Montag, 29. September 2025

auf der guten Seite

Ansprache zu Michaelis, 29.9.2025, über Lukas 10,17-20


Die 72 kehrten voller Freude zurück:

„Herr, auch die Dämonen gehorchen uns,

wenn wir in deinem Namen reden!”

Jesus sprach zu ihnen:

„Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel schlagen.

Seht, ich gab euch Macht,

auf Schlangen und Skorpione zu treten

und über alle Gewalt des Feindes.

Niemand wird euch jemals schaden.

Aber freut euch nicht darüber,

dass euch die Dämonen untertan sind.

Freut euch vielmehr darüber,

dass eure Namen im Himmel aufgeschrieben sind.”


Liebe Schwestern und Brüder,


72 Jünger sendet Jesus aus -

sie stehen symbolisch für die Zahl aller Völker der damaligen Welt.

Heute sind 193 Staaten Mitglieder der Vereinten Nationen,

dazu noch Palästina und der Vatikanstaat.


Die Aussendung der 72 Jünger, die Lukas hier beschreibt,

dient nicht dazu, den Völkern das Evangelium zu bringen -

davon erzählt Lukas in der Apostelgeschichte.

Hier steht nicht ihre Predigt im Vordergrund,

sondern ihre Macht über die Dämonen.


Die Aussendung der 72 ist damit, wenn man so will, ein politischer Akt:

an ihr scheiden sich die Geister.

Sie werden dazu gezwungen, Farbe zu bekennen;

zu zeigen, auf welcher Seite sie stehen.


Heute, an Michaelis, denken wir nicht nur an die guten Geister,

die Engel, die Boten Gottes.

Sondern auch an ihren Widerpart,

sozusagen „die dunkle Seite der Macht”: die Dämonen.


Im Mittelalter stellte man sie sich als teuflische Monster vor,

die für alles Böse verantwortlich waren, das Menschen einander antaten,

das sie der Schöpfung antaten

und den Tieren, ihren Mitgeschöpfen.


Auf dem Loste-Altar sind die kleinen und großen Teufel

sehr eindrücklich dargestellt.

Manche:n gruselt es bei ihrem Anblick,

vor allem, wenn es im Dom dunkel ist.

Wenn man sich diese Figuren lebensgroß und lebendig vorstellt,

kann einem Angst und Bange werden.


Viele Menschen hatten und haben Angst vor dem Teufel -

allen voran Martin Luther.

Auf der Wartburg warf er einmal mit einem Tintenfass nach ihm.


Aber die kleinen Teufelchen auf dem Altar haben auch etwas Komisches.

Das war schon damals die Absicht des Künstlers,

der dieses Altarrelief schuf:

Damit illustrierte er, was Jesus seinen Jüngern sagt:

„ich gab euch Macht, auf Schlangen und Skorpione zu treten

und über alle Gewalt des Feindes.

Niemand wird euch jemals schaden.”


Der Teufel, den wir uns in unserer Phantasie ausmalen

und der uns solche Angst macht,

kann uns nichts tun.

Der Teufel, den wir uns vorstellen, ist nicht real.

Der Tintenfleck auf der Wartburg,

wenn er denn tatsächlich von Martin Luther stammt,

erzählt eine andere Geschichte:


Der Teufel ist keine Person

und auch keine böse Macht, der wir ausgeliefert sind.

Das Teuflische steckt in uns.

Nicht als Dämon, von dem wir besessen wären.

Sondern als Möglichkeit, die wir besitzen.

So, wie wir die Möglichkeit zum Guten besitzen,

haben wir auch die Möglichkeit, Böses zu tun.

Dazu braucht es keinen Teufel.

Es ist ein Teil von uns.


Die Tinte, mit der Martin Luther schrieb,

war weder gut noch böse.

Aber Luther schrieb damit Gutes,

wie seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen”,

die Übersetzung des Neuen Testaments ins Deutsche

oder eines seiner vielen schönen Lieder.


Und er schrieb damit Böses,

lieferte die aufständischen Bauern ans Messer

mit seiner Schrift „Wider die räuberischen
und mörderischen Rotten der Bauern”
;

zeichnete ein Zerrbild des Papstes

und verfasste gegen Ende seines Lebens

antisemitische Schriften,

in denen er seinen Zorn über die Juden ausgoss,

weil sie sein Evangelium nicht angenommen hatten.


Es gibt also nicht das Böse in Person,

sondern in jedem von uns

sind die Möglichkeiten zum Guten und Bösen angelegt;

wir haben manchmal einen guten

und manchmal einen bösen Geist.


Bei manchen überwiegt der gute Geist,

bei manchen der Böse,

und wie die Guten die Möglichkeit zum Bösen haben,

so haben die Bösen auch die Möglichkeit zum Guten.

Nur ergreifen sie sie meist nicht.


Durch Jesu Namen scheiden sich die Geister,

und wie es die gute Seite gibt,

so gibt es auch die dunkle Seite der Macht.

Wir gehören auf die gute Seite,

weil wir auf den Namen Jesu getauft sind.


Zugleich müssen wir uns immer wieder

für eine Seite entscheiden: wo wollen wir stehen?

Wie die 72 sind auch wir dazu berufen,

die Geister zu unterscheiden

und die Dämonen auszutreiben,

indem wir sie beim Namen nennen.


Doch ihre Namen sind nicht Luzifer,

Satan oder Beelzebub.

Sie heißen: Superbia, Avaritia, Luxuria,

Ira, Gula, Invidia und Acedia -

zu Deutsch: Hochmut, Geiz, Genusssucht,

Rachsucht, Maßlosigkeit, Neid und Trägheit.


Das sind keine gehörnten, bocksbeinigen Ungeheuer,

sondern Möglichkeiten, die in uns schlummern.

Wir entscheiden, ob wir sie wecken

oder weiter in uns schlafen lassen.


Ganz frei sind wir allerdings nicht in unseren Entscheidungen.

Oft handeln wir erst
und überlegen dann, ob es richtig war -
und stellen fest, dass wir uns für die falsche Seite entschieden haben.


Darum mahnt Jesus die 72 Jünger,

sich nicht darüber zu freuen,

dass ihnen die Geister untertan sind.

Denn das gelingt einem nicht auf Dauer.

Es führt zu Leid und Schmerz,

wenn man mit Gewalt immer das Richtige tun will.


Sondern darüber sollen wir uns und die Jünger sich freuen,

dass unsere und ihre Namen im Himmel aufgeschrieben sind.

Sie und wir, wir sind auf der guten Seite.

Und das bleiben wir, komme, was wolle.

Selbst, wenn wir uns bewusst für die andere Seite entscheiden sollten,

die gute Seite steht uns immer offen;

dort ist ein Platz auf unseren Namen reserviert.

Und das ist doch ein Grund zur Freude.

Sonntag, 28. September 2025

Siehste

Predigt am 15. Sonntag nach Trinitatis, 28.9.2025 über 1.Petrus 5,5c-11:

Liebe Schwestern und Brüder,

ein Kind möchte eine Kerze anzünden.
Es hat so oft zugesehen, wie die Eltern es machen;
jetzt möchte es das auch mal probieren.
„Du bist noch zu klein“, sagt die Mutter, „lass mich das machen“.
Aber das Kind quengelt und drängelt,
und schließlich gibt die Mutter nach
und reicht dem Kind die Streichholzschachtel.
Das Kind reißt ein Streichholz an. 
Nichts passiert. 

Nach vielen Versuchen fängt das Streichholz glücklich Feuer.
Stolz hält es das Kind in der Hand,
glücklich betrachtet es die Flamme,
triumphierend blickt es hinüber zur Mutter,
während sich die Flamme immer weiter nach unten frisst.
Das Kind hat ganz vergessen,
wo das Streichholz endet und die Finger anfangen.
Autsch! Da hat es sich verbrannt!
Es lässt das Streichholz fallen und fängt vor Schreck an zu weinen.
„Siehste!“, sagt die Mutter.
„Hättest du auf mich gehört, wäre das nicht passiert.“

I

„Siehste!“ - mit diesem Ausruf der Eltern wachsen viele Kinder auf.
„Siehste!“, das klingt mal triumphierend,
als würde der Schaden, der Schmerz, der Fehler bestätigen,
wie recht die Eltern hatten.
Manchmal klingt es fast mitleidig, „siehste?“,
und dabei wird das Kind schon in den Arm genommen und getröstet.
Und manchmal richtig ärgerlich: „Siehste!!!“ -
vor allem, wenn etwas kaputt gegangen ist.

Viele von uns haben das „Siehste!” erlebt,
und das wohl mehr als einmal.
Früher gab es meist noch einen Klaps dazu,
zur Verstärkung des Lerneffektes.
Denn lernen sollte man etwas daraus:
Dass es besser gewesen wäre, auf die Eltern zu hören.
Und dass man nun hoffentlich in Zukunft hört,
wenn die Eltern warnen oder verbieten.

„Beugt euch unter die starke Hand Gottes“
- auch der Predigttext ermahnt dazu,
auf den zu hören, der den besseren Überblick hat,
der die Konsequenzen absehen kann,
der weiß, was für uns gut ist und was schädlich.

Wussten es unsere Eltern, 
was gut für uns war und was nicht?
Wussten oder wissen wir es als Eltern, 
was gut für unsere Kinder ist und was nicht?

Jedenfalls ist die wichtigste Lebensphase, die Pubertät,
davon geprägt, dass sich das Kind gegen seine Eltern auflehnt.
Dass es nicht glaubt, dass seine Eltern wirklich wissen,
was für das Kind gut ist und was nicht.

Das Kind lehnt sich auf, auch gegen das „Siehste!“.
Es will selber sehen.
Und wenn es wehtut, dann tut es halt weh.
Als Mutter, als Vater steht man machtlos daneben.
Sieht hilflos mit an, wie das eigene Kind auf die Nase fällt
und kann es doch nicht davor bewahren.

II

Irgendwann ist die Pubertät zuende.
Aus dem Kind ist eine Erwachsene geworden, ein Erwachsener.
Es ist nicht so sehr das Ende der Pubertät,
das einen zum Erwachsenen macht:
Man wird in dem Augenblick erwachsen,
in dem einem bewusst geworden ist,
wie hart und unerbittlich das Leben sein kann.
In dem einem bewusst wird, dass für viele Menschen niemand da ist,
der ihnen aufhilft und sie tröstet, wenn sie hingefallen sind
– selbst wenn er dabei „Siehste!“ sagt.
Dass es vielmehr zum Leben gehört,
schmerzhafte, schlimme Erfahrungen zu machen:
„Ihr wisst, dass eure Geschwister in der Welt dasselbe erleiden“.
Wenn wir das wissen, dann sind wir erwachsen.

Dieses Wissen ist nichts, worauf man stolz wäre.
Manchmal, da wünscht man sich sehnsüchtig,
man würde nicht wissen, wie die Welt wirklich ist,
was an teuflischen Gräueln und Verbrechen,
an Gemeinheiten und Hinterlist geschah und geschieht.
Manchmal sehnt man sich die heile Welt der Kindheit zurück
- und weiß doch, dass sie für immer verloren ist.

Wenn man dann selbst Kinder hat, sagt man: „Siehste!“,
wenn sie sich verbrennen oder weh tun.
Und wünscht sich doch inständig,
sie mögen noch nicht so bald sehen,
was die Menschen einander Schlimmes antun;
mancher Anblick, manche Erfahrung
möge ihnen erspart bleiben.

III

Wenn man erkannt hat, wie die Welt wirklich ist,
ist man erwachsen geworden.
Manchmal kommt diese Erkenntnis so mächtig,
so gewaltig über einen, dass man sich verkriechen möchte.
Man will sich schützen gegen diese feindliche Welt,
gegen die Gemeinheit der Mitmenschen.
Mit Lebensversicherungen und Rechtsschutz,
mit Geländewagen und Alarmanlagen,
mit Selbstverteidigungskursen und Survival-Training 
versucht man, sich abzusichern, 
Stärke zu gewinnen und Stärke zu zeigen,
damit niemand auch nur auf den Gedanken kommen kann:
mit der, mit dem kann man's ja machen.

Diese Stärke muss sich auch in der Körperhaltung widerspiegeln:
Kein Entgegenkommen zeigen 
– das könnte als Schwäche ausgelegt werden -.
Keine Freundlichkeit
- die könnte man ausnutzen.
Mit Zynismus, Arroganz und Kälte hält man sich über Wasser
und die anderen vom Leibe,
und nur im engsten Kreis lässt man die Rüstung fallen.

Aber manche können selbst das nicht mehr.
Manche können nicht einmal in der eigenen Familie sein, wie sie sind, 
ihre Gefühle zeigen, ihre Angst, ihre Verletzlichkeit.

IV

„Beugt euch unter die starke Hand Gottes,
damit er euch zur rechten Zeit erhöht.“
Wer erwachsen geworden ist,
wer die Illusionen der Kindheit über die Welt verloren hat,
der beugt sein Haupt nicht mehr.
Denn sich beugen hieße: sich verletzlich machen.
Sich beugen hieße: sich klein machen
und den anderen, vor dem man sich beugt, groß sein lassen.
Sich beugen hieße: vertrauen. 
Denn wer sich beugt, hat nicht mehr unter Kontrolle,
was der andere gerade tut, was er im Schilde führt.

„Beugt euch unter die starke Hand Gottes,
damit er euch zur rechten Zeit erhöht.“
Warum sollte man sich vor Gott beugen,
wenn Gott doch nichts ändern kann an der Welt?
Der heillose Zustand unserer Welt ist wohl
das stärkste Argument gegen die Allmacht Gottes.

Aber verstehen wir „Allmacht“ wirklich richtig,
wenn wir von Gott erwarten, dass er mit der Faust dreinschlägt,
Verbrecher umbringt, Naturkatastrophen verhindert,
schief Gegangenes gerade biegt,
Mitmenschen treu und redlich macht?
Und wollten wir wirklich, dass Gott auch in unser Leben
so eingreift, dass er verändert, was in seinen Augen falsch ist
- was wir aber vielleicht ganz nett und richtig finden?

Wenn Gott von außen in die Welt, in unser Leben eingriffe,
wären wir immer noch Kinder.
Wohlgemerkt, wir sind Gottes Kinder – so,
wie wir zeitlebens Kinder unserer Eltern bleiben
und unsere Kinder zeitlebens unsere Kinder bleiben,
auch wenn sie längst erwachsen sind und selbst Kinder haben.

Wenn Gott von außen in die Welt und in unser Leben eingriffe,
würden wir niemals erwachsen werden.
Wir würden niemals ein Streichholz anreißen,
denn Streichhölzer kann man auch zum Zündeln benutzen.

Worin besteht aber dann die Macht Gottes?
„Der Gott aller Gnade hat euch berufen
zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus.”

Gott ist der „Gott aller Gnade“.
Gnade heißt auf Griechisch: cháris,
und damit wird all das bezeichnet, was Freude erregt.
Gott ist einer, der unsere Freude erregen will,
der uns gut tun will, der will, dass wir glücklich sind.
Nicht nur wir hier im Dom,
alle Menschen sollen glücklich sein.
Gottes Macht besteht darin,
dass seine Sache zur unseren wird.
Gott verwickelt uns in sein Geschäft des Glücks für alle Menschen.

Glück, wie Sie wissen, erreicht man nicht mit Gewalt.
Glück kann man nicht machen.
Glück fällt einem zu. Es ist ein Geschenk.
Es kommt alles darauf an, die Voraussetzungen dafür zu schaffen,
dass Menschen glücklich werden, 
dass ihnen das Glück zufallen kann.
Mit dem Glück ist es so:
Je mehr ich mich um das Glück anderer bemühe,
desto glücklicher bin ich, und desto mehr fällt mir zu.

V

Wenn man erkannt hat, wie die Welt wirklich ist,
ist man erwachsen geworden.
Dann weiß man Bescheid, kennt sich aus mit der Welt,
mit den Menschen.
Und sagt denen, die das noch nicht wissen,
denen, die immer noch an das Gute im Menschen glauben,
die immer noch Hoffnung haben auf eine bessere Welt:
„Siehste!“

Oder man hört nicht auf zu träumen.
Hört nicht auf, an den Menschen zu glauben,
von dem Gott bei der Schöpfung sagte:
„Siehe, es war sehr gut“.
Hört nicht auf, an diese Welt zu glauben,
die Gott gut geschaffen hat.
Lässt die Rüstung fallen, beugt sich hinab,
damit Gottes Wille wahr werden,
Gottes Plan gelingen kann:
Cháris, Glück und Freude, für alle Menschen.

Das ist ein viel größerer Beweis von Gottes Macht:
wenn Menschen gut sein wollen, 
obwohl sie davon keinen Vorteil haben.
Wenn Menschen bei der Wahrheit bleiben,
obwohl sie dann einen Fehler eingestehen müssen.
Wenn Menschen umkehren,
weil sie erkannten, dass sie Unrecht taten.

Dass Gott uns so anrühren und bewegen kann,
dass uns das Schicksal anderer Menschen nicht gleichgültig ist,
sodass wir ihnen helfen möchten
und ihnen das gleiche Glück gönnen, das wir genießen:
ist ein viel größerer Beweis von Gottes Macht,
ein viel größeres Wunder als alle brennenden Dornbüsche,
geteilten Meere, geheilten Gelähmten
und vom Glauben versetzten Berge zusammen.
Denn das größte Wunder ist es doch,
wenn ein Mensch den andern sieht
und seinen alten Weg verlässt.  

So kommt es, das Glück:
Durch Menschen, die glauben
und sich in ihrem Glauben nicht beirren lassen
von dem Leid, das auch ihnen widerfährt.

Die den alten Worten der Bibel vertrauen,
den Hoffnungen und Träumen von einer neuen,
einer gerechten und friedlichen Welt,
auf Gerechtigkeit für alle Menschen.

Wer auf diese neue Welt Gottes hofft,
wird leiden, wie unsere Geschwister in der Welt,
wird Fehler machen, sich irren.
Gott aber wird nicht „Siehste!“ sagen.
Denn „der Gott aller Gnade, der uns berufen hat
zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus,
wird uns vollenden, stark machen,
uns Kraft verleihen und uns ein festes Fundament geben. 
Sein ist die Macht in Ewigkeit.”
Amen.

Samstag, 13. September 2025

Zuneigung

Predigt am Vorabend des 13.n.Trinitatis, 13.9.2025, über Markus 3,31-35:

Die Mutter und die Geschwister Jesu kommen
und stehen vor dem Haus, in dem er sich aufhielt.
Sie schickten jemanden zu ihm, dass sie ihn sprechen wollten.
Um ihn herum saß eine große Menge, und man sagte ihm:
Hey, deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draußen
und fragen nach dir.
Er antwortet ihnen:
Wer sind meine Mutter und meine Geschwister?
Und er blickte die, die um ihn im Kreis saßen,
der Reihe nach an und sagt:
Hier sind meine Mutter und meine Geschwister.
Denn wer den Willen Gottes tut,
der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.


Liebe Schwestern und Brüder,

- ach nein, das stimmt nicht.
Ich habe ja gar keinen Bruder.
Ich habe auch nur zwei Schwestern,
und die sind heute nicht hier.

Wie komme ich dazu, Sie als meine Schwestern und Brüder anzusehen
und Sie so anzusprechen: Liebe Schwestern, liebe Brüder?
Wir haben keine gemeinsamen Eltern, dass wir Geschwister,
kein gemeinsames Elternteil, dass wir Stiefgeschwister wären.
Wir sind auch nicht miteinander verwandt,
nicht einmal um drei Ecken.
Wie kann ich Sie dann als meine Geschwister ansehen?

Ich könnte es natürlich gar nicht so meinen.
„Liebe Schwestern und Brüder”, das ist eben so eine Floskel,
die man in der Kirche benutzt.
Wie man „Sehr geehrte Damen und Herren” sagt,
wenn man eine Rede im Bundestag hält,
ohne dass man der Meinung sein muss,
dass die so Angesprochenen
tatsächlich aller Ehren wert seien.
Im Gegenteil: es gehört sich,
dass man auch den politischen Gegner
bei einer solchen Rede
mit „Sehr geehrte Damen und Herren” anspricht.

Das wäre ganz schön verlogen,
wenn ich Sie „Schwestern und Brüder” nenne,
aber in Wirklichkeit gar nicht denke,
dass Sie meine Schwestern und Brüder sind.
Es gehört sich nicht für einen Pastor,
es gehört nicht in einen Gottesdienst:
Etwas zu sagen, was man gar nicht so meint.
Da gäbe es eine andere Möglichkeit:
Ich könnte Sie mit „liebe Gemeinde” anreden.
Das ist neutral, das kann man nicht anders verstehen.
Wobei man sich natürlich trotzdem fragen kann,
ob ich Sie als Gemeinde wirklich lieb habe
oder ob das auch nur so dahingesagt ist.

Gehen wir davon aus, dass ich meine, was ich sage,
wenn ich Sie mit „Liebe Schwestern und Brüder” anspreche.
Ich muss eine ganze Reihe von Voraussetzungen machen,
damit ich Sie so ansehen und anreden kann.
Und Sie teilen diese Voraussetzungen,
wenn Sie sich diese Anrede gefallen lassen.
Denn Sie könnten natürlich auch denken:
Was redet der da? Der ist doch nicht mein Bruder!

Indem Sie mir erlauben, Sie so anzusprechen,
gehen wir von gemeinsamen Voraussetzungen aus,
über die wir uns vorher nicht verständigt haben,
weil sie für uns selbstverständlich sind.
Trotzdem kann es nicht schaden,
sich darüber Gedanken zu machen,
welche Voraussetzungen das sind,
und ob man wirklich bereit ist, sie zu teilen.

Bevor wir jedoch über die Voraussetzungen nachdenken,
könnten Sie zunächst einmal fragen,
wie ich überhaupt dazu komme,
Sie als meine Schwestern und Brüder anzusehen,
wenn wir doch gar keine leiblichen Geschwister sind?
Die Antwort liegt natürlich auf der Hand;
wir haben sie gerade im Predigttext gehört.
Jesus hat es aufgebracht,
dass wir uns als Geschwister ansehen und anreden.

Er spricht von seinen Zuhörerinnen und Zuhörern
als seinen Geschwistern.
Und das sind auch wir.
Wenn wir das Evangelium hören, geschieht es,
dass wir uns angesprochen fühlen.
Schon allein durchs Zuhören gerät man in den Kreis derer,
die Jesus als seine Schwestern und Brüder bezeichnet.
Wir sitzen im Geist um Jesus herum,
während er uns der Reihe nach anblickt,
uns seine Schwestern und Brüder nennt.

Das ist seine Antwort an die,
die im Auftrag seiner leiblichen Familie gekommen sind,
um ihn nach draußen zu holen:
Weg von denen, die ihm zuhören,
hin zu denen, die wenige Verse vorher im Markusevangelium
von Jesus sagten: „Der spinnt!”

Dort heißt es:
Jesus ging in ein Haus.
Und wieder kam eine Menge zusammen,
sodass sie nicht einmal Brot essen konnten.
Als das seine Familie hörte,
kamen sie heraus, um ihn mitzunehmen.
Sie sagten: „Er spinnt!”

Jesus nimmt das seiner Familie ziemlich übel.
Er sagt den Leuten im Haus,
dass jede Sünde vergeben wird,
nur nicht die Lästerung gegen den Heiligen Geist.
Das ist zunächst auf die Pharisäer gemünzt,
die ihm unterstellten, er sei vom Teufel besessen,
mit dessen Hilfe er die Dämonen austreiben würde.

Aber ob man von jemandem sagt,
er sei vom Teufel besessen, oder „der spinnt”,
macht keinen großen Unterschied.
Seine Familie stellt sich damit auf die Seite der Lästerer.
Sie nehmen nicht ernst, was Jesus sagt und tut.
Sie halten ihn für übergeschnappt, für verrückt
und wollen ihn aus dem Verkehr ziehen.

Die erste Voraussetzung ist also,
dass wir Jesus ernst nehmen.
Mit anderen Worten: an Jesus glauben.
Wir halten das, was er sagt und tut, nicht für verrückt.
Wir glauben, dass es wahr ist,
und nehmen es uns zu Herzen.
Darum gehören wir in den Kreis seiner Zuhörerinnen und Zuhörer.
Wenn Jesus sie als seine Schwestern und Brüder anspricht,
sind auch wir gemeint.

Damit kommen wir zur zweiten Voraussetzung,
die mit der ersten zusammenhängt:
Jesus nennt die seine Schwestern und Brüder,
die den Willen Gottes tun.
Hier macht nun Jesus seinerseits eine Voraussetzung:
Das, was er sagt, ist Gottes Wille.
Für uns ist das selbstverständlich,
wir denken gar nicht darüber nach,
weil Jesus für uns der Sohn Gottes ist.
Aber seine Gegner sehen das anders.

Darum hängt die zweite Voraussetzung,
dass wir Jesu Geschwister sind,
mit der ersten Voraussetzung zusammen:
Dass wir Jesus anerkennen.
Anerkennen als den, der er zu sein behauptet:
Gottes Sohn, der den Willen des Vaters
sozusagen aus erster Hand kennt und tut.

Wenn wir Geschwister Jesu sein wollen,
müssen auch wir Gottes Willen tun.
Jesus fasst den Willen Gottes im „Höchsten Gebot” zusammen:
„Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
von ganzem Herzen, von ganzer Seele,
von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft,
und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst” (Markus 12,29-31)
Im Grunde sind es drei Gebote,
die durch die Liebe zusammengehalten werden:
Die Liebe zu Gott,
die Liebe zum Mitmenschen
und die Liebe zu sich selbst.

Die Liebe taucht auch in der Anrede auf:
„Liebe Schwestern und Brüder.”
Was kann damit gemeint sein?
Ich kann Sie unmöglich alle lieb haben.
Ganz abgesehen davon,
dass man nicht jeden Menschen mag
und sich nicht dazu zwingen kann,
jeden Menschen gern zu haben.

Die Liebe, von der hier die Rede ist,
kann man wohl am besten mit dem Wort „Zuneigung” zusammenfassen:
Zuneigung zu Gott, zum Mitmenschen und zu sich selbst.
Dabei steht nicht das Gefühl im Vordergrund,
das man bei der „Zuneigung” empfindet.
Sondern die Bewegung:
die Bewegung auf jemanden zu.
Auf Gott zu, auf den Mitmenschen, und auf mich selbst.

Wer sich Gott zuneigt,
bewegt sich in Richtung auf Gott hin.
Da man nicht sagen kann, wo genau Gott ist,
ist das eine Wendung nach innen.

Wer sich dem Mitmenschen zuneigt,
wendet sich anderen zu,
sieht sie an, sieht, wer sie sind und wie es ihnen geht
und empfindet dabei Respekt und Mitgefühl.

Und wer sich selbst zuneigt,
achtet auf seine Empfindungen und nimmt sie ernst:
Ob man müde ist oder hungrig,
ob man eine Pause braucht oder eine Umarmung.

So neigt sich Jesus seinen Zuhörerinnen und Zuhörern zu:
Er blickt jede und jeden in der Runde an,
als er sie als seine Schwestern und Brüder anspricht.
Sein Blick: Das ist seine Hinwendung, seine Zuneigung.

Als Gottes Sohn kann Jesus uns alle lieben,
jede und jeden von uns.
Als Gottes Sohn hat Jesus uns gern, so, wie wir sind;
er muss sich nicht dazu zwingen
und will uns nicht anders haben.

Als Gottes Sohn lehrt er uns,
Gott als „Vater” und „Mutter” anzusprechen,
weil wir alle Gottes Kinder sind.
Und als Gottes Kinder sind wir Geschwister Jesu,
seine Schwestern und Brüder.

Wenn ich Sie also „Schwestern und Brüder” nenne,
meine ich das auch so: Wir sind Geschwister.
Geschwister, weil wir alle an Jesus glauben -
und damit die erste Voraussetzung erfüllen.
Und weil wir Gottes Willen tun wollen -
die zweite Voraussetzung.

Und wir sind Geschwister,
weil wir alle Kinder Gottes sind.
Jede und jeder Einzelne von uns so geliebt,
wie nur Gott seine Menschenkinder lieben kann.

Sonntag, 7. September 2025

Blicke am schönen Tor

Predigt zum 12.Sonntag nach Trinitatis, 7.9.2025, über Apostelgeschichte 3,1-10


Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel

um die neunte Stunde, zur Gebetszeit.

Und es wurde ein Mann herbei getragen, lahm von Mutterleibe;

den setzte man täglich vor die Tür des Tempels,

die da heißt die Schöne,

damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.

Als er nun Petrus und Johannes sah,

wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen.

Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an!

Und er sah sie an und wartete darauf,

dass er etwas von ihnen empfinge.

Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht;

was ich aber habe, das gebe ich dir:

Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!

Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.

Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest,

er sprang auf, konnte gehen und stehen

und ging mit ihnen in den Tempel,

lief und sprang umher und lobte Gott.

Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben.

Sie erkannten ihn auch, dass er es war,

der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen

und um Almosen gebettelt hatte;

und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das,

was ihm widerfahren war.



Liebe Schwestern und Brüder,


„Blicke am schönen Tor”

könnte man diese Geschichte überschreiben.

„Blicke am schönen Tor:”

Was schwingt dabei nicht alles mit!

Zwei Augenpaare, die sich treffen, ineinander versinken.

Schönheit, die befangen macht, die fesselt,

man kommt nicht davon los.

Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft,

einer romantischen Liebesgeschichte.


Von all dem kann in der Geschichte

von der Heilung des Gelähmten keine Rede sein.

Und doch ist es eine Liebesgeschichte.

Das zeigt sich allerdings erst auf den zweiten Blick.


I

Von Blicken handelt diese Geschichte.

Blicke, die gewechselt werden zwischen dem Gelähmten,

der zum Betteln ans „schöne Tor” des Tempels hinausgetragen wurde,

und Petrus und Johannes.

Er war nicht zu übersehen, der Gelähmte am „schönen Tor”.

Der Kontrast könnte größer nicht sein:

Hier das prunkvoll verzierte „schöne Tor”, dort der Gelähmte.

Kein schöner Anblick, wie er da auf dem Boden saß, im Staub.

Nicht durchs Tor ging wie alle anderen,

die zum Gottesdienst wollten und laufen konnten.

Wer genauer hinsah, bemerkte seine verkrümmten Füße.


Das Andere fällt auf.

Das, was nicht so ist wie bei den meisten:

Ein Mensch mit einer anderen Hautfarbe fällt auf,

mit einem sichtbaren Muttermal.

Jemand mit einer Behinderung fällt auf,

die oder der sich anders bewegt, als man es erwartet.

Da guckt man hin, ganz ungewollt.

Ganz von selbst dreht sich der Kopf, starren die Augen,

bis man merkt, was man da tut, und den Blick verschämt abwendet.

Aber der oder die so Angestarrte hat es schon bemerkt.

Hat den Blick auf sich gefühlt,

der eine:n das Anderssein spüren lässt.


Wir kennen diesen Blick.

Wir kennen ihn aus eigener Erfahrung.

Vom Hinstarren auf Ungewohntes, Auffälliges, Anderes.

Und vom angestarrt Werden.

Wir kennen diesen Blick, wir haben ihn verinnerlicht.

Wir leben mit ihm, fühlen ihn jederzeit auf uns,

auch wenn niemand da ist, der uns ansehen könnte:

Der Blick, der uns taxiert, ob wir der Norm entsprechen.


Wir vergleichen uns mit den Vorbildern

aus den Social Media, aus dem Fernsehen, aus Zeitschriften:

Was trägt man, und was nicht?

Wie muss man aussehen, wie muss man sein,

um als „normal” zu gelten, um dazuzugehören?

Wir vergleichen unseren Körper mit Körpern,

die ebenmäßiger, schöner, gepflegter,

schlanker, trainierter, jünger erscheinen als unsere.

Und fallen dabei oft auf nachträglich bearbeitete,

„gefotoshoppte” Bilder herein.


II

Der Gelähmte aus unserer Erzählung sitzt am „schönen Tor” des Tempels.

Bis heute weiß niemand, wo dieses Tor lag,

wenn es das überhaupt gegeben hat.

Der Tempel in Jerusalem ist ja zerstört,

und nirgendwo sonst wurde der Name „schönes Tor” überliefert.

Vielleicht kam es Lukas, dem Erzähler unserer Geschichte,

gar nicht auf eine genaue Ortsangabe an,

sondern auf die Vorstellung, die sich mit dem Wort „schön” verknüpft.


Wie stellen wir uns den Bettler am schönen Tor vor?

In unserer Phantasie sehen wir keinen Adonis,

keinen strahlenden Jüngling,

sondern ein Häuflein Elend am Boden sitzen.

Sonst hätte er als Bettler keinen Erfolg.

Würde er kerngesund und gepflegt aussehen,

bekäme er nicht einmal eine Kupfermünze.


Das „schöne Tor”, das über ihm aufragt,

und der Bettler am Boden bilden einen Gegensatz.

Sein Anderssein, durch die Blicke der anderen aufgedeckt,

steht in starkem Kontrast zum schönen Tor,

das durch seine Schönheit besticht.

Was anders ist, ist nicht schön.


Was anders ist, ist nicht schön.

Man kann und muss diesem Satz widersprechen.

Auch und gerade das Andere ist schön.

Aber nicht auf den ersten Blick.

Der erste Blick erwartet das Gewohnte, das Bekannte

und stolpert sozusagen über das Ungewohnte.

Dem ersten Blick erscheint das Ungewohnte anders, fremd,

oft sogar befremdlich, und deshalb nicht schön.


Der zweite Blick entdeckt die Schönheit des Fremden.

Man muss erst den Mut finden, es zu sehen.

Bei etwas, das man noch nicht kennt, das man nicht versteht,

orientiert man sich am Geschmack der anderen,

der Mehrheit, oder der sogenannten „Experten”.

Man entdeckt bei sich die Tendenz, das schön zu finden,

was auch alle anderen schön finden

oder Autoritäten für „schön” erklären.


Das, was alle auf Anhieb schön finden,

was keinen Widerspruch oder Widerwillen erzeugt,

entpuppt sich meist als Kitsch oder, schlimmer noch,

als etwas durch und durch Spießiges.

Wie z.B. die Skulpturen des Künstlers Arno Breker,

der während der NS-Zeit dem „Herrenmenschen“,

den die Nazis phantasierten, eine Gestalt gab:

Makellose, muskulöse, übermenschliche Körper,

wie man sie heute in den Social Media

und in den verschiedenen Darstellungen von „Helden”

in Comics und Filmen findet.

Das war die offizielle Kunst des Hitlerstaates.

Alles andere war in den Augen der Machthaber

und der Massen, die ihnen nachliefen und anhingen, keine Kunst.


Wer nicht diesem Herrenmenschentum huldigte,

wer den Menschen in seiner Schwachheit, seinem Leiden,

seiner Gebrochenheit zeigte;

wer zeigen wollte, wie schön das Andere, Fremde, Befremdliche sein kann,

wurde für krank erklärt, als „entartet” diffamiert.

Solche Werke wurden neben den Bildern psychisch Kranker ausgestellt,

verspottet, und schließlich verboten.

Sie waren nicht „schön” im oberflächlichen Sinn.

Sie verunsicherten die Betrachter, man verstand sie nicht.

Das glatte, oberflächlich Schöne der Brekerschen Skulpturen

war dagegen so viel einfacher und eingängiger.


Heute ist der Geschmack nicht mehr gleichgeschaltet.

Heute sind alle Kunstrichtungen erlaubt.

Und doch, wenn man uns fragte, was wir als „schön” empfinden:

Würden wir da nicht auf die Mannequins in den Illustrierten verweisen,

auf die Film- und sonstigen Stars und die,

die auf TikTok und Instagram ihre makellosen,

schlanken oder durchtrainierten Körper zeigen?

Würden wir nicht von uns weg weisen,

die wir diese perfekten Körper in aller Regel nicht besitzen?

Und damit auch von denen weg weisen, die auf dieser,

von der Mode und der Werbung aufgestellten Skala,

das andere Ende markieren: den Menschen, die „anders“ sind?


III

Am „schönen Tor” werden Blicke gewechselt.

Petrus blickt den Bettler an.

Nicht heimlich und verstohlen, sondern ganz offen.

Er fordert den Bettler sogar auf, ihn und Johannes anzusehen,

den Blick zu erwidern: „Sieh uns an!”

Dieser Blick des Petrus ist anders

als das heimliche oder dreiste Beobachten und Begaffen


Wer einen anderen Menschen anstarrt,

betrachtet ihn wie einen Gegenstand.

Man empfindet das als unangenehm.

Fühlt sich von den Blicken anderer geradezu ausgezogen.

Hat das Gefühl, dass der Körper taxiert wird wie ein Stück Fleisch.

Petrus dagegen taxiert nicht, sondern sucht den Kontakt.

Er ignoriert die Oberfläche und nimmt den Menschen wahr:

den Menschen, wie er da vor ihm im Staub hockt.

Er starrt nicht auf seine unnormalen, verkrümmten Füße.

Er blickt ihm in die Augen.


Der Beobachter, der Gaffer will nicht wirklich etwas vom anderen wissen.

Er schaut nur hin, weil der andere anders ist.

Petrus sieht hin und nimmt Kontakt auf.

Damit bleibt der andere kein Fremder, er wird Mitmensch.

Der Bettler weiß das zu würdigen, erwidert den Blick,

wenn auch zunächst in der Hoffnung, etwas Geld zu bekommen.

Petrus weiß das und rechtfertigt sich sogar,

dass er ihm das Erhoffte, ein Almosen, nicht geben kann.

Er hat viel mehr zu geben.

Mehr, als der Bettler sich jemals erträumte.

Mehr als die größte Gabe, die er und wir uns vorstellen können,

Silber und Gold.

„Silber und Gold habe ich nicht”, sagt Petrus;

„was ich aber habe, das gebe ich dir.”


Da passiert etwas zwischen den beiden, als ihre Blicke sich treffen.

Im Film „Casablanca” sagt Rick zu Elsa:

„Ich schau dir in die Augen, Kleines.”

Dem „kleinen Prinzen” erzählt der Fuchs beim Abschied,

er habe ihn „gezähmt”.

Wie immer man es nennen will:

Sich in den Augen eines anderen zu spiegeln,

ist etwas ganz besonders Schönes und Wertvolles,

mehr wert als Silber und Gold.


Und hier geschieht noch mehr:

Der Gelähmte wird nicht nur als Mitmensch wahrgenommen,

darf sich nicht nur in den Augen von Petrus spiegeln;

er wird geheilt.

Ein Wunder geschieht. Seine verkrümmten Füße strecken sich.

Er kann stehen und dann sogar „springen wie ein Hirsch” (Jes 35,6).


IV

Das ist der Moment,

wo man aus dieser Geschichte springen oder fallen kann.

Ein Wunder - zu schön, um wahr zu sein!, denkt man.

Mag sein, dass heute nicht mehr die Zeit für Wunder ist.

Mag sein, dass dieses Wunder vor allem erzählt wurde,

um deutlich zu machen: Die Sache Jesu geht weiter,

und das Reich Gottes, das er ankündigte,

beginnt tatsächlich unter uns anzubrechen.


Vielleicht aber geschah wirklich ein Wunder.

Ein Wunder, das in dem Namen besteht, den Petrus nennt:

„Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!”


Petrus gibt dem Gelähmten den Namen Jesu Christi.

Und er, Jesus, bewirkt das Wunder seiner Heilung.

Was aber ist es, das Petrus ihm damit gibt?


Im Namen Jesu Christi werden Aufmerksamkeit und Zuwendung,

die Petrus diesem Menschen schenkt,

zur Aufmerksamkeit und Zuwendung Jesu selbst.

Mit den Blicken des Petrus blicken Jesu Augen

voller Liebe den Gelähmten an.

Durch Petrus erfährt und erlebt der Gelähmte,

dass Gott ihm nah ist und ihn liebt.

Erfährt es nicht als Information

wie das auf die Straße gesprühte „Jesus liebt dich”.

Sondern als Tat: durch die Zuwendung,

zu der Petrus von Jesus bewegt wurde.

Im Hinsehen und in-die-Augen-Sehen,

das so anders ist als das unbeteiligte Starren und Gaffen,

das so viel mehr wert ist als Gold und Silber,

und das so gut tut.


V

„Blicke am schönen Tor” -

auf den ersten Blick eine Wundergeschichte,

die uns nicht mehr anzugehen scheint,

weil die Zeit der Wunder vorüber ist.

Auf den zweiten Blick wird sie zu einer der unzähligen Geschichten,

die von der Liebe Gottes zu uns Menschen erzählen.

Einer Liebe, die uns bedingungslos annimmt, wie wir sind.

Die unsere Schönheit erkennt

und uns selbst erkennen lassen will.

Einer Liebe, die uns lehren will,

unser Anderssein zu schätzen,

auf dass wir die anderen und ihr Anderssein zu schätzen lernen

und ihnen im Namen Jesu die Liebe schenken, die sie verdienen.