Sonntag, 18. September 2011

Barmherzigkeit - Predigt über Lukas 19,41-44

Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 18. September 2011, im gemeinsamen Gottesdienst mit Gemeinden der Braunschweiger Innenstadt anlässlich der geplanten (und dann schließlich abgesagten) Bombenräumung in der Braunschweiger Innenstadt über Lukas 19,41-44:

Als Jesus nahe hinzukam, sah er die Stadt Jerusalem und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.


Liebe Gemeinde,

in Riddagshausen soll angeblich die Sirene abgeschafft werden. Und nicht nur hier. Es ist offenbar geplant, generell auf Sirenen zu verzichten und die Feuerwehr nur noch „still“ zu alarmieren: Über den Pieper, den jeder Feuerwehrkamerad bei sich trägt. Widerstand regt sich bei der Freiwilligen Feuerwehr; es gibt konspirative Absprachen mit dem Pastor, weil die Sirene auf dem Dach des Gemeindehauses montiert ist, unter dem der Pastor wohnt ...

So sehr die Sirene fehlen würde, weil man nun nicht mehr weiß, dass es irgendwo brennt - manche der Älteren wären wohl froh, wenn sie die Sirene nicht mehr hören müssten. Zu eng ist das Heulen der Sirene mit Erinnerungen an den Krieg verbunden, an den Bombenalarm, an die bangen Stunden im Keller oder im Luftschutzbunker, an die Brände, die keine Feuerwehr mehr löschen konnte, an die Zerstörungen ... Das Sirenengeheul ruft Erinnerungen wieder wach, wie es auch die Ankündigung des Bombenfundes und der Evakuierung tat.

Aber nicht nur die ältere Generation schreckt das Sirenengeheul auf. Auch ich zucke jedes Mal zusammen, wenn ich eine Sirene höre - und das nicht, weil sie direkt über meinem Kopf zu heulen beginnt. Ich bin in den Jahren des sog. Kalten Krieges aufgewachsen. Wir lernten in der Schule, wie es klingt, wenn die Sirene ABC-Alarm gibt - die Warnung vor einem Atombombenangriff. Meine Freunde und ich hatten Angst vor den Atomwaffen. Wir wussten um die schrecklichen Folgen einer Atomexplosion, und wir befürchteten, dass jemand im Osten oder im Westen die Nerven verlieren und auf den roten Knopf drücken könnte. An manchen Tagen mochte ich nicht aus dem Fenster sehen, weil ich fürchtete, jeden Augenblick könnte ein Atomblitz aufleuchten ...

Ängste eines überspannten Teenagers, der zu viel grübelt und sich ganz unberechtigte Sorgen macht, hat man damals dazu gesagt - und würde man auch heute sagen. Obwohl wir inzwischen wissen, dass die Welt mehr als einmal am Rand eines Atomkriegs stand.
Ähnlich denken und sprechen viele über die Ängste von Menschen, die in der Nähe atomarer Endlager wie Schacht Konrad oder Asse II leben, oder in der Nähe von Atomkraftwerken: Dass keine Gefahr bestehe, dass die Ängste übertrieben und unberechtigt seien.
Im Moment schweigen diese Stimmen, weil der Reaktor von Fukushima noch immer bedrohliche Strahlungsmengen aussendet. Aber in Japan gehen die Politiker bereits wieder zur Tagesordnung über und planen den Bau neuer Atomkraftwerke. Und auch bei uns wird es nicht lang dauern, bis man wieder laut über den Ausstieg vom Ausstieg nachzudenken beginnt.

I
Jesus weint über Jerusalem. Ist auch er überspannt und über-ängstlich, wenn er die Zerstörung der Stadt prophezeit und sie deshalb zum Frieden mahnt?
Wir wissen heute, dass Jesus diese Worte von einer späteren Generation in den Mund gelegt bekam. Einer Generation, die erlebt hat, wie die Römer den jüdischen Widerstand auf der Festung Massada brachen, Jerusalem eroberten und den Tempel zerstörten. Im Jahre 70 nach Christus war das, eine ganze Generation nach dem Tod Jesu.
Aber möglicherweise hat Jesus selbst so etwas ähnliches gesagt; sonst hätte man ihm diese Prophezeiung wohl nicht zugeschrieben.
Ich kann mir gut vorstellen, dass Jesus über Jerusalem geweint hat.
Auch heute ist einem zum Weinen zumute, wenn man an Jerusalem denkt: dass es keinen Frieden geben kann zwischen Israelis und Palästinensern.

Die Stadt Jerusalem mit ihrer bewegten Geschichte ist ein heiliger Ort für alle Religionen, ein Hoffnungsort. Jerusalem steht aber auch für einen Dauerkonflikt, für die Unmöglichkeit des Friedens. Diese Spannung kann einem das Herz zerreißen. Auch deshalb, weil man die Unfähigkeit zum Frieden überall findet, in jedem Land, zwischen den unterschiedlichsten Gruppen.
Der Krieg, der von unserem Land ausgegangen ist und der auf unser Land in einer bis dahin unvorstellbaren Härte zurückgeschlagen ist, war offenbar nicht abschreckend genug. Seit diesem Krieg, dessen Überreste wir an einigen Stellen immer noch vor Augen haben oder im Boden finden, sind zahllose weitere Kriege geführt worden und werden geführt. Krieg wird nach wie vor als politisches Mittel angesehen, obwohl man es besser wissen müsste.

Wie kommt es, dass die Tränen Jesu über Jerusalem kaum jemanden rühren?
Wie kommt es, dass kaum jemand in den Schwur einstimmt „Nie wieder Krieg!“, dem unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg so viele zugestimmt haben?
Liegt es daran, dass jemand, der Tränen über Ungerechtigkeit und Friedlosigkeit weint, jemand, der Krieg als Mittel der Politik ablehnt, als weltfremd angesehen wird, als überspannt und über-ängstlich?

II
Es ist doch immer wieder gut gegangen. Die Mahner und Warner, die Ängstlichen und die an der Ungerechtigkeit Leidenden hatten bisher immer wieder Unrecht. Oder jedenfalls ist es nicht so schlimm gekommen, wie sie behauptet oder befürchtet hatten. Es ist doch immer wieder gut gegangen, irgendwie haben es die Politiker, die Verantwortlichen hingekriegt. Und sie werden es auch in Zukunft hinkriegen, irgendwie. Es wird auch in Zukunft immer irgendwie gut gehen, keine Bange! Auf allen Ebenen, in allen Gremien, Firmen, Vereinen und Betrieben sitzen Leute, die uns die Ängste ausreden und uns auf die „Selbstheilungskräfte des Marktes“ verweisen, auf Studien, die belegen, dass der Klimawandel gar nicht kommt, Gentechnik völlig ungefährlich ist und Atommüll sicher entsorgt werden kann.
Man darf nur nicht nach dem Preis fragen, den diese Haltung hat.
Man darf nicht nach dem wahren Grund fragen, der unter und hinter den Beschwichtigungsformeln liegt.

Kein Krieg auf der Welt wurde jemals geführt, weil es dabei um höhere Ziele ging. Es ging nur um Macht und Geld. Es geht immer nur um Macht und Geld - wenn sich mit dem Krieg nichts verdienen ließe, würde es keinen Krieg mehr geben. Auch bei der Atompolitik, bei der Gentechnik geht es immer nur ums Geld und dessen Vermehrung - sonst würde niemand Geld in deren Erforschung stecken.

Solange Geiz geil ist und Gier gut, solange das, was über Jahrhunderte als Todsünde galt, salonfähig, ja, das einzig Wahre ist - solange bleiben einem nur die bitteren Tränen, die Jesus nicht nur über Jerusalem weint, sondern auch über uns. Weil wir auf diese Sprüche hereinfallen und nicht erkennen, was dem Frieden dient.

III
Das Evangelium des heutigen 13. Sonntages nach Trinitatis ist eigentlich eine andere Geschichte. Eine, die Sie alle kennen: Die Geschichte vom Barmherzigen Samariter. Darin erzählt Jesus von einem, der unter die Räuber fiel, ausgeraubt und halb tot geschlagen wurde. Und dann ausgerechnet von einem Samariter gerettet wurde, während Priester und Levit den armen Mann sich selbst überlassen hatten. Jesus stellt am Ende seiner Geschichte die Frage:
„Wer, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber fiel?“
Die Antwort lautet: „Der die Barmherzigkeit an ihm tat.“

Barmherzigkeit - ein altertümlicher, unmoderner Begriff. Oder haben Sie schon mal gehört: „Barmherzigkeit ist geil!“? Barmherzigkeit, das Wort kommt vom warmen Herzen, das in der Lage ist, mit den Mitmenschen zu fühlen. Das in der Lage ist zu fragen, welche Folgen mein Handeln für meine Mitmenschen hat, und ob ich ihnen diese Folgen zumuten kann.

Wenn man in großen Dimensionen denkt - mit Begriffen wie „Allgemeinwohl“ oder „Wachstum“, kann man auf Einzelne keine Rücksicht nehmen. Da geraten die Schicksale Einzelner schon mal aus dem Blick. Dafür gibt es dann ja eine Lösung, die vielen Vorteile bringt. Die Einzelnen sind Einzelfälle, die unvermeidlichen Kollateralschäden, die eben entstehen, die man akzeptieren und hinnehmen muss, solange es andere trifft und nicht einen selbst. Hauptsache, der Handel blüht, die Wirtschaft profitiert davon, das Posten- und Pöstchenkarussell dreht sich munter weiter.

Barmherzigkeit aber interessiert sich hartnäckig für die Einzelschicksale. Barmherzigkeit hält weltfremd den Blick gesenkt - und so auf die gerichtet, die vom Rad des Fortschritts überrollt wurden: Barmherzigkeit interessiert sich für die Verlierer der Verteilungskämpfe, für die Opfer der Wirtschaftspolitik, für die, die zerschlagen am Wegrand liegen.
Damit lässt sich kein Geld verdienen. Damit lässt sich auch kein Staat machen.
Darum taugt Barmherzigkeit nicht für die Wirtschaft, und auch nicht für die große Politik. Sie ist nur was für die Träumer und für die Ängstlichen. Für die, die auch im Kino weinen müssen, oder denen beim Blick auf Jerusalem die Tränen kommen.

IV
Unsere Gesellschaft ist unbarmherzig. Sie muss es zwangsläufig sein, denn sie kann sich Barmherzigkeit nicht leisten. Das rechnet sich nicht. Wer sich hinunterbeugt zu den Verlierern und den Opfern, der wird selber zum Verlierer, zum Opfer, weil er sich der Macht begibt, die er eben noch hatte. Und wer auf diese Menschen Rücksicht nehmen will, wer möchte, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt, der zahlt am Ende drauf. Der kann nichts verdienen, der kann nur sehr viel verlieren.

Unbarmherzigkeit aber führt immer wieder zu Konflikten. Wir haben das in den Banlieus französcher Städte gesehen und aktuell in London. Wir erleben es im alltäglichen Streit in der Schule, mit den Kollegen oder den Nachbarn. Unbarmherzigkeit dient nicht dem Frieden; sie führt über kurz oder lang zu Streit und Gewalt.

Unsere Gesellschaft ist unbarmherzig. Diese Spannung kann einem das Herz zerreißen. Aber das wäre schon ein erster Schritt: Wenn die harte Schale unseres Herzens aufrisse und das weiche, verletzliche, warme Herz darunter zum Vorschein käme, dann würde uns das Schicksal Einzelner anrühren. Dann würden wir nicht nur Erleichterung empfinden, dass wir nicht in den Assedörfern wohnen, dass wir nicht zu den Hartz IV-Empfängern gehören, dass wir noch einen sicheren Job oder eine gute Rente haben. Sondern wir würden auch fragen, wie sich die wohl fühlen, denen es anders geht. Und ob wir es ihnen zumuten wollen und zumuten können, so zu leben.

V
Es ist gut und wichtig, dass es die Sirenen gibt - auch wenn sie bei manchen Menschen schmerzhafte Erinnerungen wachrufen. Die Sirenen rufen uns wach. Sie rufen uns ins Bewusstsein, dass in diesem Augenblick Menschen in Not sind und Hilfe brauchen. Sie rufen nach unserer Barmherzigkeit.

Es ist gut, dass es Menschen gibt, die sich von den Sirenen rufen lassen. Die mitten in der Nacht aus ihrem Bett und in die Kleidung springen, um innerhalb von Minuten auf dem Löschfahrzeug zu sitzen und zu Hilfe zu eilen. Es ist gut, dass es die Kameradinnen und Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr gibt.

Es wäre gut, wenn auch wir uns bewegen ließen, wenigstens ab und an mal nach denen zu fragen, die in den Rechnungen herausgestrichen werden, weil es auf die Stellen hinterm Komma nicht ankommt. Es wäre gut, wenn wir uns fragten, wie man sich fühlt, wenn man als jemand hinterm Komma angesehen wird, als jemand, auf den es nicht ankommt, und ob wir so jemand sein möchten.

Wenn wir zu der Lösung kommen, dass wir auf keinen Fall jemand sein wollen, der nicht zählt und auf den es nicht ankommt, wäre es gut, wenn wir daraus Konsequenzen ziehen würden: Selbst niemanden mehr in diese Lage bringen. Und uns für Menschen einsetzen würden, die man ins Abseits gestellt, an den Rand gedrängt hat.
Vielleicht denken Sie daran, wenn Sie nächstes Mal eine Sirene hören ...