Sonntag, 14. August 2011

Predigt zum Mauerbau über Jesaja 2,1-5

Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 14.8.2011 (Gedenken an die Reformation der Klosterkirche am 10.8.1568), über Jesaja 2,1-5:

„Das ist’s, was Jesaja, der Sohn des Amoz, geschaut hat über Juda und Jerusalem:
Es wird zur letzten Zeit der Berg, da des Herrn Haus ist, fest stehen, höher als alle Berge und über alle Hügel erhaben, und alle Heiden werden herzulaufen, und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt, lasst uns auf den Berg des Herrn gehen, zum Hause des Gottes Jakobs, dass er uns lehre seine Wege und wir wandeln auf seinen Steigen! Denn von Zion wird Weisung ausgehen und des Herrn Wort von Jerusalem. Und er wird richten unter den Heiden und zurechtweisen viele Völker. Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen. Kommt nun, ihr vom Haus Jakob, lasst uns wandeln im Licht des Herrn!“


Liebe Gemeinde,

die vergangenen Tage waren geprägt von der Erinnerung an den Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1961. Wer die Mauer noch kannte, hat sich an die Beklemmung, die Angst, den Zorn oder die Trauer erinnert, die man in ihrer Gegenwart empfand. Die ab Mitte der 80er Jahre Geborenen kennen die Mauer und den Grenzzaun nur noch aus Erzählungen, aus den Filmen, die in den vergangenen Tagen gezeigt wurden, oder als Museumsstück. Das Gefühl, das einen in ihrer Nähe überkam, kennen sie nicht mehr. Zum Glück.
Auch die Mauer in den Köpfen sei im Wesentlichen verschwunden, stand gestern in der Zeitung zu lesen. Diese Mauer wohl. Aber es war nicht die einzige Kopf-Mauer, die errichtet wurde.
Als Martin Luther 1519 eine Kopf-Mauer niederriss, um die Kirche aus ihrer babylonischen Gefangenschaft zu befreien, wurde von der katholischen Mutterkirche eine neue errichtet, um sich von den ketzerischen Protestanten abzugrenzen. Bald bauten Luther und seine Schüler, bald bauten die protestantischen Theologen an dieser Mauer mit. Wenn man sich die Geschichte der Kirche ansieht, vom 30jährigen Krieg bis zum Nordirlandkonflikt unserer Tage, dann war diese Kopf-Mauer tödlicher, als es die Mauer, an deren Bau wir uns dieser Tage erinnern, je war.

I
Zahlreiche und schreckliche Kriege wurden aus Glaubensgründen geführt. Die tatsächlichen Gründe waren meist handfester und weltlicher Natur - Geld und Macht spielten dabei immer eine Rolle. Aber die Glaubensunterschiede lieferten den Vorwand und hielten den Konflikt in Gang.
Wenn man, wie eben, von Schwertern zu Pflugscharen und Spießen zu Sicheln hört, kann man es sich gar nicht vorstellen, dass der christliche Glaube, der so friedliche Bilder zeichnet, zu solchem Blutvergießen führen konnte. Wie geht es zusammen, dass Jesus den Frieden predigt und den Gewaltverzicht, die Kirche aber, die sich auf ihn beruft, immer neue Kriege gegen Andersdenkende geführt hat?

Menschen errichten Mauern - nicht nur Mauern und Zäune, um ihr Grundstück abzugrenzen und sich vor fremden Blicken zu schützen. Sondern vor allem Kopf-Mauern, mit denen man sich von denen abgrenzt, die anders sind, anders denken als man selbst. Man ist immer wieder versucht, zwischen „uns hier drinnen“ und „denen da draußen“ zu unterscheiden. Man sucht nach Unterschieden, nach Unterscheidungsmerkmalen. Und man findet sie. Mal ist es die Hautfarbe. Mal das Geburtsland. Mal die sogenannte „Rasse“. Und immer wieder der Glaube, die Religion. Die Verschiedenheit, das Uneinheitliche, „Multi-Kulti“ ist, so scheint es, schwer zu ertragen. Oder muss gar bekämpft werden.

Die Bibel stiftet dazu an. Denn dort wird immer wieder unterschieden zwischen dem „Volk Gottes“ und den „Heiden“ - zwischen „uns hier drinnen“ und „denen da draußen“. Aber das ist ein Mißverständnis. Die Christen zählten nämlich anfangs auch zu den Heiden. - Bis der Apostel Paulus verkündigte, dass nicht entscheidend ist, ob man zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe gehört, um Teil des Volkes Gottes zu sein, sondern der Glaube. Mit einem Mal fiel die Kopf-Mauer, und Paulus schrieb das neue Gemeinschaftsmanifest: „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Kinder und nach der Verheißung Erben.“ (Galater 3,28-29)

II
Ein genialer Schachzug des Paulus, der mit Hilfe des Glaubens die Christen ins das Volk Gottes eingepfropft hat. Und doch war es keine Willkür, die ihn trieb; die Bibel selbst spricht ja von der Aufhebung der Unterschiede. So lädt der Predigttext alle Heiden und viele Völker ins Haus Gottes und in seinen Bund ein. Und dieser Bund ist - wie könnte es anders sein, wenn die Unterschiede aufgehoben und die Kopf-Mauern eingerissen werden - ein Bund des Friedens. Ein Bund, in dem Schwerter zu Pflugscharen werden und Spieße zu Sicheln, ein Bund, in dem niemand mehr lernt, Krieg zu führen.

Ist das nicht alles ein frommer Wunsch? Immerhin spricht Jesaja von einer „letzten Zeit“. Er spricht nicht vom Hier und Heute, sondern von einem Tag, der seit den 2.700 Jahren, die vergangen sind, als Jesaja diese Zeilen schrieb, noch immer in weiter Ferne liegt, und der vielleicht nie kommen wird.
Doch das stimmt nicht.
Zwar hat sich die Vision Jesajas nicht erfüllt - nach wie vor werden viel zu wenig Waffen zu Werkzeugen umgeschmiedet, nach wie vor lernen viel zu viele Menschen, wie man andere Menschen tötet. Aber die Vision, dass Schwerter zu Pflugscharen werden, hat Menschen beflügelt und hat ihren Beitrag zum Fall der Mauer geleistet. „Schwerter zu Pflugscharen“ war nämlich das Kennzeichen der Friedensbewegung in der damaligen DDR, und Anfang der 80er trugen viele einen Aufnäher mit dem Emblem des Schmiedes auf der Jacke, der aus einem Schwert eine Pflugschar macht. Als der Aufnäher von der Staatsmacht verboten wurde, ersetzten ihn Mutige durch einen weißen Flicken, auf den sie schrieben „Hier war ein Schmied“.
Mit Humor und mit dem Mut zu kleinen Widerständen wurden Kopf-Mauern eingebrochen. Das bereitete den Fall der großen Mauer vor.

III
Mauern grenzen nicht nur aus und ab. Mauern halten auch zusammen. Erst durch Mauern entsteht ein Haus. Eine Kirche hat Mauern. Das Haus des Herrn aus dem Predigttext hat Mauern. Auch der Weg Gottes hat klare Konturen; er ist nicht beliebig: Gottes Wort, Gottes Weisung gibt eine Richtung vor, in die es geht. Gott richtet damit die Menschen aus, er weist die Völker zurecht.
Es gibt also doch ein Richtig und ein Falsch, ein Draußen und ein Drinnen!
Ja, das gibt es. Ebenso, wie es die Möglichkeit gibt, sich nicht an Gottes Weisung zu halten, seinen eigenen Weg zu gehen. Wie es die Möglichkeit gibt, Gottes Wort falsch zu verstehen und in die Irre zu laufen. Aber darüber zu richten, wer falsch liegt, darüber zu entscheiden, wer sich nicht richtig verhält, das liegt nicht in unserer Macht. Es ist allein Gottes Sache. Er wird richten und zurechtweisen, nicht wir. Und das auch nicht hier und heute, sondern zu einer anderen, „zur letzten Zeit“.
Wir haben dazu nichts zu sagen. Im Gegenteil: Auch wir könnten zu denen gehören, die etwas falsch verstanden haben, die auf dem falschen Weg sind und von Gott neu ausgerichtet oder zurechtgewiesen werden müssen.

Wir grenzen uns ab. Wir benennen, was wir als richtig, was wir als falsch erkennen. Aber wir können nicht wissen, ob wir recht haben - das weiß Gott allein. Und deshalb können wir niemals endgültige Grenzen ziehen, wir können niemanden ausgrenzen, niemanden verurteilen. Das kann allein Gott. Wenn wir uns das klar machen und wenn wir uns daran halten, dann werden die Grenzen, die wir ziehen, durchlässig sein. Wenn wir damit rechnen, dass wir uns irren könnten, wenn wir auch der Gegenseite ihr Recht und ihre Wahrheit zugestehen, verhindern wir, dass eine Kopf-Mauer entsteht.

IV
Noch immer gibt es Protestanten und Katholiken - und unzählige andere Konfessionen und Denominationen, ganz zu schweigen von den anderen Weltreligionen. Dass wir die Mauern, die uns trennen, eines Tages zu Fall bringen werden, ist nicht in Sicht - im Gegenteil: In Zeiten knapper werdender Finanzen und schwindender Mitglieder kommen manche auf die Idee, die Mauern noch etwas höher zu machen. Auf die eigene Konfession zu pochen und sich abzugrenzen von den anderen. Der Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, mit 47 Jahren jüngster Bischof der katholischen Kirche, sagte neulich in einem Interview: „Meine Aufgabe als Bischof ist, für die Tradition der Kirche einzustehen. Da bin ich im wörtlichen Sinne konservativ. Ich möchte nichts am Zölibat ändern und am Nein zum Frauenpriestertum, nichts an der Haltung zur Sexualität. Wir müssen aber einen neuen Stil finden, das überzeugend zu sagen.“ (SZ vom 30.7.2011, S.8)
Hier werden Brücken abgerissen, auch zu den eigenen Leuten, statt Brücken zu bauen.

Die Zukunft der Kirche aber liegt nicht darin, sich einzumauern.
Selbst die Mönche des Klosters Riddagshausen, die hinter ihrer hohen Mauer lebten und niemanden ins Kloster ließen, haben trotzdem im Austausch mit der Welt gelebt. Die ersten, die Luthers aufregend neue Gedanken aufnahmen und weitertrugen, waren die Mönche und Nonnen in den Klöstern. Viele sind trotzdem im Kloster geblieben. Sie wollten nicht alles neu und anders machen, sie wollten Veränderung. Sie wollten die Mauern durchlässiger machen. Die aus Stein, und die im Kopf. Leider war die Zeit damals noch nicht reif.

V
Ist sie es heute?
Wenn man den Bischof Overbeck hört, hat man seine Zweifel. Wie sagt ein Sprichwort? „Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen.“
Es wird wohl immer solche geben, die Mauern bauen, weil sie sich hinter Mauern sicher fühlen. Die Mauern brauchen, weil sie Angst haben vor der Weite, vor dem Wind der Veränderung. Man soll das nicht falsch nennen. Man soll nicht die Windmühlen- gegen die Mauernbauer ausspielen. Vielmehr sollen die Windmüller geduldig ihr Korn mahlen. Wenn dann der Duft von frischem Brot über die Mauern weht, kommen die anderen schon von selbst dahinter hervor. Das ist bei der Mauer, die vor 50 Jahren gebaut wurde, so gewesen. Und das wird auch die Kopf-Mauern eines Tages einreißen. Und ich bin zuversichtlich, dass wir darauf nicht bis zum Jüngsten Tage werden warten müssen.

Amen.


Foto des Aufnähers im Haus der Geschichte, Bonn/Leipzig