Samstag, 2. April 2011

Kannibalismus

Predigt am Sonntag Lätare, 3.4.2011, über Johannes 6,55-65: 

Jesus sprach: Mein Fleisch ist wahre Speise, und mein Blut ist wahrer Trank. 
Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, bleibt in mir und ich in ihm. 
Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und ich durch den Vater lebe, 
so wird auch durch mich leben, wer mich isst. 
Dies ist das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. 
Und mit diesem Brot ist es nicht wie mit dem, 
das die Väter gegessen haben und gestorben sind; 
wer dieses Brot isst, wird in Ewigkeit leben. 

Das sagte er in der Synagoge, als er in Kafarnaum lehrte. 
 Viele nun von seinen Jüngern, die das hörten, sagten: 
Dieses Wort ist unerträglich, wer kann sich das anhören? 

Weil aber Jesus sehr wohl wusste, dass seine Jünger darüber murrten, 
sagte er zu ihnen: 
Daran nehmt ihr Anstoss? 
Was aber, wenn ihr den Menschensohn hinaufgehen seht, 
dorthin, wo er vorher war? 
Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts. 
Die Worte, die ich zu euch geredet habe, sind Geist und sind Leben. 
Doch es sind einige unter euch, die nicht glauben. 
Jesus wusste nämlich von Anfang an, 
welche es waren, die nicht glaubten, 
und wer es war, der ihn ausliefern sollte. 
Und er sprach: Darum habe ich euch gesagt: 
Niemand kann zu mir kommen, dem es nicht vom Vater gegeben ist. 


Liebe Gemeinde, 

„Jesus sprach: Mein Fleisch ist wahre Speise, 
und mein Blut ist wahrer Trank. 
Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, 
bleibt in mir und ich in ihm. 
Viele von seinen Jüngern, die das hörten, sagten: 
Dieses Wort ist unerträglich, wer kann sich das anhören?” 

Ja, wer kann sich das anhören? 
Das Fleisch eines Menschen essen, Menschenblut trinken 
- eine zu recht unerträgliche Vorstellung! 
Kannibalismus, das Schlachten und Essen der eigenen Artgenossen, 
ist zum Glück noch eines der wenigen Tabus, das zu brechen unvorstellbar ist. 
Davon lebt die Spannung und der Horror in Filmen wie „das Schweigen der Lämmer”. 
 Kannibalismus - unerträgliche Vorstellung 
oder Relikt aus düsteren, unzivilisierten Gesellschaften. 
Unerträglich, wenn man es sich vorstellen soll.

Und trotzdem kommt Kannibalismus auch in unserem Alltag vor. 
Ich meine den symbolischen Kannibalismus, 
der sich in Aussprüchen zeigt wie „Ich habe dich zum Fressen gern” 
oder „sich nach jemandem verzehren”. 
 Das ist natürlich nicht wörtlich gemeint. 
Wer so etwas gesagt bekommt, muss nicht befürchten, 
demnächst Besuch von Hannibal Lector zu bekommen. 
 Im Gegenteil: eine romantische Vorstellung, dass sich jemand nach mir verzehrt! 
Wenn man dadurch Pfunde verlieren könnte, 
wir hätten wohl eine neue Blüte der Romantik zu erwarten ... 
Ebenso ist es eine durchaus lustvolle Vorstellung, 
von jemandem, der einen „zum Fressen gern” hat, liebevoll angeknabbert zu werden ... 
solange er oder sie nicht tatsächlich zubeißt! 

 Der symbolische Kannibalismus kann aber auch bedrohlich werden. 
Dann nämlich, wenn man feststellt, 
dass man von der Arbeit aufgefressen wird. 
„Die Arbeit frisst mich auf” - wer zu diesem Schluss kommt, 
fühlt sich durch die Arbeit in seiner Gesundheit, seinem Wohlbefinden bedroht. 
Solche Phasen erleben viele im Laufe ihrer Berufstätigkeit. 
Manche Menschen aber werden tatsächlich von ihrer Arbeit aufgefressen 
- oder den Folgen ihrer Arbeit. 
Ich denke an die sog. „Liquidatoren” von Tschernobyl, 
die bei den Arbeiten zur Versiegelung des explodierten Kernreaktors schwer verstrahlt wurden 
und an den Folgen starben. 
Ich denke an die Arbeiter in Fukushima, 
die beim Versuch, radioaktiv verseuchtes Wasser abzupumpen, 
Verbrennungen an den Füßen erlitten 
- und womöglich weitere Folgen der Verstrahlung erleiden werden. 
Ich denke aber auch an die Soldaten, 
die in Afghanistan in Sprengfallen oder Hinterhalten verletzt werden oder ums Leben kommen, 
denke an die Arbeiter in den chinesischen Kohlegruben, 
die in den unsicheren Stollen täglich ihr Leben riskieren - und verlieren. 
Menschen, die ihr Leben opfern, oder deren Leben geopfert wird. 
Menschen, die von ihrer Arbeit verzehrt werden. 

Hat das etwas mit Kannibalismus zu tun? 
Die Menschen kommen ums Leben, aber sie werden ja nicht aufgegessen. 
Ihr Körper dient zwar nicht als Nahrung, aber, bildlich gesprochen, werden sie dennoch verzehrt. 
Wenn Menschen geopfert werden - oder sich opfern müssen, 
hängt etwas von ihrem Blut an dem, wofür sie sich geopfert haben. 
An chinesischer Kohle klebt das Blut der Bergarbeiter; 
im Golfkrieg lautete der Ruf der Kriegsgegner: Kein Blut für Öl! 
Menschenleben werden verzehrt, verbraucht, geopfert, 
um die Energieversorgung, den Zugang zu Rohstoffen, 
um Handelswege oder Wirtschaftsinteressen zu sichern. 
Und da wir alle in unserem wirtschaftlich so erfolgreichen Land davon profitieren, 
dass indische Kinder unseren Computerschrott entsorgen, 
Chinesinnen unsere Kleidung, iPhones und IKEA-Möbel für einen Hungerlohn produzieren 
und die für unsere Wirtschaft so wichtigen Rohstoffe 
ohne große Rücksichtnahme auf die Umwelt 
und die Auswirkungen auf die Bevölkerung 
aus der afrikanischen Erde geschürft werden, 
klebt an all diesen Dingen ein Tropfen Blut der Menschen, 
die dafür geopfert wurden.

„Jesus sprach: Mein Fleisch ist wahre Speise, 
und mein Blut ist wahrer Trank. 
Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, 
bleibt in mir und ich in ihm.” 
 Auch am Abendmahlsbrot klebt Blut, 
und der (Wein) Traubensaft beim Abendmahl ist das Blut Jesu selbst. 
Es ist Blut eines Menschen, der geopfert wurde, 
der einen erbärmlichen und qualvollen Tod starb am Kreuz. 
Jesus wurde geopfert, aber er opferte sich freiwillig. 
Sein Blut klebt nicht als Fluch an Brot und Wein, 
nicht als Mahnung und Erinnerung an eine Schuld. 

Im Gegenteil: 
Jesus hat das Brot, das lebenswichtig, das ein Lebensmittel für uns ist, 
durch sein Blut zum Lebensspender gemacht: 
 Es gibt ewiges Leben. 
Jesus hat den (Wein) Traubensaft, der ein Genussmittel ist, Geselligkeit und Freude schafft, 
durch sein Blut zum Grund unseres Glücks gemacht: 
 Er bedeutet Vergebung und Neubeginn. 

Am Brot und (Wein) Traubensaft beim Abendmahl klebt kein Blut, sondern Leben. 
Jesus gibt dieses Leben - Jesus gibt sich selbst -,
wenn wir vom Brot essen und aus dem Kelch trinken. 
 Aber muss das denn sein? 
Reicht es nicht aus, ein Brot auf den Altar zu legen 
und ein Glas Wein dazuzustellen, 
um auf dieses Symbol hinzuweisen? 
Warum müssen wir denn auch noch davon essen und trinken? 

Wir essen und trinken, damit das Leben für uns Wirklichkeit wird. 
Sie können einem Kind hundertmal sagen, 
dass Messer, Gabel, Schere, Licht gefährlich sind. 
Solange es das nicht am eigenen Leibe gespürt hat, 
wird es das nicht verinnerlichen. 

Ebenso ist es mit der Liebe: 
Man muss wenigstens einmal im Leben verliebt gewesen sein, 
um zu ermessen, was Liebe ist und bedeutet 
- allein davon zu reden oder zu lesen, 
kann niemals einen Eindruck davon vermitteln, 
welche Macht die Liebe hat, 
und welche Macht sie ist. 

Wir essen den Leib Christi und werden gewiss, 
dass auch uns ewiges Leben erwartet. 
Wir trinken das Blut Christi und wissen, 
dass Gott uns vergibt und uns jetzt einen neuen Anfang ermöglicht.

Unsere Gesellschaft opfert Menschen - wir opfern Menschen. 
Wir leben notwendigerweise auf Kosten anderer. 
Unsere Freiheit und unser Wohlstand sind nicht möglich 
ohne den Mangel, den Verzicht, die Entbehrung, die andere dafür erleiden. 
Die Reichtümer unserer Erde sind nicht so groß, 
dass für alle beliebig viel da wäre, 
sondern wenn einer mehr davon haben will, 
muss der andere sie hergeben. 
Wenn das Opfern von Menschen aufhören soll, 
werden wir alle nicht so viel besitzen können, wie wir wollen; 
werden wir alle bereit sein müssen, uns einzuschränken, zu verzichten. 

Es ist nicht anzunehmen, dass wir dazu in der Lage sind. 
Jesus hat sich geopfert und uns damit Leben und Glück in grenzenloser Fülle geschenkt. 
Man kann seine Gaben, das Brot des Lebens und den Kelch der Vergebung, 
niemals aufbrauchen oder ausschöpfen. 
Bei jeder Abendmahlsfeier findet eine wunderbare Brotvermehrung statt; 
aus ein paar Brocken wird Nahrung im Überfluss für alle. 

Jesus hat sich geopfert, damit wir satt werden an dem, 
was wir zum Leben wirklich brauchen: 
echtes Leben, das von Leid, Schmerz und Tod nicht vernichtet werden kann, 
das ewige Leben. 
Und Vergebung, die uns aufrechten Hauptes durchs Leben gehen lässt, 
uns ermöglicht, Erfahrungen zu sammeln, Fehler zu machen 
- und jederzeit mit uns und unseren Mitmenschen neu anzufangen. 

Weil Jesus uns echtes Leben gibt, 
können wir von dem abgeben, was nicht lebenswichtig ist. 
Was wir so dringend zu brauchen meinen, 
was aber, wenn wir’s uns recht überlegen, 
überhaupt nicht wichtig ist: Geld. Besitz. Erdbeeren und Spargel im Dezember. 
Freie Fahrt für freie Bürger, und einen Zweitwagen dazu. 
Strom ohne Ende, Wasser nicht nur für Dusche und Klo, 
sondern auch für Pool und Rasen. 
Treibstoff aus Nahrungsmitteln, 
Fleisch und Brot, Eier und Milch zu Schleuderpreisen. 
All das brauchen wir nicht wirklich dringend. 
Wir könnten uns da einschränken, wenn wir wollten, könnten verzichten 
- und würden es womöglich nicht einmal bedauern. 
Wir könnten viel mehr abgeben, 
viel mehr mit anderen teilen, 
ohne wirklich Wichtiges zu verlieren: 
 Das, was unser Leben glücklich und lebenswert macht. 
Im Gegenteil: Das gäbe es dabei zu gewinnen. 
 Dann könnte der sprichwörtliche Kannibalismus auf unserer schönen Erde, 
das Opfern und geopfert Werden, 
tatsächlich eines Tages beendet sein. Amen.