Predigt am 19. Sonntag nach Trinitatis, 26.10.2025,
im Kantatengottesdienst “Singet dem Herrn ein neues Lied”, BWV 190
zur Verabschiedung von Jan Ernst als Domkantor
Liebe Schwestern und Brüder,
„singet dem Herrn ein neues Lied”,
so der Titel der Kantate, die wir gerade hörten,
und so sang und wiederholte es der Chor viele Male:
„Singet dem Herrn ein neues Lied”
Doch ein neues Lied kann man die Kantate beim besten Willen nicht nennen.
Bereits am 1. Januar 1724 erklang sie erstmals im Gottesdienst.
Mit 300 Jahren auf dem Buckel ist Bachs Musik alles andere als neu.
„Klassische Musik” sagt man dazu;
manch eine:r hört diesen Begriff als Euphemismus für „antiquiert”.
Die Kantate befindet sich für uns also in einer Spannung,
einer Spannung zwischen Alt und Neu:
das „neue Lied”, das sie im Titel trägt, trägt sie in einer Weise vor,
die nicht dem entspricht, was wir heute unter „neuer Musik” verstehen.
Deshalb klingt sie für uns „alt” - selbst für diejenigen unter uns,
die Fans „klassischer” Musik sind.
Die Spannung zwischen Alt und Neu
findet sich auch in dem Anlass wieder,
zu dem Bach die Kantate komponiert hat: Dem Neujahrstag.
Er hat etwas Janusköpfiges:
Er blickt auf das alte Jahr zurück und feiert den Beginn des Neuen.
Alt und Neu tauchen in der Kantate an vielen Stellen auf:
Im 2. Satz, wo der Bass das neue Jahr besingt,
der Tenor auf das vergangene zurückblickt
und der Alt Gottes Vatertreue lobt,
die mit dem Alten Jahr nicht ans Ende gekommen ist,
sondern jeden Morgen neu wird, ein Leben lang.
Im 5. Satz singen Tenor und Bass von Jesus, der Anfang ist und Ende,
wie er es von sich selbst sagt: „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende.”
Jesus ist das auch für mich: „Jesus soll mein Anfang bleiben,”
Weil Jesus mein Anfang ist,
muss ich die Bedingungen für einen Neuanfang nicht selbst schaffen
und muss auch nicht warten, bis z.B. der Ruhestand eintritt.
Ich kann jederzeit von vorn anfangen.
Jeden Tag, jeden Moment kann etwas neu und anders werden.
Und weil Jesus mein Ende ist,
brauche ich das Ende nicht zu fürchten,
muss vor dem Tod keine Angst haben,
denn „Jesus macht mein Ende gut.”
Die Spannung zwischen Alt und Neu,
Anfang und Ende prägt auch unseren Gottesdienst.
Wir verabschieden heute unseren Kantor Jan Ernst.
Für ihn beginnt in wenigen Tagen ein neuer Lebensabschnitt,
auf den er sich freut, während uns große Dankbarkeit erfüllt
und uns deshalb eher zum Heulen zumute ist.
Und gleichzeitig ist dieser Gottesdienst heute für Dich, Jan,
der Abschied von einem Amt, das Du 32 Jahre mit Liebe zur Musik,
zu den Menschen dieser Gemeinde und zum Dom ausgefüllt hast.
Wir werden immer deine Gemeinde, und dies wird immer dein Dom bleiben.
Aber nun nicht mehr als Domkantor, sondern als einfaches Gemeindeglied,
während wir am kommenden Sonntag den neuen Domkantor Christian Domke
hier in einem Gottesdienst begrüßen.
Eine solche Spannung wie die zwischen Abschied und Neubeginn,
Trauer und Freude, Anfang und Ende nennt man „Ambivalenz”.
Ambivalenzen lassen sich schwer aushalten.
Man möchte sie nach einer Seite hin auflösen.
Möchte diese Spannung nicht mehr empfinden.
Aber man kann sie nicht auflösen, und man soll es auch nicht.
Sie machen den Reiz unseres Lebens aus,
sie sind ein Zeichen von Lebendigkeit.
Ambivalenzen finden sich auch in Bachs Musik:
Im festlichen Eingangssatz mit Pauken und Trompeten
singt der Chor plötzlich unisono: „Herr Gott, dich loben wir!”
Man erschauert bei diesem Umschlag der Musik.
Ein heiliger Schauer, der uns da ergreift.
Er weist auf den hin,
um dessentwillen Bach diese Kantate geschrieben hat;
den Du, Jan, mit deiner Musik zu Wort kommen lassen wolltest
und in dessen Namen wir heute hier versammelt sind:
Den dreieinigen Gott.
Alt und Bass stellen ihn uns im 3. und 4. Satz
als Vater, Sohn und Heiliger Geist vor.
Ihm ist alle Musik, ihm ist das neue Lied gewidmet.
Denn das vergisst man leicht:
1724 war Bachs Kantate topaktuell.
Das Allerneueste, was man damals in Leipzig an Musik erleben konnte.
Aber warum tun wir das, Gott loben?
Braucht Gott etwa Unterhaltung?
Ist es ihm im Himmel zu langweilig,
oder ist ihm das ewige „Halleluja” der Engel zu eintönig?
Wenn man sich Gott als alten Herrn mit Bart vorstellt,
mag man auf solche Gedanken kommen.
Aber das Lob Gottes besteht nicht darin,
dass wir ihm schmeicheln oder ihm schöne Lieder vorsingen.
Gott wird dadurch gelobt,
dass wir uns eingestehen, anerkennen und öffentlich bekennen,
dass wir ohne Gott nicht leben wollen und nicht leben können:
Gott steht am Anfang unseres Lebens;
ihm verdanken wir es.
Er ist die Mitte, um die unser Leben kreist,
die unser Leben hält und erhält.
Und er steht an seinem Ende,
das bei Gott ein neuer Anfang sein wird.
So singen es Bass und Tenor in ihrer Arie:
„Jesus soll mein Alles sein.”
So bekennt es der Bass in seinem Rezitativ:
Jesus ist „meiner Seelen bestes Teil”,
Grund meiner Freude, meines Trostes und meines Heils.
So klingt es auch im neuen Lied,
wie dem Gospel „Jesus is my salvation”:
< Flashmob Jugendkantorei >
Da bekommt man eine Gänsehaut.
Das macht die Musik mit einem:
Sie ergreift, rührt zu Tränen, erschüttert,
macht fröhlich und überschwänglich.
Was wir mit Worten nur mühsam zum Ausdruck bringen:
„Dass Jesus meine Freude,
mein treuer Hirt, mein Trost und Heil
und meiner Seelen bestes Teil” sei,
vermittelt die Musik scheinbar mühelos.
Dennoch braucht die Musik auch Worte.
Sonst wüssten wir mit den Gefühlen,
die sie in uns erregt, nichts anzufangen.
Sie füllt die Worte mit Leben.
Wir müssen nicht darüber nachdenken, was sie bedeuten.
Wir fühlen unmittelbar, was gemeint ist.
Die Musik hilft uns, die Ambivalenzen auszuhalten.
Sie spielt mit ihnen und macht sie für uns fruchtbar.
Wir müssen sie nicht auflösen,
wir können sie nebeneinander stehen lassen,
die Trauer und die Freude,
den Abschied und den Neuanfang,
den Anfang und das Ende.
Sie schließen sich nicht aus, sie ergänzen einander.
Wir begreifen, dass das Ende auch ein Anfang ist,
und dass unser Leben davon geprägt ist:
„Deine Vatertreu hat noch kein Ende,
sie wird bei uns noch alle Morgen neu.
Drum sagen wir lebenslang
mit Mund und Herzen Lob und Dank.”
Das Lob Gottes lässt uns die Ambivalenzen des Lebens,
lässt uns das Leben selbst aushalten und genießen.
Dieses Lob geschieht immer wieder neu,
auch wenn wir es mit den alten Worten
und den alten Melodien einer Kantate Johann Sebastian Bachs singen.
Durch uns wird daraus ein neues Lied.
Denn so, wie wir es singen, erklang es noch nie;
so können nur wir es singen und mit Leben füllen.
Lieber Jan, du hast eine ganze Generation gelehrt,
Gottes Lob zu singen und zu musizieren.
Du hast die Worte der Choräle, Messen, Oratorien,
Motetten, Passionen und Kantaten mit Leben gefüllt
und dich von ihnen tragen lassen.
So hast du uns vorgelebt, dass wir ihren Worten trauen können
und dass die Musik uns dabei hilft, das Leben zu bestehen.
Wir singen weiter neue Lieder mit alten und neuen Melodien.
Wir tragen das Lob Gottes in die nächste Generation
und hoffen, dass du hin und wieder
und noch viele Jahre mit uns singst.