Dienstag, 21. Juni 2011

Wem gehört die Kirche?

Predigt zum Tag der Weihe der Klosterkirche, 15.6.1275
am Sonntag Trinitatis, 19.6.2011 über Markus 4,30-32



Liebe Gemeinde,

wir feiern heute das Jubiläum der Weihe der Klosterkirche: Wir feiern, dass es sie gibt, dass hier seit 736 Jahren Menschen Gott begegnen, Gottesdienste gehalten werden.
Wir feiern, dass diese Kirche allen Menschen offen steht, dass wir sie haben und aufsuchen und uns an ihr freuen können.

Aber wem gehört eigentlich die Klosterkirche?

Vor 736 Jahren wäre die Antwort klar gewesen:
Die Klosterkirche gehört zum Zisterzienserkloster Riddagshausen, sie gehört dem Kloster. Die Mönche haben sie gebaut und über einen Zeitraum von 300 Jahren täglich darin gebetet und Gottesdienst gefeiert.

1568 führte Herzog Julius die Reformation im Braunschweiger Land ein, und damit auch im Kloster Riddagshausen. Der 10. August 1568 ist unser "Reformationstag". Der Herzog war Landes- und zugleich Kirchenherr; das Kloster Riddagshausen mit der Klosterkirche fiel unter seine Gewalt. Das Kloster behielt aber seine Selbständigkeit - unter herzoglicher Aufsicht. Er überführte das Vermögen des Klosters - die Ländereien, die zum Kloster gehörten - als "gemeinen Schatz" des Landes Braunschweig in einen Fonds, aus dem die Erhaltung der Gebäude und die Gehälter der Mitarbeiter bezahlt werden sollten. Das war der Kloster- und Studienfonds,
die heutige "Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz".

In der unseligen Zeit des 3. Reiches, im Jahr 1935 wurde die "Reichsjägerhofstiftung" gegründet. Das Kloster und seine Flächen wurden dieser Stiftung einverleibt.
1955 wurde die Jägerhofstiftung aufgelöst, ihr Besitz ging an die Stadt über.

Mehrmals wechselten die Besitzer der Klosterkirche.
Und nun? Wem gehört sie heute?
Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten.

In den Zeitläuften stand die Klosterkirche wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung; um sie herum änderten sich die Zeiten und Besitzverhältnisse, sie blieb immer die selbe. So könnte man auf den Gedanken kommen, zu sagen: Die Kirche gehört sich selbst. Sie ist eben einfach da, wie ein Berg oder ein Fluss da ist. Beinahe schon eine Naturgegebenheit.

Aber wenn sie nur einfach da wäre, würde bald nur noch ein Haufen Steine von ihr übrig sein. Die Kirche muss erhalten und gepflegt werden, so dass man sagen könnte: Die Kirche gehört dem, der das Geld und die Arbeit zu seiner Erhaltung aufbringt.
Dann hätte die Klosterkirche viele Besitzer, denn die Gemeinde allein, oder ein einzelner Eigentümer, kann die notwendigen Mittel nicht aufbringen. Nur durch eine gemeinsame Anstrengung lässt sich das erreichen.
Also gehört die Klosterkirche allen? Ist sie Allgemeingut, Allmende, wie man früher sagte - heute sagt man "public domain"?

II
Jesus sprach: Womit wollen wir das Reich Gottes vergleichen, und durch welches Gleichnis wollen wir es abbilden? Es ist wie ein Senfkorn: wenn es gesät wird aufs Land, so ist es das kleinste unter allen Samenkörnern auf Erden; und wenn es gesät ist, so geht es auf und wird größer als alle Kräuter und treibt große Zweige, so dass die Vögel unter dem Himmel unter seinem Schatten wohnen können.

Heutzutage hat alles einen Eigentümer.
Es gibt kein Fleckchen Erde mehr, das nicht irgendjemandem gehörte. In unserem Land gibt es nicht einmal mehr einen Ort, der nicht irgendwann einmal von Menschen betreten, bearbeitet, gestaltet worden ist. Selbst das Naturschutzgebiet Riddagshausen ist von den Mönchen angelegt worden. Was wir für frei wachsende, wilde Natur halten, ist der planvollen Arbeit von Menschen entwachsen.
Aber auch wenn jedes Fleckchen Erde seinen Besitzer hat, so ist darauf doch noch genug Platz für ein Senfkorn, um irgendwo zu keimen, zu wachsen, sich auszubreiten
und den Vögeln eine Wohnung zu bieten.
Was im Garten im Kleinen geschieht, das passiert auch im öffentlichen Raum: Es gibt Orte, die uns nicht gehören, aber die für uns trotzdem eine Art Zuhause sind. Von der Bushaltestelle, unter die wir uns bei einem Regenschauer flüchten, über die Teichdämme, auf denen wir immer wieder gern spazieren gehen, bis zur Klosterkirche, die wir aufsuchen, um Gottesdienst zu feiern oder um mit unserem Gott allein zu sein.
Anders als Senfkörner wachsen Kirchen nicht von allein in den Himmel. Auch wenn man die Idee zum Bau einer Kirche, die ersten Pläne mit einem Samenkorn vergleichen kann - was dann kommt, sind eine Menge Holz und Steine und unglaublich viel Arbeit.
Zwei Generationen haben an der Klosterkirche gebaut. Von den Mönchen, die den Grundstein legen halfen, hat wohl keiner den fertigen Bau erblickt. Aber alle am Bau Beteiligten hatten einen Traum, eine Vision, die sie teilten, auch wenn sie wussten,
dass sie ihre Erfüllung, dass sie die Vollendung des Baus nicht erleben würden:
Sie teilten den Traum vom Reich Gottes, von dem Jesus gesagt hat, dass es mitten unter uns Wirklichkeit ist. Heute. Hier und Jetzt. In der Gegenwart dieses Reiches Gottes wollten die Mönche leben. Dafür bauten sie die Kirche: damit in ihr das Wort vom Reich Gottes erklingen, im im Hier und Jetzt Wirklichkeit werden sollte.

III
"Christus verkündigte das Reich
- und gekommen ist die Kirche."


Das lebendige Reich Gottes, das wie ein Senfkorn wächst und wie Sauerteig aufgeht und sich vermehrt und der steinerne Bau der Kirche, die starre, wenig bewegliche Institution der Kirche passen schlecht zusammen.
Wir leben ständig in solchen Gegensätzen.
Nicht einfach, diese Gegensätze auszuhalten.
Man möchte sie auflösen, aufheben, damit dieser Schwebezustand, dieses "Dazwischen" aufhört. Wenn die steinerne Kirche dem lebendigen Reich Gottes im Wege steht, dann gehen wir eben nach draußen, in die lebendige Natur. Oder reißen gleich diesen ollen, steinernen Kasten ab.
Wenn die Institution "Kirche" so unbeweglich, so starr ist, dann treten wir eben aus der Kirche aus oder machen Revolution und gründen eine neue, bessere Kirche.

Wir leben ständig in Gegensätzen.
Dieses Leben in Gegensätzen ist die Grundlage der christlichen Existenz. Das Wort "Parochie", das eine Gemeinde, eine "Pfarre" bezeichnet und aus dem sich auch der Name "Pfarrer" ableitet, hat, wie so viele Begriffe der Kirche, griechische Wurzeln. "Paroikia", das ist der Aufenthalt als Fremdling - als Migrant, Asylant, als nicht Einheimischer, im Gegensatz zum Bürger.
In vielen Ortschaften erlebt man noch immer, dass streng unterschieden wird
zwischen den "Einheimischen" und den "Zugezogenen". "Riddagshäuser" ist man keineswegs schon, wenn man hier wohnt. Ich weiß nicht, ob es so strenge gehandhabt wird wie in Hamburg, wo man erst in zweiter oder dritter Generation als "Hamburgerin" gilt, aber "Riddagshäuser" wird man jedenfalls auch nicht so einfach.
Die Christinnen und Christen aber leben als Gäste und Fremdlinge in dieser Welt, als "Beisassen", wie früher auf dem Dorf die Leute hießen, die nicht mitreden durften und die nicht so viel galten wie die Bauern. Und so heißt es auch im Hebräerbrief:
"Wir haben hier keine bleibende Stadt,
sondern die zukünftige suchen wir".

Nun ist es nicht so, dass wir ständig unser Ränzlein geschnürt hielten, um heute hier, morgen dort auf der Walz zu sein. Das macht Spaß, wenn man jung ist, aber ein ganzes Leben lang kann das kein Mensch aushalten. Man braucht eine Heimat, ein Zuhause.
Das wir Fremdlinge sind, bezieht sich darum auf unser Verhältnis zur Welt. Wir leben in ihr, wie Paulus sagt, als ob wir sie nicht hätten:
"Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die eine Partnerin oder einen Partner haben,
sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht."


IV
Die Welt gebrauchen, als brauchten wir sie nicht.
Das Leben in Gegensätzen.

Wenn man das auf die eingangs gestellte Frage überträgt, wem die Klosterkirche gehört, dann muss man vielleicht so antworten:
Sie gehört allen - und keinem zugleich.

Die Kirche ist wichtig als der Ort, an dem die Gemeinde zusammenkommt. Der Name "Kirche" ist auch wieder so ein Wort mit griechischen Wurzeln, er stammt von "kyriake ekklesia", Versammlung des Herrn. "ekklesia" bezeichnet im Griechischen die Versammlung - von der Vereinsversammlung bis zum Parlament -, aber auch den Versammlungsort und damit, wenn es um die Gemeinde geht, die sich versammelt, die Kirche. Die Gemeinde braucht einen Versammlungsort. Sie braucht eine Kirche. Und darum gehört die Kirche der Gemeinde, nämlich denen, die sich in ihr versammeln, um Gottesdienst zu feiern, wie es die Mönche taten, die sie bauten.

Und zugleich gehört sie keiner und keinem von uns. Denn wir sind als Christen in der Welt solche, die haben, als hätten sie nicht. Wir erkennen, das Besitz und Ansehen, Bedeutung und selbst Beziehungen zu anderen Menschen nur vorletzte Dinge sind - schöne Dinge, die wir zum Leben brauchen und die unser Leben oft erst lebenswert machen. Aber vor dem Hintergrund des Reiches Gottes, das heute, hier und jetzt unter uns Wirklichkeit wird, kommen sie erst an zweiter Stelle.
Das Reich Gottes verändert unseren Blick auf die Welt. Es bringt uns in ein Gegenüber zu ihr, es mutet uns zu, in Gegensätzen zu leben und die nicht aufzulösen, sondern auszuhalten.
Indem es das tut, stellt es uns die Welt, stellt es uns unser Leben erst zur Verfügung. Im Licht des Reiches Gottes erscheint nichts als naturgegeben und schicksalhaft, nichts als endgültig und notwendig.
Gottes Geist verändert unsere Perspektive, unseren Blick auf die Welt, auf unser Leben, auf uns und unsere Mitmenschen.
Gottes Sohn hat mit seinem Tod alles, was uns das Leben schwer macht, auf sich genommen und mit seiner Auferstehung alle Mächte besiegt, die unser Leben bedrohen.
Gott, der Vater und Schöpfer, hat die Macht, die Welt zu verändern und einen neuen Himmel und eine neue Erde zu schaffen.

V
Das Reich Gottes verändert unseren Blick auf die Welt.

Wir erleben uns als Gäste und Fremdlinge in einer Welt, in der alles irgendjemandem gehört; in der man alles kaufen kann und alles käuflich ist; in der alles nach seinem Geldwert beurteilt und gemessen wird, nicht nach seinem Wert an sich.
Als Gäste und Fremdlinge sind wir verständnisvoll gegenüber denen, die als Fremde, als Gäste unter uns sind: wir erkennen in ihnen unsere Seelenverwandten.
Als Gäste und Fremdlinge hängen wir nicht an unserem Besitz, sondern teilen ihn mit denen, die weniger oder nichts besitzen.
Als Gäste und Fremdlinge kommen wir zusammen an diesem Ort, in der Klosterkirche. Und weil wir solch einen Ort brauchen, um uns zu versammeln, weil sie schon so viele Jahrhunderte als Gotteshaus gedient hat, weil sie uns allen gehört und zugleich niemandem, darum erhalten und bewahren wir sie.
Damit die Klosterkirche auch in Zukunft ein Versammlungsort ist, offen und einladend für alle, Riddagshäuser oder nicht.
Damit auch in Zukunft das Wort Gottes in ihr erklingen und die Herzen bewegen und anrühren kann.
Damit auch in Zukunft Menschen hier Gottesdienst feiern und Gott begegnen können.

Amen.