Samstag, 10. September 2011

Predigt zum 11. September über Jesaja 29,17-24

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 11. September 2011 - Jahrestag der Terroranschläge in den USA, unter anderem auf das World Trade Center, 2001, und des Militärputsches in Chile 1973 - über Jesaja 29,17-24:

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden. Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen; und die Elenden werden wieder Freude haben am Herrn, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels. Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
Darum spricht der Herr, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen. Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten. Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen.


Liebe Gemeinde,

ein neuer Tag hat begonnen. Ein besonderer Tag: ein Sonntag. Für die meisten ein freier Tag, an dem sie sich etwas vorgenommen haben oder einfach nur entspannen, mit der Familie ausführlich frühstücken oder, wie Sie, heute Morgen in den Gottesdienst gehen, in Vorfreude auf die Kirche, auf schöne Lieder, eine anregende Predigt. Manche sind schon gespannt auf den Ausgang der Kommunalwahl und werden gleich ihre Stimme abgeben. Manche haben das Programm des heutigen „Tages des offenen Denkmals“ bei sich und planen ihre Tour durch die Stadt. Und mancher feiert heute seinen Geburtstag.

Ein neuer Tag hat begonnen. Ein besonderer Tag. Und doch auch etwas sehr Alltägliches - immerhin gibt es 52 Sonntage im Jahr; gibt es Gewohnheiten, die sich Sonntag für Sonntag gleichen. Und auch ein Geburtstag verliert, je älter man wird, etwas von seiner Bedeutung, ist - zwar nicht normal, aber auch nicht mehr so aufregend, wie man ihn als Kind erlebte.

I
In einer scheinbar endlosen Folge reiht sich ein Tag an den anderen, wie eine Kette. Es gibt einige Höhepunkte - Sonntage, Geburstage, Feste, besondere Ereignisse -, aber auch die verlieren, je älter man wird, ihre Aufgeregtheit, ihren Reiz.
Doch dann wird diese eintönige Folge plötzlich unterbrochen - durch die Diagnose einer Krankheit. Durch einen Unfall. Durch die Nachricht von der Erkrankung, vom Tod eines lieben Menschen. Auf einmal bemerkt man, wie brüchig die Kette der Tage ist, und wie wenig selbstverständlich es ist, dass für das Leben immer sorgenfrei und unbeschwert weitergeht.
„Carpe Diem“ heißt deshalb ein Lebensmotto, „pflücke“ oder „genieße den Tag“ - es könnte der letzte sein, den du unbeschwert genießen kannst.

Die Kette der Tage wird unterbrochen durch Schicksalsschläge wie Krankheit oder Tod. Man steht ihnen ziemlich machtlos gegenüber. Man erschrickt davor, hat Angst davor. Aber letztlich weiß man um die Gefährdung, die Zerbrechlichkeit des Lebens. Man ahnt, dass es in jedem Leben Krankheit, Leid und Verluste gibt - und hofft doch, dass man selbst davon verschont bleibt.

Ganz anders reagiert man auf die unglaublichen Dinge, die Menschen anderen Menschen antun. Wenn Menschen Schicksal spielen und auf grausame Weise in das Leben anderer eingreifen, es verletzen, zerstören. Ist der Einzelfall - der Mord an einem Menschen - schon erschreckend, wird es unfassbar, unvorstellbar, wenn eine große Zahl der Willkür eines Einzelnen oder einer Gruppe zum Opfer fällt. Solche Ereignisse berühren uns alle, und wir vergessen sie nie. Sie verbinden sich mit Orten oder Daten, und wir brauchen nur den Namen dieses Ortes, das Datum zu nennen, um den ganzen Schrecken wieder in Erinnerung zu rufen. Es sind Orte wie Utøya. Ruanda. Srebrenicza. Und es sind Daten wie der heutige 11. September, der für zwei schreckliche Ereignisse steht: Den Terroranschlag auf die USA vor zehn Jahren, bei dem zwei vollbesetzte Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Center gesteuert wurden. Und den Militärputsch in Chile 1973, in dessen Folge unzählige Menschen in Fußballstadien zusammengetrieben wurden, gefoltert wurden und dann ohne eine Spur verschwanden.

II
Das Wissen um das, was Menschen anderen Menschen antun können, macht fassungslos und sprachlos. Und es schürt Misstrauen und Angst. In der Folge der Anschläge des 11. September stand jeder bärtige, arabisch aussehende Mann unter Terrorismusverdacht.

Für mich ist es unerträglich, dass es Menschen wie den Mörder von Utøya gibt. Dass Menschen in der Lage waren, Flugzeuge voller Menschen in ein von Menschen bevölkertes Hochhaus zu steuern. Dass Menschen von der Straße weggeschnappt, gefoltert, ermordet und irgendwo verscharrt wurden, weil sie die falsche Partei gewählt hatten.

Es war schon für den Propheten Jesaja unerträglich. Seine Beispiele menschlicher Willkür beziehen sich nicht auf Verschleppung, Folter oder Mord. Er bezieht sich auf Ungerechtigkeiten, die mancherorts als normal gelten: Menschen werden vor Gericht benachteiligt oder betrogen; Menschen, die die Wahrheit ans Licht bringen, werden verfolgt oder ermordet; Menschen werden durch Tricksereien, durch Übervorteilung, durch das berühmte Kleingedruckte in Verträgen benachteiligt oder um ihr Geld, ihren Besitz gebracht. Bertolt Brecht singt die Ballade von Mackie Messer, der keine Skrupel kennt und über Leichen geht, um sich Gewinn zu verschaffen.

Jesaja prophezeit den damaligen und den heutigen Haifischen unter den Menschen, dass ihre Tage gezählt sind, dass sie vertilgt werden, wie man Unkraut vernichtet. Und man liest diese Prophezeiung mit Genugtuung, man freut sich, dass den Mackie Messern selbst das Messer an die Kehle gesetzt wird und sehnt sich danach, dass alle, die anderen das Leben zur Hölle machen, endlich zum Teufel gejagt werden.

III
„Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet!“ (Jesaja 63,19)
Diesen Seufzer aus dem Buch des Propheten Jesaja stimmen wir manchmal an, wenn wir von den Gräueltaten hören, die Menschen verübten. Und wünschten, Gott würde mit eiserner Faust dreinschlagen und diese unfassbaren Verbrechen vergelten und sühnen.
Aber Gott haut nicht mit der Faust auf den Tisch, Gott fährt nicht drein.
Deshalb müssen wir, muss der Staat mit allen Mitteln seine Bürger vor solchen Verbrechern schützen und mit der ganzen Härte des Gesetzes bestrafen. Wer Menschen so unvorstellbare Grausamkeiten antut, der verdient, dass man ihm mit der gleichen Härte begegnet.

Warum aber tut Gott nichts?
Es lässt ihn doch nicht kalt, was den Menschen, die er liebt, angetan wird. Da lassen die Drohungen des Propheten Jesaja gegen die Tyrannen nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Doch werden sich schon damals die Tyrannen ins Fäustchen gelacht und die Drohungen in den Wind geschlagen haben. Denn es sind ja nur Worte - Worte eines Propheten, der an der Ungerechtigkeit verzweifelt, der in seiner Ohnmacht den Willen und die Macht Gottes beschwört
- und damit doch nichts bewegen kann.

Was ist mit diesen Drohungen? Was ist mit dem Zorn Gottes?
Dazu erzählt der Talmud eine Geschichte:

In der Gegend von Rabbi Meir wohnten Verbrecher, die ihm viel zusetzten. Rabbi Meir betete daher, dass sie sterben mögen.
Seine Frau Beruriah hörte das mit an. Dann sprach sie zu ihm: „Wie kannst du nur vermuten, dass ein solches Gebet erlaubt wäre? Etwa weil es im Psalm heißt: „Mögen die Sünder von der Erde verschwinden“? Aber das Wort, das du als „Sünder“ liest, kann auch als „Sünden“ gelesen werden. Und sieh dir den zweiten Teil des Verses an: „Und mögen die Frevler nicht mehr sein“. Das bedeutet, dass es, wenn es keine Sünden mehr gibt, auch keine Frevler mehr geben wird. Du sollst also dafür beten, dass diese Menschen Buße tun. Dann wird es keine Frevler mehr geben.“
Rabbi Meir tat es, und die Verbrecher taten Buße.

Beruriah, die Frau des Rabbis, vertritt Gottes Standpunkt. Gegen den verständlichen Wunsch des Menschen nach Rache, nach Strafe, nach Vernichtung derer, die das Leben anderer bedrohen und vernichten, setzt sie das Bemühen Gottes um das Leben - selbst dieser Menschen. Sie klaubt in den Worten, sie dreht die Buchstaben der Bibel hin und her, weil Gott kein Mörder, sondern ein Bewahrer des Lebens ist.

IV
Beruriah bemüht sich mit Gott um die Tyrannen - und die Tyrannen lachen.
Sie betrinken sich am Wein, den sie anderen geraubt haben, und sehen nicht die Schrift an der Wand. Die Schrift, die ihr Ende ankündigt:
„es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen“.

Es ist kein Ende, wie sie es ihren Feinden bereiten. Gott mordet nicht. Gottes Macht zeigt sich nicht in schmelzenden Bergen, im Feuer, das vom Himmel fällt, im grellen Blitz, der alles vernichtet. Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig. „Wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände – seine Kinder – in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen.“

Und wieder lachen die Tyrannen. Kinder - wie sollen die ihnen gefährlich werden können.
Kinder - das waren auch die Tyrannen einmal. Kleine, schwache, ängstliche, liebenswerte Kinder. Gott weiß das. Weil Gott nicht vergessen hat, dass auch die Tyrannen einmal Kinder waren, darum lässt er sie am Leben. Darum will er nicht ihren Tod, sondern ihre Umkehr. Darum bemüht er sich um sie.

Wir können das nicht. So, wie wir nach Gottes Willen keine Rache an den Mördern nehmen sollen, so können wir aber auch nicht vergessen, was sie getan haben. Und dürfen es auch nicht vergessen, um derer willen, die ihnen zum Opfer fielen.

V
Ein neuer Tag hat begonnen. Ein besonderer Tag: der Tag, an dem „die, welche irren in ihrem Geist, Verstand annehmen, und die, welche murren, sich belehren lassen.“ Heute ist dieser Tag. Heute, wo wir dieses Wort hören. Wo es uns zu Herzen geht und von seiner Wahrheit überzeugt. Das Wort, auf die Mauer geschrieben, hat die Tyrannen überdauert. Seit fast 900 Generationen gibt es Menschen Hoffnung, dass es mit den Tyrannen aus ist.

Und tatsächlich: Wer sich dieses Wort zu Herzen nimmt, kann kein Tyrann mehr sein.
In uns allen liegt die Möglichkeit zur Gemeinheit. Zur Ungerechtigkeit. Zum Jähzorn und zum Hass. Jede und jeder von uns ist in der Lage, anderen Menschen weh zu tun, körperlich, oder seelisch, und ihnen das Leben zur Hölle zu machen.
Aber wenn wir an die Kinder in unserer Mitte denken, wenn wir uns daran erinnern, dass wir selbst einmal Kinder waren, und wenn wir an die vielen Menschen denken, die den Tyrannen zum Opfer fielen: Dann wollen wir keine Tyrannen sein, sondern solche, die an das Gute im Menschen glauben. Die für Gerechtigkeit eintreten - nicht nur für unsere Freundinnen und Freunde, sondern auch für die, denen wir misstrauen, die wir nicht mögen.

Wir vertrauen der Verheißung, die Jesaja uns macht, weil wir an uns selbst erfahren, wie wir von kleinen oder größeren Tyrannen zu - Mitmenschen werden.
Wenn sich die Verheißung Jesajas an uns erfüllt, dann kann sie sich auch an anderen erfüllen. Dann kann der Libanon doch noch ein schöner Garten werden, und der Garten ein Wald, und die Erde ein Ort, der allen Menschen einen Platz zum Leben bietet.

Amen.