Sonntag, 7. August 2011

Die Lösung des Problems

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 7. August 2011, über Johannes 6,30-35:

Da sprachen sie zu ihm: Was tust du für ein Zeichen, damit wir sehen und dir glauben? Was für ein Werk tust du? Unsre Väter haben in der Wüste das Manna gegessen, wie geschrieben steht (Psalm 78,24): »Er gab ihnen Brot vom Himmel zu essen.« Da sprach Jesus zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben. Da sprachen sie zu ihm: Herr, gib uns allezeit solches Brot.
Jesus aber sprach zu ihnen: Ich bin das Brot des Lebens. Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern; und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten.


Liebe Gemeinde,

ach, wäre das schön, wenn man Probleme ganz einfach lösen könnte. Wenn Autos mit Wasser fahren würden, wenn man das klimaschädliche Kohlendioxid einfach im Boden verschwinden lassen und den radioaktiven Müll im nächsten Vulkan versenken könnte - der Ätna böte sich da gerade an ...

Ach, wäre das schön, wenn es auch eine einfache Erfindung gäbe, um Menschen satt zu machen. Angesichts der Nachrichten und Bilder aus Somalia, vor allem von verhungernden oder bereits verhungerten Kindern, ein ganz dringlicher Wunsch.
Man fragt sich, warum es überhaupt so weit kommen musste - warum eine Dürre, die vorhersehbar war, und der daraus resultierende Mangel an Nahrung, den man doch nicht erst seit einigen Wochen ahnen konnte, erst dann Hilfe auf den Plan rufen, wenn es zu spät ist: Wenn Kinder und Erwachsene sterben, verhungern.

Jesus bietet für das große Problem, wie Menschen satt werden, eine offenbar einfache Lösung an. Wir haben sie in der Evangeliumslesung gehört:
"Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."


I
Es gibt immer wieder Leute, die glauben, sie haben die einfache Lösung für ein schwieriges Problem entdeckt. Manchmal gibt es tatsächlich eine ganze simple Lösung. Im Alltag macht man immer wieder diese Erfahrung, z.B. dass ein Verschluss, den man nicht mal mit Gewalt aufbekommt, mit einem simplen Trick zu öffnen ist. Oft muss man nur diesen Trick kennen, muss wissen, wie's geht - schon meistert man die kompliziertesten Situationen.
Diese einfachen Lösungen, denkt man, müsste es doch auch für die großen Probeme geben. Man muss nur auf den Trick kommen. Und manchmal geht's einem wie Wickie: man hat einen Geistesblitz und denkt, jetzt hat man ihn gefunden, den Trick, so könnte es gehen. Aber wenn man genauer darüber nachdenkt - und spätestens dann, wenn man mit jemand anderem darüber spricht -, zeigt sich, dass man doch etwas Wesentliches übersehen hat, und dass die Lösung nicht so einfach ist, wie man dachte.
Für die großen Probleme scheint es keine einfachen Lösungen zu geben. Die Reduzierung der globalen Erwärmung, die sichere Beseitigung des Atommülls, die Zukunft des automobilen Verkehrs und vor allem die Bekämpfung des Hungers - dafür hat noch niemand ein Patentrezept gefunden.

Oder vielleicht doch? Hat Jesus vor knapp 2.000 Jahren bereits die Lösung für das Problem des Hungers gefunden?
"Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."


Beim ersten Hören klingt es so. Nie mehr hungrig, nie mehr durstig sein - was für eine tolle Aussicht! So wird im Johannesevangelium kurz vorher auch die Geschichte von der Speisung der 5.000 erzählt, die von fünf Broten und zwei Fischen handelt, die Jesus unter 5.000 Menschen verteilte. Sie wurden satt davon - und am Ende blieben sogar 12 Körbe mit Brocken übrig.

II
Was bei der Speisung der 5.000 geschah, war ein Wunder.
Ein Wunder aber, das lehrt uns die Erfahrung, ist keine Lösung. Wunder gibt es zwar immer wieder, wie es in einem Schlager heißt, aber sie passieren doch so unberechenbar und zufällig, dass man sich nicht auf sie verlassen kann. Für Somalia jedenfalls steht ein Wunder noch aus. Für unsere Umwelt, für unser Klima, für die von der Atomkatastrophe in Fukushima betroffenen Menschen steht ein Wunder noch aus.

Aber ein Wunder scheint Jesus auch nicht zu meinen, wenn er sagt:
"Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten."

Jesus gibt hier nichts, und er tut hier auch nichts. Kein Brotbrechen, kein Austeilen.
Körperlicher Hunger und Durst sind hier gar nicht gemeint. "Zu Jesus kommen" bedeutet dasselbe wie "an Jesus glauben". Es geht um den Glauben, nicht ums Essen - körperlichen Hunger und Durst kann der Glaube nicht stillen.

Der Hunger, den Jesus hier meint, ist ein Hunger der Seele. Den gibt es auch. Jemand ist "hungrig nach Anerkennung", sagt man, oder "hungrig nach Liebe". Man hat "Wissensdurst" oder "dürstet nach Erkenntnis". In solchen Redewendungen drücken sich Hunger und Durst der Seele aus.
Ich weiß nicht, ob man auch seelisch verhungern kann. Aber quälend und schmerzhaft kann auch der seelische Hunger sein. Und er ist nicht weniger schwer zu ertragen als der körperliche.

III
"Erst kommt das Fressen,
dann kommt die Moral"
,
singt Meckie Messer in der "Dreigroschenoper".
Wenn Menschen hungrig sind und ihnen das Lebensnotwendige fehlt, kann man nicht erwarten, dass sie sich menschlich verhalten. Wenn Hunger und Durst zu groß werden, wird alles andere zur Nebensache. Erst muss man satt sein, dann kann man sich auch wieder um Anderes kümmern.

Es gibt Ausnahmen von dieser Regel. Es gibt Menschen, die auch in extremsten Situationen ihre Menschlichkeit bewahrt haben und die dadurch zu einem Vorbild für andere geworden sind. Pater Kolbe zum Beispiel, der freiwillig für einen anderen KZ-Häftling, der von der SS willkürlich für den Hungertod ausgewählt worden war, in den Hungerbunker ging, weil dieser Familie hatte und er nicht.
Irgendetwas hatte dieser Pater Kolbe. Etwas, das ihn so gesättigt hat, dass er den Hunger, der auch ihn quälte, aushalten konnte. - Sein seelischer Hunger war gestillt. Wenn der Hunger der Seele gestillt ist, kann man offenbar körperlichen Hunger besser aushalten. Oder zumindest in Situationen, wo erst das Fressen kommt und dann die Moral, die Menschlichkeit bewahren.

Wie werden Menschen satt?
Keine Frage: Indem sie etwas essen.
Nein, das ist noch nicht die Antwort. Denn auch ein satter Mensch empfindet noch Hunger. Den seelischen Hunger, den auch eine üppige Mahlzeit nicht stillen kann.

IV
Was Jesus anbietet, wenn er sagt:
"Ich bin das Brot des Lebens.
Wer zu mir kommt, den wird nicht hungern;
und wer an mich glaubt, den wird nimmermehr dürsten"
,
was Jesus anbietet ist etwas, das den Hunger der Seele stillen kann.
Jesus bietet sich selbst an, um den Hunger der Seele zu stillen.
Jesus bietet sich an, durch ihn die direkte Verbindung mit Gott herzustellen,
"denn Gottes Brot ist das, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben".
Der direkte Draht zu Gott, die Verbindung mit der Schöpfermacht, mit der Fülle des Lebens, stillt den Hunger der Seele. Was könnte ihn besser stillen?

Wer so mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott angesehen und anerkannt. Der kann die Anerkennung seiner Mitmenschen genießen, muss sie aber nicht um jeden Preis haben. Kann selbst andere anerkennen, ohne sich dabei etwas zu vergeben. Und kann anderen Anerkennung gönnen, ohne das Gefühl zu haben, zu kurz zu kommen.

Wer so mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott geliebt. Der muss nicht alle Liebe von seinen Mitmenschen, von Partnerin oder Partner erwarten. Der kann es aushalten, wenn eine Beziehung nicht so glücklich ist wie am Anfang, kann Durststrecken und Krisen einer Beziehung ertagen und die Beziehung über diese Durststrecke hinwegtragen.

Wer so mit Gott verbunden ist, fühlt sich von Gott angenommen, auch mit seinen Fehlern, seinem Versagen, seiner Schuld. Der findet den Mut, noch einmal von vorn anzufangen. Und der findet die Größe, auch anderen zu vergeben, auch mit anderen noch einmal von vorn anzufangen.

Wer so mit Gott verbunden ist, hat die Fülle des Lebens gefunden. Der muss nicht die Gier pflegen, wie sie an der Börse nötig ist, um immer mehr Wachstum, immer größere Gewinne zu erzielen. Der muss nicht den Neid empfinden auf das Glück und den Reichtum der anderen, mit dem die Werbung uns völlig überflüssige Dinge, völlig überdimensionierte Autos und Motoren andrehen will. Der muss nicht geizig sein, um die innere Leere durch ein volles Konto zu kompensieren.

V
Vielleicht gibt es sie ja doch, die einfache Lösung der großen Probleme. Vielleicht liegt sie näher, als wir meinen - der Trick, sozusagen, mit dem der Verschluss aufgeht.
Vielleicht liegt die Lösung darin, dass wir, die wir körperlichen Hunger nicht mehr kennen, auch erkennen, dass der Hunger unserer Seele gestillt ist. Wir sind mit Gott verbunden - auf die engste nur denkbare Weise. In jedem Abendmahl feiern wir diese Verbindung, indem wir Gott in uns aufnehmen - ihn essen, so dass er in uns ist. Mit dem Leib Christi nehmen wir Gottes Fülle in uns auf, sie ist in uns wie ein Energieball, der ausstrahlt in Liebe und Freundlichkeit und Mitgefühl.

Wenn der Hunger gestillt ist, der Hunger des Körpers wie der Seele, dann kann selbst Meckie Messer sich nicht mehr für die Unmenschlichkeit entschuldigen mit seinem Satz
"Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral".
Wenn der Hunger gestillt ist, finden wir zu unserem Menschsein und zu unserer Bestimmung: Füreinander da zu sein und uns das Leben nicht zur Hölle, sondern zu einem Vorgeschmack des Himmels zu machen.

Amen.