Montag, 26. Dezember 2011

Dazugehören - Predigt am 1. Weihnachtstag

Predigt am 1.Weihnachtstag, 25.12.2011, über 1.Johannes 3,1-6:

Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist. Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht. Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.


Liebe Gemeinde,

das Schönste an Weihnachten,
wenn auch nicht das Wichtigste, ist die Bescherung.
Gestern abend wurden die Geschenke überreicht,
ausgepackt und bewundert.
Auch heute und morgen war und ist noch einmal Gelegenheit,
bei Eltern oder Schwiegerelten,
bei Kindern oder Enkelkindern
die Freude des Schenkens und beschenkt Werdens zu erleben.

Eine Frage, die dabei immer wieder gestellt wird,
lautet: gefällt es dir?
Es ist keine wirkliche Frage,
denn man erwartet natürlich nicht die Antwort
"Nöö, überhaupt nicht!"
Das weiß jeder so Befragte,
und deshalb heißt es auch pflichtschuldig:
"Oh jaaa, seeehr, vielen Dank!"

Manchmal, wenn man etwas sehr Schönes,
etwas sehr Teures oder sehr Besonderes überreicht,
wird man gefragt: "Ist das für mich?"
Auch das ist eine Frage,
deren Antwort schon im Vornherein feststeht:
Natürlich ist das für dich.
Es steht ja Dein Name drauf.

Warum stellt man solche eigentlich überflüssigen Fragen?
Ganz überflüssig sind sie ja nicht.
Man fragt damit schon etwas ab.
Mit der ersten Frage: "Gefällt es dir?"
möchte man bestätigt bekommen,
dass man dem anderen eine Freude gemacht hat.
Deshalb kann man guten Gewissens auch dann mit Ja antworten,
wenn der Geschmack nicht hundertprozentig getroffen wurde.
Denn gefreut hat man sich ja in jedem Fall.
Erst im Nachhinein zeigt sich,
ob das Geschenk tatsächlich angekommen ist:
Dadurch, dass es benutzt und nicht achtlos in eine Ecke gestellt
oder gar im nächsten Jahr weiter verschenkt wird
- hoffentlich nicht an den, von dem man es bekam!

Mit der zweiten Frage: "Ist das für mich?"
drückt man seine Überraschung aus,
etwas so Besonderes, Wertvolles, Schönes zu erhalten.
Und zugleich seinen Zweifel, ob man das denn verdient.
Die Frage soll diesen Zweifel zerstreuen,
soll ausdrücklich bestätigen, was das Geschenk schon sagte:
Dass man schön ist.
Dass man jemand Besonderes, jemand Wertvolles ist.


II
Man stellt oft solche Fragen, nicht nur an Weihnachten,
zur Bescherung.
Nicht immer spricht man sie aus,
aber unausgesprochen sind sie doch gegenwärtig.
Zum Beispiel die Frage: "Liebst du mich?"
Oder die Frage: "Traust du mir das zu?"

Kleine Kinder wollen wissen, dass Mama oder Papa da sind.
Wenn sie sie nicht sehen, rufen sie nach ihnen.
Das ist die kürzeste aller Fragen: "Mama?" "Papa?"

Eine wichtige Frage, die man sich immer wieder stellt,
die man fast nie ausspricht,
die man aber auch immer wieder wortlos gefragt wird, lautet:
"Gehöre ich dazu?" - "Gehört der, gehört die dazu?"

Wir Menschen sind soziale Wesen.
Wir leben in Familien, in Gruppen, in Gemeinschaften.
Dazuzugehören ist für uns fast genauso wichtig wie
geliebt zu werden.

Auch deshalb ist Weihnachten ein so wichtiges Fest:
Wenigstens an diesem Tag im Jahr kommt die ganze Familie zusammen,
werden, allen Nervereien und Scharmützeln zum Trotz,
die Familienbande gefestigt.
Wie bei Harry Potter, der in den Schulferien immer bei seiner Familie sein muss,
die er nicht mag und die ihn hasst,
durch die aber der Schutz erhalten bleibt,
mit dem seine Mutter ihn versehen hat.
In diesem Zwiespalt erlebt sich mancher an Weihnachten:
Die Familie ist so anstrengend - aber es ist doch auch schön,
wenn alle wieder zusammen sind,
und man braucht ihn, diesen Rückhalt der Familie,
das Dazugehören.

Dazuzugehören ist wichtig, beinahe lebenswichtig.
Jeder fürchtet die Rolle des Außenseiters,
mit dem keiner spielen, mit dem niemand befreundet sein will;
wer sie erlebte, hat darunter gelitten.
Die vielen Vereine und Gruppen,
denen man so angehört, dienen neben ihren Zielen
des Taubenzüchtens oder der Heimatpflege,
des Gesangs oder des Sports
vor allem der Geselligkeit und der Gemeinschaft.

III
Die Kirche ist in diesem Sinne nicht anders als ein Verein.
Auch hier geht es um die Frage: "Gehöre ich dazu?"
Aber hier wird die Frage gleich in einem doppelten Sinn gestellt:
Gehöre ich zur Gemeinde?
Und: Gehöre ich zu Gottes Familie? Bin ich ein Kind Gottes?

Der Predigttext antwortet auf diese zweite Frage
mit einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig lässt:
"Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen,
dass wir Gottes Kinder heißen sollen - und wir sind es auch!"

Deutlicher kann man es doch wohl nicht ausdrücken.
Wir heißen nicht nur Gottes Kinder, wir sind es.
Wir sind Töchter und Söhne Gottes,
von Gott adoptiert durch die Taufe,
in der Gott uns sagt, was er seinem eigenen Sohn
bei dessen Taufe sagte:
Du bist mein lieber Sohn, du bist meine liebe Tochter,
an dir habe ich Wohlgefallen.

Durch die Taufe werden wir Gottes Kinder.
Und bleiben es, lebenslang.
Das Siegel der Taufe, obwohl nur mit Wasser aufgedrückt,
kann niemals abgewischt werden, von niemandem.
Man kann die Taufe nicht verlieren,
auch nicht durch einen Kirchenaustritt,
und sie kann einem auch nicht aberkannt werden.
Wir sind und bleiben Gottes Kinder, Punkt.
Das kann uns niemand nehmen.

Aber gehören wir deswegen schon dazu?
Gehören wir, das war die erste Frage, zur Gemeinde?
Beobachten wir, wie sich Gottesdienstbesucher verhalten:
Wenn man als Fremder in eine Kirche kommt,
setzt man sich nicht in die erste Reihe.
Wer weiß, wessen Platz das ist.
Als Fremder stellt man sich besser hinten an.
Man möchte ja nicht die Peinlichkeit erleben,
vor aller Augen seines Platzes verwiesen zu werden.

Also setzt man sich nach hinten.
Da kann man dann auch schön beobachten,
wie die Gemeinde nach und nach eintrudelt.
Wie sich manche begrüßen, und wie manche übersehen werden,
wie kurz oder wie lang man miteinander spricht,
wie die einen umarmt werden - und die anderen nicht.
Man kann beobachten, wer den Pastor, die Pastorin kennt,
und auf wen sie zugeht
So bekommt man schnell ein Gespür für das Netzwerk der Gemeinde,
für die wichtigen, die maßgeblichen Leute, und für die Außenseiter.

IV
Wir sind Gottes Kinder, adoptiert durch die Taufe.
Darum gehören wir fraglos und selbstverständlich zur Gemeinde.
Und doch fragt man sich, auch - oder gerade -
in der Kirche immer wieder, ob man tatsächlich dazu gehört.
Woher kommt diese Unsicherheit, dieser Zweifel?

Möglicherweise sät ihn der Predigttext selbst,
wenn er sagt:
"Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;
es ist aber noch nicht erschienen, was wir sein werden."

Wir sind Gottes Kinder - aber irgendwie sind wir es auch nicht,
weil ja noch gar nicht heraus ist, was wir sein werden?
Ist das gemeint?

Wie ist, oder wie wird man denn "jemand"?
Darauf wird es wohl unterschiedliche Antworten geben.
- Man ist jemand, wenn man es zu etwas gebracht hat:
Ein Beruf mit gutem Einkommen. Ein Haus. Eine Familie.
- Bei der Bank ist man jemand,
wenn man ein festes Einkommen hat.
Und je besser das Einkommen, je höher die Einlagen,
desto angesehener ist man dort.
- Im Verein ist man jemand, wenn man schon sehr lange dabei ist,
wenn man sich besonders einsetzt
oder wenn man ein Amt innehat.
- In der Gesellschaft ist man jemand,
wenn man in der Zeitung steht, am besten mit Foto.
Und wenn man dann sogar im Fernsehen zu sehen ist,
dann hat man es geschafft.
- Mit einem Titel ist man jemand,
der "Herr Doktor" oder die "Frau Professorin".
- Man ist jemand, wenn man in besondere Clubs aufgenommen wird,
oder wenn man mit Leuten befreundet ist,
die schon "jemand" sind.

"Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder;
es ist aber noch nicht erschienen, was wir sein werden."

Bei Gott sind wir jemand, ohne jemand zu sein.
Wir wurden als Kinder, als Babys, getauft,
als wir noch unbeschriebene Blätter waren, "Nobodys".
Wir sind jemand, weil wir Gottes Kinder sind.
Und, ehrlich gesagt,
etwas besseres können wir doch gar nicht sein!

Und gleichzeitig ist noch offen, was wir sein werden.
Wir werden nicht darauf festgelegt,
wie wir zu sein haben,
wie wir uns kleiden müssen,
was wir zu denken, zu meinen, zu glauben haben.

Allerdings - eine Regel gibt es:
"Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht."
Wer zu Gott gehört, der bemüht sich darum,
nichts zu tun, was ihn von Gott trennt.
Man ist ja auch nicht Mitglied in einer Partei,
und wählt dann eine andere.

Und man trennt sich ja nicht willentlich von dem,
der einen annimmt so, wie man ist,
in dessen Augen man "jemand" ist -
ja, mehr als das: ein über alle Maßen geliebter Mensch.

V
Gehöre ich dazu?
Die Bibel sagt: Ja!
Ja, du bist ein Kind Gottes.
Diese Kirche ist auch dein Zuhause.

Aber wir untereinander ---
wir grenzen uns ab, wir grenzen aus.
Unsere Blicke und Gesten sagen oder fragen:
"Na, gehörst DU dazu?" - "Gehört DIE etwa zu uns???"

"Darum kennt uns die Welt nicht,
denn sie kennt ihn nicht."

Wo Menschen ausgegrenzt werden,
wo man nach Zugehörigkeit fragt,
wo man jemanden nicht kennen will,
da hat man Gott nicht verstanden.
Da hat man nicht begriffen, dass die Botschaft Jesu
von der grenzenlosen Liebe Gottes
nicht nur mir gilt, sondern ebenso meinen Mitmenschen -
ja, ihnen ganz besonders.
Da hat man nicht erkannt, dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist.

Zugleich kommt in diesem Satz
"darum kennt uns die Welt nicht" zum Ausdruck,
dass Christinnen und Christen nicht ganz von dieser Welt sind.
Sie sind immer ein wenig Außenseiter.
Sie gehören nicht wirklich dazu.

Wenn wir, wie Jesus es uns zusagt (Matthäus 5,13),
Salz der Erde sind,
dann würzen wir ja nicht, weil wir so sind wie alle anderen.
Christinnen und Christen würzen die Welt,
weil und indem sie anders sind.
Weil sie glauben.

Mit ihrem Glauben daran, dass wir alle Gottes Kinder sind,
stehen sie denen im Weg,
die Menschen übervorteilen und ausnutzen,
die ihre Interessen rücksichtslos durchsetzen.

Mit diesem Glauben sind sie sich nicht zu schaden,
sich gemein zu machen mit denen,
die in der Gesellschaft nichts gelten,
mit denen, die angeblich "überflüssig" sind.

Mit diesem Glauben lassen sie sich nicht blenden von Titeln,
Ämtern, Popularität,
lassen sie sich nicht einschüchtern von "großen Tieren",
von Rechthabern und Demagogen.

Mit diesem Glauben ist es ihnen gleichgültig,
ob sie in den Augen anderer "jemand" sind.
Hauptsache, Gottes Augen leuchten,
Gottes Antzlitz strahlt, wenn er uns anblickt.
Und das tut es.

Amen.