschlüsse Gottes für uns durchlässig, dürfen wir uns eingeladen und mitgemeint fühlen.

Gerade heute werden Bündnisse wieder enorm wichtig. Staaten verbünden sich, um ihre Interessen, ihre Werte,

ihre Lebensweise und ihre Regierungsform gegen andere Staaten zu verteidigen. Auch Verteidigung - so notwendig, so legitim sie ist -

bedeutet, in einen Krieg verwickelt zu werden. Krieg entfesselt Gewalt, die Leben auslöscht, wie es die Sintflut tat. Einzelne Menschen und ganze Staaten sind dazu bereit, Gewalt anzuwenden, Natur und Städte zu zerstören, Menschen zu töten, damit sie so weitermachen können wie bisher, damit alles so bleibt, wie es war. 

Gottes Bündnis mit Noah ist keines, das den Tod in Kauf nimmt

oder billigend mit einschließt. Es ist ein Bündnis des Lebens:

„Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht.”

Das klingt nach einer Garantie, dass alles so bleibt, wie es ist;

der Fortbestand dessen, was wir seit jeher gewohnt sind.

Aber auch wenn es so klingt:

Der Kreislauf der Natur von Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht dreht sich nicht auf der Stelle.

Die Natur entwickelt sich weiter - „Evolution” hat Charles Darwin das genannt.

Darwin wurde - und wird bis heute - bekämpft von denen,

die an eine unerschütterliche Ordnung der Schöpfung glauben wollen.

Die glauben wollen, dass Gott will, dass alles so bleibt, wie es ist. 

Auch Gott steht nicht auf der Stelle.

Gott ändert seine Meinung über den Menschen.

Gott lässt sich nicht festlegen, und Gott legt den Menschen nicht fest:

Er legt ihn nicht fest auf das Böse, zu dem jeder Mensch fähig ist.

Er glaubt an die Fähigkeit des Menschen zur Veränderung - „Umkehr” nennt das die Bibel.

Darum gibt er der Menschheit eine neue Chance.

Und nicht nur eine. Der Bogen Gottes in den Wolken ist das Zeichen:

Wie die Natur in Zyklen voranschreitet und auf jede Ernte eine neue Aussaat folgt,

so können auch wir immer wieder neu beginnen in Versuch und Irrtum,

ohne dass Gott noch einmal die Geduld mit uns verliert. 

Die Menschen früherer Zeiten sahen in dem Bogen die Waffe,

die damals neben dem Speer die einzige Fernkampfwaffe war.

Sie sahen im Regenbogen eine Waffe,

wie die ersten Christen das Kreuz nicht als Deko-Element wahrnahmen,

sondern als das Folterinstrument, das es damals war.

Wenn Gott seinen Bogen in die Wolken setzt,

dann hängt er ihn damit sozusagen an den Nagel.

Gott verzichtet darauf, seinen Willen mit Gewalt durchzusetzen.

Statt dessen setzt er auf die Liebe.

Die Liebe, die er für die Menschen empfindet, berührt und bewegt sie, so hofft er,

dass sie sich selbst, ihre Mitmenschen und Gott zu lieben beginnen.

Diese Liebe hört niemals auf.

Sie ist eine Naturgewalt, die den Menschen zu den radikalsten Veränderungen fähig macht:

Dazu, über den eigenen Schatten zu springen,

Verantwortung zu übernehmen, Schuld einzugestehen

und von einem falschen Weg umzukehren. 


2. Vom Predigttext schlagen wir einen Bogen in den Dom,

zu den Lichtbögen Günter Ueckers.

Gestern Abend konnten wir hören, wie Christian Domke sie sieht.

Ich möchte heute, ausgehend vom Predigttext, einen weiteren Blickwinkel beisteuern:

Als der Bogen als Kriegswaffe noch allgegenwärtig war,

sah man im Regenbogen eine Waffe.

Er war nicht nur schön, faszinierend, zauberhaft. Er war auch bedrohlich.

Er erinnerte an Gewalt und Zerstörung,

die Gott mit der Sintflut über die Erde gebracht hatte.

Und er erinnerte Gott daran, dass er Noah geschworen hatte, auf Gewalt zu verzichten

und sich selbst in seiner Allmacht zu beschneiden,

damit Leben auf der Erde möglich sein und fortbestehen konnte.

Günter Uecker sprach vom Lichtbogen in seinen Fenstern als einer „Narbe”,

über die man hinaus in das Licht gelangt.

Der Regenbogen am Himmel ist sozusagen die Narbe,

die der Welt von der Sintflut geblieben ist.

Sie ruft uns dazu auf, über Gewalt und Zerstörung hinauszugehen,

uns zu entwickeln zu einer Spezies, die nicht einander bekämpft,

sondern friedlich und einträchtig diesen Planeten bevölkert.

Ueckers Lichtbogen mag uns auch an unsere persönlichen Narben erinnern:

Die körperlichen, und die Narben der Seele.

Man denkt nicht gern an solche Narben.

Was uns die Narbe beibrachte, hat weh getan, war schrecklich, war unerträglich.

Man wünschte, man könnte es vergessen.

Groß ist die Angst, dass besonders eine Seelen-Narbe wieder aufbrechen könnte. 

Gottes Liebe trägt uns über solche Erinnerungen hinaus.

Sie verwandelt die Erinnerung.

Dadurch sind wir in der Lage, die Veränderung anzunehmen,

deren Zeichen diese Narbe ist.

Veränderungen bringen nicht automatisch Gutes.

Manche würden sagen: Sie bringen selten etwas Gutes.

Veränderungen sind oft anstrengend, unerfreulich, unbequem.

Oft geht dabei etwas verloren, das man sehr vermisst;

etwas, von dem man glaubte, ohne es nicht leben zu können.

Aber weil wir von Gottes Liebe umfangen sind,

muss jede Veränderung uns unweigerlich zum Guten dienen

und uns neue Räume eröffnen, auch wenn uns jetzt alle Türen verschlossen scheinen.


3. Und so schlagen wir einen dritten Bogen,

gehen noch einen Schritt weiter zu dem neuen Kapitel,

das mit Domkantor Christian Domke heute in der Musik am Dom aufgeschlagen wird.

Auch hier war ein erster Impuls die Abwehr jeglicher Veränderung;

der Wunsch, alles möge so bleiben, wie es war.

Auch hier sehen und spüren wir zunächst die Narbe,

die der Weggang von Jan Ernst hinterlässt.

Aber auch hier gilt das Versprechen, das Gott Noah gibt:

Saat und Ernte, Frost und Hitze,

Sommer und Winter, Tag und Nacht werden nicht aufhören.

Jan Ernst hat gesät, und Christian Domke wird die Saat begießen,

wird ernten und wiederum Neues säen,

wie Jan Ernst die Früchte der Arbeit von Winfried Petersen begossen, geerntet

und seinerseits Neues gesät hat.

Zugleich arbeitet jeder ein wenig anders im schönen Garten der Gemeinde,

setzt andere Pflänzchen, gestaltet die Beete anders als sein Vorgänger,

hat die Blumen lieber als Obst und Gemüse - oder umgekehrt.

Und natürlich entwickelt sich die Kirchenmusik weiter,

sind die Sängerinnen und Sänger andere als vor 30 Jahren.

Was von Winfried Petersen über Jan Ernst zu Christian Domke weitergeht,

ist die Verheißung, dass Christus seine Kirche durch die Zeit begleitet.

Seine Einladung ergeht weiter, dass wir alle Steine sein dürfen und sein sollen

im Bauwerk der Gemeinde, dessen Eckstein Jesus Christus ist -

ob als Sängerinnen und Sänger in den Kantoreien,

als Kirchenälteste, als Kirchenführer, bei der Domaufsicht,

als Mitarbeitende in der Kinder- und Jugendarbeit, beim Kindergottesdienst,

der Frauengruppe oder den vielen anderen Orten.

Oder, wie Paulus im 1.Korintherbrief schreibt:

„Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen; aber Gott hat das Gedeihen gegeben.

So ist nun weder der etwas, der pflanzt, noch der begießt,

sondern Gott, der das Gedeihen gibt.

Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld und Gottes Bau.

Nach Gottes Gnade, die mir gegeben ist,

habe ich den Grund gelegt als ein weiser Baumeister;

ein anderer baut darauf.

Einen anderen Grund kann niemand legen außer dem, der gelegt ist,

welcher ist Jesus Christus.”

Sonntag, 26. Oktober 2025

ein neues Lied

Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2025,
im Kantatengottesdienst “Singet dem Herrn ein neues Lied”, BWV 190
zur Verabschiedung von Jan Ernst als Domkantor

 

Liebe Schwestern und Brüder,


„singet dem Herrn ein neues Lied”,

so der Titel der Kantate, die wir gerade hörten,

und so sang und wiederholte es der Chor viele Male: 

„Singet dem Herrn ein neues Lied”


Doch ein neues Lied kann man die Kantate beim besten Willen nicht nennen.

Bereits am 1. Januar 1724 erklang sie erstmals im Gottesdienst.

Mit 300 Jahren auf dem Buckel ist Bachs Musik alles andere als neu.

„Klassische Musik” sagt man dazu;

manch eine:r hört diesen Begriff als Euphemismus für „antiquiert”.


Die Kantate befindet sich für uns also in einer Spannung,

einer Spannung zwischen Alt und Neu:

das „neue Lied”, das sie im Titel trägt, trägt sie in einer Weise vor,

die nicht dem entspricht, was wir heute unter „neuer Musik” verstehen.

Deshalb klingt sie für uns „alt” - selbst für diejenigen unter uns,

die Fans „klassischer” Musik sind.


Die Spannung zwischen Alt und Neu 

findet sich auch in dem Anlass wieder,

zu dem Bach die Kantate komponiert hat: Dem Neujahrstag.

Er hat etwas Janusköpfiges:

Er blickt auf das alte Jahr zurück und feiert den Beginn des Neuen.


Alt und Neu tauchen in der Kantate an vielen Stellen auf:

Im 2. Satz, wo der Bass das neue Jahr besingt,

der Tenor auf das vergangene zurückblickt

und der Alt Gottes Vatertreue lobt,

die mit dem Alten Jahr nicht ans Ende gekommen ist,

sondern jeden Morgen neu wird, ein Leben lang.


Im 5. Satz singen Tenor und Bass von Jesus, der Anfang ist und Ende,

wie er es von sich selbst sagt: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.”

Jesus ist das auch für mich: „Jesus soll mein Anfang bleiben,”


Weil Jesus mein Anfang ist,

muss ich die Bedingungen für einen Neuanfang nicht selbst schaffen

und muss auch nicht warten, bis z.B. der Ruhestand eintritt.

Ich kann jederzeit von vorn anfangen.

Jeden Tag, jeden Moment kann etwas neu und anders werden.


Und weil Jesus mein Ende ist, 

brauche ich das Ende nicht zu fürchten,

muss vor dem Tod keine Angst haben,

denn „Jesus macht mein Ende gut.”


Die Spannung zwischen Alt und Neu,

Anfang und Ende prägt auch unseren Gottesdienst.

Wir verabschieden heute unseren Kantor Jan Ernst.

Für ihn beginnt in wenigen Tagen ein neuer Lebensabschnitt,

auf den er sich freut, während uns große Dankbarkeit erfüllt

und uns deshalb eher zum Heulen zumute ist.


Und gleichzeitig ist dieser Gottesdienst heute für Dich, Jan,

der Abschied von einem Amt, das Du 32 Jahre mit Liebe zur Musik, 

zu den Menschen dieser Gemeinde und zum Dom ausgefüllt hast.

Wir werden immer deine Gemeinde, und dies wird immer dein Dom bleiben.

Aber nun nicht mehr als Domkantor, sondern als einfaches Gemeindeglied,

während wir am kommenden Sonntag den neuen Domkantor Christian Domke

hier in einem Gottesdienst begrüßen.


Eine solche Spannung wie die zwischen Abschied und Neubeginn,

Trauer und Freude, Anfang und Ende nennt man „Ambivalenz”.


Ambivalenzen lassen sich schwer aushalten.

Man möchte sie nach einer Seite hin auflösen.

Möchte diese Spannung nicht mehr empfinden.

Aber man kann sie nicht auflösen, und man soll es auch nicht.

Sie machen den Reiz unseres Lebens aus,

sie sind ein Zeichen von Lebendigkeit.


Ambivalenzen finden sich auch in Bachs Musik:

Im festlichen Eingangssatz mit Pauken und Trompeten

singt der Chor plötzlich unisono: „Herr Gott, dich loben wir!”

Man erschauert bei diesem Umschlag der Musik. 

Ein heiliger Schauer, der uns da ergreift.


Er weist auf den hin,

um dessentwillen Bach diese Kantate geschrieben hat;

den Du, Jan, mit deiner Musik zu Wort kommen lassen wolltest

und in dessen Namen wir heute hier versammelt sind:

Den dreieinigen Gott.

Alt und Bass stellen ihn uns im 3. und 4. Satz

als Vater, Sohn und Heiliger Geist vor.


Ihm ist alle Musik, ihm ist das neue Lied gewidmet.

Denn das vergisst man leicht:

1724 war Bachs Kantate topaktuell.

Das Allerneueste, was man damals in Leipzig an Musik erleben konnte.

Aber warum tun wir das, Gott loben?

Braucht Gott etwa Unterhaltung?

Ist es ihm im Himmel zu langweilig,

oder ist ihm das ewige „Halleluja” der Engel zu eintönig?


Wenn man sich Gott als alten Herrn mit Bart vorstellt,

mag man auf solche Gedanken kommen.

Aber das Lob Gottes besteht nicht darin,

dass wir ihm schmeicheln oder ihm schöne Lieder vorsingen.


Gott wird dadurch gelobt,

dass wir uns eingestehen, anerkennen und öffentlich bekennen,

dass wir ohne Gott nicht leben wollen und nicht leben können:


Gott steht am Anfang unseres Lebens; 

ihm verdanken wir es.

Er ist die Mitte, um die unser Leben kreist, 

die unser Leben hält und erhält. 

Und er steht an seinem Ende

das bei Gott ein neuer Anfang sein wird.


So singen es Bass und Tenor in ihrer Arie:

„Jesus soll mein Alles sein.”

So bekennt es der Bass in seinem Rezitativ:

Jesus ist „meiner Seelen bestes Teil”,

Grund meiner Freude, meines Trostes und meines Heils.

So klingt es auch im neuen Lied,

wie dem Gospel „Jesus is my salvation”:


< Flashmob Jugendkantorei >


Da bekommt man eine Gänsehaut.

Das macht die Musik mit einem:

Sie ergreift, rührt zu Tränen, erschüttert,

macht fröhlich und überschwänglich.


Was wir mit Worten nur mühsam zum Ausdruck bringen:

„Dass Jesus meine Freude,

mein treuer Hirt, mein Trost und Heil

und meiner Seelen bestes Teil” sei,

vermittelt die Musik scheinbar mühelos.


Dennoch braucht die Musik auch Worte.

Sonst wüssten wir mit den Gefühlen,

die sie in uns erregt, nichts anzufangen.

Sie füllt die Worte mit Leben.

Wir müssen nicht darüber nachdenken, was sie bedeuten.

Wir fühlen unmittelbar, was gemeint ist.

Die Musik hilft uns, die Ambivalenzen auszuhalten.

Sie spielt mit ihnen und macht sie für uns fruchtbar.

Wir müssen sie nicht auflösen,

wir können sie nebeneinander stehen lassen,

die Trauer und die Freude,

den Abschied und den Neuanfang,

den Anfang und das Ende.

Sie schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander.

Wir begreifen, dass das Ende auch ein Anfang ist,

und dass unser Leben davon geprägt ist:

„Deine Vatertreu hat noch kein Ende,

sie wird bei uns noch alle Morgen neu.

Drum sagen wir lebenslang

mit Mund und Herzen Lob und Dank.”


Das Lob Gottes lässt uns die Ambivalenzen des Lebens,

lässt uns das Leben selbst aushalten und genießen.

Dieses Lob geschieht immer wieder neu,

auch wenn wir es mit den alten Worten

und den alten Melodien einer Kantate Johann Sebastian Bachs singen.


Durch uns wird daraus ein neues Lied.

Denn so, wie wir es singen, erklang es noch nie;

so können nur wir es singen und mit Leben füllen.


Lieber Jan, du hast eine ganze Generation gelehrt,

Gottes Lob zu singen und zu musizieren. 

Du hast die Worte der Choräle, Messen, Oratorien, 

Motetten, Passionen und Kantaten mit Leben gefüllt 

und dich von ihnen tragen lassen.

So hast du uns vorgelebt, dass wir ihren Worten trauen können 

und dass die Musik uns dabei hilft, das Leben zu bestehen.


Wir singen weiter neue Lieder mit alten und neuen Melodien.

Wir tragen das Lob Gottes in die nächste Generation 

und hoffen, dass du hin und wieder 

und noch viele Jahre mit uns singst.