Samstag, 25. Juni 2011

sich klein machen

Predigt am Johannistag, 24.6.2011, über Johannes 3,22-30:

Danach kam Jesus und seine Jünger in das judäische Land, dort hielt er sich mit ihnen auf und taufte.
Johannes aber taufte in Ainon nahe bei Salem, denn dort gab es viele Gewässer, und sie kamen und ließen sich taufen; denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen worden.
Es enstand nun eine Auseinandersetzung von seiten der Jünger des Johannes mit einem Juden über die Reinigung. Und sie kamen zu Johannes und sprachen zu ihm: "Rabbi, der mit dir war am anderen Ufer des Jordan, dem du Zeugnis gabst, siehe, der tauft, und alle kommen zu ihm."
Johannes antwortete und sprach: "Ein Mensch vermag auch nicht ein Ding zu nehmen, wenn es ihm nicht vom Himmel gegeben wird. Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: 'Ich bin nicht der Christus', vielmehr habe ich gesagt: 'Ich bin ein Bote vor jenem her'.
Wer die Braut hat, ist der Bräutigam; der Trauzeuge aber, der dasteht und ihn hört, freut sich sehr über die Stimme des Bräutigams. Diese meine Freude nun ist erfüllt. Er muss zunehmen, ich aber abnehmen."


Liebe Gemeinde,

"Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute!
Denn herein kommt der Bräutigam,
viel größer als sonst große Leute."


So schreibt die griechische Dichterin Sappho, eine Kollegin von Homer, 600 Jahre vor Christus.
"Hebt den Dachbalken hoch!"
Am Tag der Hochzeit wächst jede Braut, jeder Bräutigam weit über sich hinaus, vor Stolz, vor Freude, vor Glück.
An diesem Tag ist jeder ein Star, mag er sich sonst auch klein und unbedeutend fühlen, mag er den gängigen Vorstellungen von Schönheit auch sonst nicht entsprechen. Selbst für einen Bräutigam vom Format Nicolas Sarkozys ist an diesem Tag jede Tür und jeder Dachbalken zu niedrig, so stolz schwillt ihm die Brust, so hoch trägt er sein Haupt - zu recht: Am Tag der Hochzeit wird das Brautpaar gefeiert, und nur Schufte missgönnen ihnen das Glück, nur böswillige Menschen machen sich lustig über die Körpergröße des Bräutigams, den die Braut heute so bewundert.

Für die meisten Menschen ist der Tag der Hochzeit einer der wenigen Tage im Leben, an denen sie im Mittelpunkt des Interesses stehen wie sonst nur Berühmheiten, Politiker und Stars; an denen sie gefeiert werden und mit Geschenken und guten Wünschen überhäuft.

Die meiste Zeit muss man anderen den Vortritt lassen. Meistens sind andere wichtiger, stehen oder sitzen in der ersten Reihe, blicken einem aus der Zeitung entgegen, bekommen den Preis, die bessere Stelle, den schöneren Mann, die klügere Frau, die begabteren Kinder, den braveren Hund.

II
So geht es auch Johannes: Er hat als erster getauft, er hat's erfunden, sozusagen, und war als Täufer sehr erfolgreich und beliebt. "Es ging zu ihm hinaus das ganze jüdische Land und alle Leute von Jerusalem", heißt es bei Markus (1,5).
Und dann kommt Jesus, den er getauft hat, macht es ihm nach - und ist viel erfolgreicher als er. So sehr, dass es Streit gibt. Streit darüber, welche Taufe reiner wäscht, seine, oder die des Johannes. Kein Wunder, dass das die Jünger des Johannes empört: Sie stehen hinter ihrem Meister und misstrauen diesem Emporkömmling, der ihnen alles nachmacht und ihnen den Ruhm stiehlt.

Solche Erfahrungen macht wohl jeder einmal. Sei es in der Schule, wo der Klassenkamerad die Hausaufgabe abschreibt und dann das Lob des Lehreres für die gute Arbeit einheimst. Oder bei der Arbeit, wo jemand eine Idee abkupfert und damit reüssiert. Man empfindet es als ungerecht, wenn ein anderer für eine Arbeit, für eine Idee gelobt wird, die doch die eigene war.

Johannes aber empfindet das nicht so. Im Gegenteil, er sieht darin einen höheren Willen am Werk, für ihn ist es Fügung, oder Schicksal, dass es so kommt, wie es kommen muss: "Er muss zunehmen, ich aber abnehmen."
Das klingt, als hätte sich einer in sein Schicksal ergeben: Der andere ist nun mal stärker, besser, erfolgreicher als ich. Dagegen komme ich nicht an. Was soll ich mich aufregen - so ist es nun mal.

Johannes aber geht damit anders um als seine Jünger, er geht einen Schritt weiter: Er ist einverstanden. Und freut sich sogar. So, wie sich der Trauzeuge über das Glück des Bräutigams freut. Er ist, um mit den Worten Sapphos zu sprechen, der, der den Zimmerleuten zuruft, den Dachbalken anzuheben für den Bräutigam - wenn er nicht sogar selbst mit anfasst, um ihn hochzustemmen.

III
Das ist die Hohe Kunst der Selbstverleugnung. So haben sich über Jahrhunderte Ehefrauen dreingefügt, dass ihr Ehemann Karriere machte - eine Karriere, zu der auch sie in der Lage gewesen wären, vielleicht sogar besser noch als ihr Mann. Aber sie durften nicht, damals, es war ihnen verwehrt. So blieb ihnen nur, sich nolens, volens mit ihrem Mann zu freuen und ihn nach Kräften zu unterstützen: "Er muss zunehmen, ich aber abnehmen." - Nicht selten bestand ihre Unterstützung auch darin, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes abnahmen, um neben ihrem Mann eine gute Figur zu machen.

Und so fügen sich auch Eltern drein, wenn ihre Kinder Möglichkeiten nutzen und Wege gehen, die ihnen noch verschlossen waren - weil ihren Eltern das Geld für eine Ausbildung fehlte; weil sie nicht die weiterführende Schule besuchen durften, sondern arbeiten mussten; weil die Familie, die Tradition oder andere äußere Umstände sie daran hinderten, wegzugehen und ihr Glück zu suchen.
Bis heute verzichten Eltern zugunsten ihrer Kinder auf vieles, damit sie es einmal besser haben sollen, damit sie das verwirklichen können, was ihre Eltern sich für sie wünschen oder ihnen von Herzen gönnen.
"Er muss zunehmen, ich aber abnehmen." - Auch Eltern sind notgedrungen Meister der Selbstverleugnung, wenn es um ihre Kinder geht.

Aber gerade das Beispiel der Eltern zeigt auch, dass trotz aller Selbstverleugnung wahre Freude am Erfolg, am Glück anderer möglich ist. Eltern sind stolz, wenn ihre Kinder etwas aus ihrem Leben machen, wenn sie Erfolg haben, etwas leisten, bekannt oder sogar berühmt werden. Sie sind stolz, wenn ihre Kinder es schaffen, ihren eigenen Weg zu gehen - auch und gerade dann, wenn er nicht geradewegs ins Olymp führt, sondern manchen Umweg, manche Durststrecke beinhaltet.
Sie sind stolz, weil sie ihre Kinder über alles lieben.
Die Liebe gönnt dem anderen den Erfolg, die Freude, das Glück, auch wenn man einen leisen Stich verspürt, der einem sagt: Das hätte ich auch gern gehabt.
Die Liebe freut sich mit, weil sie dem anderen alles Gute gönnt und alles Gute wünscht.

IV
"Ihr selbst seid meine Zeugen, dass ich gesagt habe: 'Ich bin nicht der Christus', vielmehr habe ich gesagt: 'Ich bin ein Bote vor jenem her'."

Mathis Gothart Grünewald 024

Johannes der Täufer ist Vorläufer, Wegbereiter für Christus. Er macht sich selbst klein, damit der andere groß werden kann. Wie Matthias Grünewald es auf dem Isenheimer Altar darstellt, zeigt Johannes der Täufer mit dem Finger auf Christus, damit sich alle Blicke, alles Interesse auf ihn richten sollen.
Aber wenn Sie sich das Bild vor Augen halten: Da steht neben dem Kreuz Johannes der Täufer und zeigt mit einem langen Zeigefinger auf den Gekreuzigten. Er lenkt den Blick von sich auf Christus. Und ist doch auch selbst auf dem Bild. Ja, mehr noch: Matthias Grünewald, der Maler, hat sich selbst in der Gestalt des Täufers neben Christus verewigt. Indem er sich klein macht, um ihn, den Christus, groß zu machen, wird er selbst groß. Oder, um es noch etwas deutlicher zu sagen: Erst indem er von sich selbst weg auf Christus weist, zeigt sich seine wahre Größe.

Dazu gibt es eine Parallele.
Im Magnificat, dem Loblied Marias, das in der Vesper seinen festen Ort hat, heißt es:
"Meine Seele erhebt den Herrn
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes.
Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskind."
(Lukas 1,47-48)

Maria erhebt den Herrn und bekennt damit ihre Niedrigkeit.
Sie macht sich klein - so klein, wie sich das Geschöpf neben dem Schöpfer ausnimmt.
So kann Gott sie aufrichten. Gott sieht sie an, obwohl sie so klein ist, und lässt sie ganz groß werden - so groß, dass bis heute von ihr gesprochen wird.

Kein Wunder, werden sie jetzt einwenden, sie hat ja auch Jesus zur Welt gebracht. Sie ist eine Ausnahmeerscheinung, nicht die Regel.
Ebenso, wie Johannes eine ganz besondere Person ist, ein Prophet, ein Heiliger, kein Mensch wie Sie oder ich.

Aber das stimmt nicht.
So, wie durch Maria Gottes Sohn zur Welt kommt,
so kommt er heute auch durch uns zur Welt.
Wie Johannes dem Herrn den Weg bereitet,
so bereiten wir ihm heute den Weg.

V
Jesus kommt durch uns zur Welt.
Das ist ein provozierender Gedanke.
Aber wenn Sie daran denken, dass Jesus als das Wort bezeichnet wird, das von Anbeginn der Schöpfung an da war, und dass die Kirche der "Leib Christi" genannt wird, dann erscheint der Gedanke vielleicht nicht mehr so abwegig.
Jesus ist Gottes Wort, das im Anfang da war und das im Evangelium zur Guten Nachricht für alle Menschen wird. Sie will ausgesprochen, sie will weitergesagt werden, die gute Nachricht. Durch wen sollte das geschehen - wenn nicht durch uns?
Jesus ist leibhaft gegenwärtig im Abendmahl - und in der Gemeinde, die sich zum Gottesdienst versammelt.

Wir müssen nicht alle zu Predigerinnen oder Predigern werden, damit die Gute Nachricht weitergesagt wird, damit das Wort des Evangeliums in unsere Welt kommt. Das Evangelium wird auch dort verkündigt, wo Taten der Liebe getan werden, Taten der Nächstenliebe. Wo Menschen, vom Glauben bewegt, auf andere Menschen zugehen: da begegnet ihnen Christus, der gesagt hat: "Was ihr einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan." (Matthäus 25,40)

Da, wo wir uns dem Mitmenschen zuwenden, da entsteht der Leib Christi: Wo wir einander helfen und Hilfe annehmen, wo wir einander lieben und geliebt werden, da begegnet uns Christus. Die Gemeinschaft, in der das geschieht, ist der Leib Christi.
So kommt Christus durch uns zur Welt im Wort und in der Tat.

Wenn wir auf diese Weise Wegbereiter Christi sind, erfüllen wir unsere Bestimmung. Es ist die Bestimmung Johannes des Täufers, dessen wir heute gedenken. Wir gedenken seiner nicht, weil er ein Heiliger war oder ein Märtyrer. Sondern weil er ein Vorläufer war auch für uns, der uns gezeigt hat, welches auch unser Weg ist:
"Er muss zunehmen, ich aber abnehmen."

Wir machen uns klein, damit Christus groß werden kann.
Dabei geschieht, was auf dem Isenheimer Altar zu sehen ist und was Maria in ihrem Loblied besingt: Wir finden zu unserer wahren Größe. Und wir werden groß gemacht, wenn wir uns für Christus klein machen.
"Nun lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir", schreibt Paulus (Galater 2,20)

Wenn das Ich kleiner wird, kann Christus in uns groß werden.
Dann spielt es auf einmal keine Rolle mehr, wer's erfunden hat. Wer der Erste war und die Idee hatte. Dann können wir großzügig sein und anderen den Erfolg, das Lob, das Rampenlicht gönnen. Weil wir etwas viel größeres haben: Christus selbst, der in uns lebt, durch uns zur Welt kommt und durch uns unseren Mitmenschen begegnet.

Amen.