Samstag, 27. August 2011

Predigt zum Israelsonntag - 28. August 2011

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 28.8.2011, über 2.Mose 19,1-6:

Am ersten Tag des dritten Monats nach dem Auszug der Israeliten aus Ägyptenland, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Denn sie waren ausgezogen von Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten sich dort in der Wüste gegenüber dem Berge. Und Mose stieg hinauf zu Gott. Und der Herr rief ihm vom Berge zu und sprach: So sollst du sagen zu dem Hause Jakob und den Israeliten verkündigen: Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht. Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein. Das sind die Worte, die du den Israeliten sagen sollst.


Liebe Gemeinde,

„Weil ich Jesu Schäflein bin,
freu' ich mich nur immerhin
über meinen guten Hirten,
der mich wohl weiß zu bewirten,
der mich liebet, der mich kennt
und bei meinem Namen nennt.“

So dichtete die Herrnhuterin Henriette Maria Luise von Hayn.
So kindlich, so betulich dieses Lied erscheint, so deutlich spricht es eine Gewissheit aus, die zu den elementaren Grundlagen des Glaubens gehört: dass ich „Jesu Schäflein bin“, dass ich also zu Jesus gehöre, wie ein Schaf zu seinem Hirten. Als „Schäflein“ Jesu gehöre ich zu einer „Herde“ vieler Schäflein, nämlich zur Gemeinde, und damit gehöre ich zum Volk Gottes. Dem Volk, das im Predigttext ein „heiliges Volk“ genannt wird und im Glaubensbekenntnis „Gemeinschaft der Heiligen“.

Zwar ist es elementar, dass man mit der Taufe zur Gemeinde, zu Gott und damit zu seinem Volk, zur Gemeinschaft der Heiligen gehört, man könnte geradezu sagen: Es ist eine Binsenweisheit, eine Selbstverständlichkeit. Aber es ist keineswegs selbstverständlich, dass man sich selbst dazugehörig fühlt.

I
Wer dazugehört, bestimmen nicht wir. Das bestimmen andere.
Schon im Kindergarten, in der Grundschule entscheiden „die anderen“, ob man mitspielen darf oder nicht. Das setzt sich in der Schule fort: Kleidung oder Herkunft, die Anführer in der Klasse bestimmen, ob man dazugehört. Und es hört mit dem Schulabschluss nicht auf. Das ganze Leben entscheiden andere darüber, wer dazugehört. Überall gibt es Vereine, Gruppen, Clubs. Und selbst wenn man Mitglied ist, bedeutet das noch lange nicht, dass man dazugehört. Die anderen müssen einen mögen, akzeptieren. Man muss Einsatz zeigen, Präsenz, Engagement - sonst ist man bald „draußen“.
Selbst in der Kirchengemeinde wurde und wird oft unterschieden zwischen denen, die mitarbeiten, sich engagieren und „richtig“ zur Gemeinde gehören, und den anderen, die zwar Kirchensteuer zahlen, aber nur ab und an zum Gottesdienst kommen.

Besonders drastische Formen nahm die Frage, wer dazugehört, früher auf dem Dorf an. „Zugezogene“ wurden nicht akzeptiert, wurden wie Aussätzige behandelt und mussten sich Ablehnung und Demütigung gefallen lassen. Es half nichts, dass sie wohlhabend, erfolgreich, einflussreich waren oder sich um die Allgemeinheit verdient machten. Bis heute wird der kleine, aber feine Unterschied bemerkt und festgehalten, wer „von hier“ ist, und wer ein Zugezogener.

Am schlimmsten aber traf es zu allen Zeiten die Juden, das Volk Gottes, von dem im Predigttext die Rede ist. Sie waren Mitbürger - und dennoch Menschen zweiter Klasse. Sie wohnten im selben Ort, gingen auf die selbe Schule, sprachen die selbe Sprache - und gehörten doch nicht dazu. Viktor Klemperer, der die Schreckenszeit der Naziherrschaft in seinen Tagebüchern fest hielt, konnte es nicht fassen und begreifen, dass er, der in Deutschland geboren war, der für sein Vaterland im ersten Weltkrieg gekämpft hatte und mit Orden ausgezeichnet worden war, der deutsch sprach, fühlte und dachte, plötzlich allein seines Glaubens wegen nicht mehr Deutscher sein sollte.
Wer dazugehört, bestimmen nicht wir. Das bestimmen andere.

II
Das erlebten auch die ersten Christen. Anfangs spielte sich das, was wir heute „Christentum“ und „Kirche“ nennen, innerhalb der jüdischen Gemeinden ab, in der Synagoge. Die ersten Christen waren Juden und fühlten sich als Juden; es war völlig undenkbar, dass Nichtjuden Christen werden konnten: „Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel“, sagt Jesus (Matthäus 15,24). Aber als die Christen auf Konfrontationskurs mit der römischen Staatsmacht gingen, mussten sich die Juden von ihnen trennen. Die Christen wurden aus der Synagoge ausgeschlossen, aus dem Gottesdienst und aus der Gemeinde - und damit aus dem Volk Gottes.
Gehörten die Christen jetzt noch dazu?
Wie konnten sie überhaupt dazugehören, wenn sie aus dem Judentum ausgeschlossen waren?

Paulus, selbst Jude, fand die Lösung:
„Wenn man von Herzen glaubt und mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet.“ (Römer 10,10)
Der Glaube, heißt das, begründet die Zugehörigkeit zum Volk Gottes.
Anders gesagt:
Wer die Zusage Gottes: „Ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ im Glauben ergreift, für den gilt sie, und der gehört dazu.

III
Kann man das glauben, wenn einen andere ausgrenzen?
Kann man sich zugehörig fühlen, wenn einem andere die Zugehörigkeit absprechen?
Ist, um noch einmal Paulus sprechen zu lassen, „das Wort dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen?“ - „Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.“ (Römer 10,8)

Das Wort, um das es hier geht, ist das Wort Gottes, die Zusage „ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“.
Gilt das auch für mich? Und wie kann ich das wissen, wie kann mir dieses Wort nahe kommen, nahe sein? - Gerade dann nahe kommen und nahe sein, wenn andere mich deutlich spüren lassen, dass ich nicht erwünscht, dass ich ausgeschlossen bin?

Es ist mir unbegreiflich, wie die christlichen Kirchen in der Nazizeit sich von ihren jüdischen Schwestern und Brüdern abwenden, sie derart im Stich lassen, denunzieren und ans Messer liefern konnten. Es ist unbegreiflich, wie die christliche Kirche Jesus als blonden, blauäugigen „Arier“ darstellen und so gründlich verdrängen und vergessen konnte, dass er Jude war.

Jeder hat wohl schon die Erfahrung machen müssen, dass es in Gruppen oft nicht um die Sache geht, sondern um Sympathien. Dass man sich als Gruppe von anderen abgrenzt, unterscheidet zwischen „uns“ und „denen“, wobei „wir“ natürlich besser sind als „die“. Die Zugehörigkeit, der Stallgeruch ist oft wichtiger als Fähigkeiten oder Leistungen.
Und andersherum: Wer dazugehören will, muss ein „Freund“ sein, muss sich duzen, muss andere mögen und gemocht werden. Es genügt nicht, dass das Engagement um eine gemeinsame Sache verbindet, es müssen andere Bindungen gesucht und geschaffen werden. „Blut ist dicker als Wasser“, heißt es, und das gilt nicht nur für Familien. Auch Gruppen suchen oft nach familiären Strukturen, nach einem Zusammenhalt, der manchmal in die bedrohliche Nähe zum Kadavergehorsam gerät. Wer dann nicht für die Gruppe ist, ist gegen sie. Wer sich dann eine andere Meinung, gar Kritik erlaubt, wird als Nestbeschmutzer gebrandmarkt. Wer sich nicht an die Spielregeln der Gruppe halten will oder halten kann, fliegt raus.

IV
„Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern“. Um zum Volk Gottes, um zur Gemeinde zu gehören, braucht es keine Sympathien. Man muss sich nicht duzen. Man muss sich nicht einmal mögen. Es ist schließlich nicht irgend jemandes Stimme, der man gehorchen muss; es ist Gottes Stimme. Keine Satzung, keine Geschäftsordnung, keine Regel bildet das Volk Gottes, die Gemeinde, und hält sie zusammen, sondern Gottes Bund mit uns Menschen. Das Zeichen dieses Bundes ist für uns Christen die Taufe.
Mit anderen Worten: Wer glaubt und getauft ist, gehört zur Gemeinde. Weiter ist nichts nötig.
Sie alle gehören dazu. Zu dieser Gemeinde. Weil Sie hier sind. Weil wir gemeinsam Gemeinde sind. Es spielt keine Rolle, welcher Partei Sie angehören. Wo Sie wohnen. Welche Nationalität, Schuhgröße, welches Geschlecht und welchen Intelligenzquotienten Sie haben. Es spielt nicht nur keine Rolle. Es ist so unwichtig wie nur irgendwas.
Und darum kräht auch hier, in der Klosterkirche niemand danach, ob Sie Riddagshäuser sind oder nicht. Ganz egal, was andere sagen oder meinen.

V
„Das Wort ist dir nahe, in deinem Munde und in deinem Herzen. Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen.“ Das Wort, das uns zusagt: Du gehörst dazu, ist uns ganz nahe. Wir können es in der Bibel lesen, und wir spüren, dass es wahr ist. Und dennoch kann es sein, dass es unendlich schwierig ist, dieses Wort auch gelten zu lassen. Denn leider können wir uns das Wort nicht selbst sagen. Um es wirklich glauben zu können, muss es uns ein anderer sagen. Ein anderer muss uns sagen: Du gehörst dazu. Du bist nicht weniger wert als wir. Wir respektieren und akzeptieren dich, und du musst uns dafür keinen Gefallen tun.

Deshalb muss das Wort gepredigt werden. Nicht nur heute, nicht nur von mir und nicht nur von dieser Kanzel. Wir alle sind in der Lage, eine solche Predigt zu halten. Indem wir Menschen einschließen, nicht ausschließen. Indem wir Menschen sein lassen, statt von ihnen zu verlangen, sie sollten sich uns anpassen. Indem wir nicht unterscheiden zwischen „wir“ und „ihr“, „innen“ und „außen“, sondern die Türen öffnen und hereinlassen, wer zu uns kommen will. „Porta patet - cor magis“, war der Leitspruch der Zisterzienser, „Die Tür steht offen - und mehr noch das Herz.“

Amen.