Samstag, 4. Februar 2012

Über Angeber - Predigt zum Sonntag Septuagesimae, 5.2.2012

Predigt am Sonntag Septuagesimae, 05.02.2012 über Jeremia 9,22+23:

So spricht Gott:
Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
und ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.
Sondern wer sich rühmen will, rühme sich,
dass er Einsicht hat und mich kennt,
denn ich bin Gott,
der Gnade („Solidarität“), Recht und Gerechtigkeit tut auf Erden, denn daran habe ich Wohlgefallen, spricht Gott.


Liebe Gemeinde,

in der Schule ist vieles verpönt – petzen z.B., oder sich beim Lehrer anbiedern; man lernt sehr schnell, was man als Schüler „darf“ und was nicht, und passt sich entsprechend an. Man möchte nicht herausstechen aus der schützenden Gruppe, vor allem möchte man nicht stigmatisiert, als Außenseiter gezeichnet werden. Das schlimmste, was einem passieren kann, ist, als „Streber“ oder „Streberin“ zu gelten. Denn der Streber steht auf der untersten Sprosse der Hühnerleiter, er gilt sozusagen als vogelfrei. Und wie leicht kann man in diese Rolle geraten – wenn man zu oft gute Noten schreibt oder in zu vielen Fächern gut ist – außer natürlich in Sport; wenn man sich zu lebhaft für den Stoff interessiert; wenn man den Lehrer mag (es sei denn, er oder sie ist Liebling der ganzen Klasse) oder ihn gar persönlich kennt.
Die wirklichen Angeber in der Klasse haben dagegen nichts zu fürchten – im Gegenteil: Sie sind oft recht beliebt, weil sie für Stimmung sorgen, immer für einen Spaß auf Kosten anderer zu haben sind - oder weil man schlicht befürchtet, an ihrem Getue könnte doch etwas dran sein. Aber trotzdem bleiben sie natürlich Angeber, und deshalb sieht man auf sie herab und sagt das auch – wenn sie nicht in der Nähe sind.
Unsere Erfahrungen mit dem Rühmen machen wir sehr früh, schon in der Schule. Und da haben Angeber schlechte Karten – vor allem, wenn sie sich nicht mit Worten, sondern durch ihre Leistungen hervortun. Und so geht es unter uns zu wie bei den Krabben, die man getrost in einen Korb legen kann, ohne dass auch nur eine entwischt: sobald eine nach oben krabbeln und sich über ihre Artgenossen erheben will, wird sie von den anderen sofort wieder herunter gezogen.
Auch in der Kirche ist das Rühmen verpönt, und deshalb auch das Loben. Die christliche Demut fordert, dass man sich nicht über andere erhebt, sondern sich in die Gemeinschaft einordnet. Wer etwas leistet, wer etwas kann, darf nicht stolz darauf sein – er soll seine Leistung herunterspielen, sein Können möglichst unscheinbar machen, es heimlich anwenden, damit er keinen Neid weckt, niemandem „ein Ärgernis gibt“.

I
In diese Richtung scheint auch Jeremia zu zielen:
„Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit,
ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke,
und ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.“

Wer etwas weiß, wer etwas kann, wer etwas hat, darf nicht stolz darauf sein. - Ja, aber was soll er oder sie denn dann damit anfangen? Was macht die Weise mit ihrer Weisheit – soll sie alles wieder vergessen? Was macht der Starke mit seiner Stärke – soll er schwach werden? Und der Reiche – soll er seinen Reichtum verschenken?
Eine Antwort darauf fällt mir sofort ein – vielleicht, weil auch sie schon aus Schulzeiten stammt. Es ist die Antwort der schweigenden Mehrheit, der Gruppe; eine Antwort, die niemals ausgesprochen wird, aber immer als heimliche, stets fühlbare Forderung im Raum steht: Wer etwas weiß, kann oder hat, muss davon den anderen abgeben, muss es teilen.
Der „Streber“ rettet seinen Hals, wenn er den Nachbarn oder die Nachbarin abschreiben lässt. Wer das Glück hat, Süßigkeiten geschenkt bekommen zu haben, gibt gefälligst seinen Mitschülern davon ab. Nur die Starken sind von diesem Zwang zum Teilen ausgenommen – einmal, weil sie zu kräftig sind, um sich mit ihnen anzulegen. Dann, weil man im Sportunterricht nicht abschreiben oder sonst einander helfen kann – da muss jeder selber sehen, wie er eine gute Note bekommt.
Auch diese stillschweigende Forderung der Gruppe verinnerlicht man schon zu Schulzeiten, und man vergisst sie sein Lebtag nicht: Wer sein Wissen, sein Können, seinen Besitz mit anderen teilt, der ist gut und gehört dazu; wer alles für sich behält, der ist schlecht und wird verworfen.
Das bekommen – paradoxerweise – gerade die Schwächeren und Schwachen zu spüren. Denn an die wirklich Starken traut sich niemand heran, die wirklich Reichen wagt niemand mit dem Anspruch zu konfrontieren, sie müssten etwas abgeben, und den Weisen ist es sowieso gleichgültig, was andere über sie denken.
Also könnte man Jeremias Worte als – freilich hilflosen – Versuch verstehen, den wirklich Starken ins Gewissen zu reden, sie zum Einlenken zu bewegen, zum Einordnen in die Gemeinschaft der Gruppe? Vielleicht müssen wir zu verstehen versuchen, was mit „Rühmen“ überhaupt gemeint ist, um Jeremias Worte richtig zu hören.

II
„Rühmen“ hat für die Bibel nichts mit „Angeben“ zu tun, also nichts mit dem bloßen Vortäuschen von Wissen, Macht oder Reichtum. Wer aber tatsächlich etwas kann, etwas besitzt oder etwas weiß, der kann nicht so tun, als hätte er es nicht - auch das wäre ja eine Täuschung. Und das soll er auch nicht: „Es kann die Stadt, die auf einem Berg liegt, nicht verborgen bleiben“, sagt Jesus (Mt 5,14), und „man stellt ein Licht nicht unter einen Eimer, sondern auf einen Leuchter, damit es allen leuchtet, die im Haus sind“ (Mt 5,15). Wer etwas hat, darf es zeigen – soll es sogar zeigen, wenn es die Hausgenossen erfreut, wenn es „leuchtet“.
Für das „Rühmen“ gilt also gerade nicht das Sprichwort: „Große Klappe, nichts dahinter“ – denn der, der sich rühmt, hat ja etwas vorzuweisen: Weisheit. Macht. Reichtum. Und zwar in solchem Maß, dass er es öffentlich zeigen und sich darauf verlassen kann, dass er sich damit nicht blamiert: Wer sich seiner Weisheit rühmt, muss wirklich mehr wissen als die anderen – wie lächerlich würde er sich sonst machen, könnte man ihn der Unwissenheit überführen! Der Mächtige muss sich seiner Macht und Stärke sicher sein, bevor er andere damit herausfordert – sonst ist es mit seiner Macht bald vorbei. Und auch der Reiche muss wirklich viel besitzen, damit ihn nicht gleich ein Reicherer
aussticht und man ihn als Angeber verspottet.
Wer sich rühmt, der hat oder kann also wirklich etwas, - und nicht nur etwas, sondern mehr als genug: so viel, dass er sich darauf verlassen kann. Dass sein Wissen, seine Kraft oder sein Besitz zum Fundament seines Handelns wird, ohne dass er noch viele Rücksichten nehmen muss. Wer wünschte sich nicht manchmal im Geheimen, so mächtig zu sein, dass ihm keiner frech die Stirn bieten kann, dass er das, was ihn am meisten ärgert, ändern, es dem schlimmsten Widersacher „zeigen“ kann!
Genau davor aber warnt Jeremia: Sich zu verlassen auf Weisheit, Macht oder Reichtum. Sich so unabhängig zu fühlen, dass man auf niemanden und nichts mehr Rücksicht nehmen muss. Statt dessen rät – ja, bittet, bettelt, droht und mahnt Jeremia, nicht nur hier, sondern in seinem ganzen Prophetenbuch -, genau das Gegenteil zu tun: sich auf Gott zu verlassen, sich Gottes zu rühmen und also alles von ihm zu erwarten.
Aber es wird ihm schwer fallen, Gehör zu finden. Weisheit, Macht und Reichtum, wenn man sie in ausreichender Menge besitzt, sprechen für sich. Die Erfahrung lehrt, dass man sich darauf verlassen kann – bis heute. Gott aber ist nicht zu beweisen, und seine Macht kann man nicht so einfach demonstrieren wie Weisheit, Stärke oder Reichtum.
Doch die Weisheit, die keines Rates, keiner Korrektur mehr zu bedürfen glaubt, wird unbarmherzig. Die Macht, wenn sie zu groß wird, beugt das Recht, weil sie sich alles erlauben zu können meint. Und der Reichtum verletzt die Gerechtigkeit, denn Geld und Besitz kann man nicht beliebig vermehren - was einer hat, haben ihm viele andere gegeben – oder es wurde ihnen genommen.

III
Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit – das sind die Dinge, die Gott liebt. Aber Gott setzt sie nicht durch – jedenfalls nicht mit Feuer und Schwert, nicht mit Druck von oben. Wenn Gott Gnade, Recht und Gerechtigkeit übt, dann im Stillen, vermittelt durch Menschen, ohne Anwendung von Gewalt oder Macht. Und damit hat es die Mahnung Jeremias schwer, sich gegen den so offensichtlichen Erfolg von Weisheit, Macht und Reichtum als Grundlage menschlichen Handelns zu behaupten.
Aber eines können weder tiefste Weisheit, noch größte Macht besiegen, und alles Geld der Welt kann sie nicht kaufen: Die Zeit. Dass unser Leben der Vergänglichkeit unterworfen ist, dass wir sterben müssen – das trifft alle, einfache Leute und Herrschaften, Starke und Schwache, gleich.
Und auch Liebe und Glück sind durch unsere Fähigkeiten weder zähmbar, noch können wir sie bewegen, bei uns zu bleiben. Deshalb hat Jeremias Botschaft vielleicht doch eine Chance, wird sein Werben
„wer sich rühmen will, rühme sich, dass er Einsicht hat und mich kennt, denn ich bin Gott“
vielleicht doch gehört.
Einsicht, Erkenntnis Gottes, bedeutet zunächst, einzusehen, dass uns Wissen, Macht und Besitz nichts nützen, dass sie die Last eines Lebens nicht tragen können, sondern daran zerbrechen wie wurmstichige Balken. - Aber woran soll man sich denn halten, wenn man jede Stütze, jedes Seil aus der Hand gibt?
Was beim Wandern in den Bergen purer Leichtsinn wäre, das ist im Leben der einzige Weg, wirklich frei zu sein: Sich ganz auf Gott zu verlassen und alles von ihm zu erwarten.
Damit ist nun nicht gemeint, sich vor den leeren Tisch zu setzen und auf ein Wunder zu hoffen, oder wie im Märchen vom Sterntaler mit dem geschürzten Hemd auf die milde Gabe von oben zu warten. Es geht um eine Haltung, um eine Einstellung zum Leben – darum, ob man sich selbst als seines Glückes Schmied ansieht, ob man auf materielle Dinge vertraut. Oder ob man es schafft, all diese Sicherheiten los- und sich beschenken zu lassen.
Erst wenn ich meine Weisheit, meine Macht, meinen Besitz als Geschenk ansehe – und nicht als etwas, auf das ich Anspruch hätte – erst dann finde ich den rechten Umgang damit. Dann werde ich die Weisheit nicht gepachtet haben, sondern auch mit dem Irrtum rechnen, werde mir raten, mich korrigieren lassen – und so fähig sein zur Barmherzigkeit. Wenn mir klar ist, dass mir meine Macht nur von Gott geliehen ist, werde ich sie verantwortungsvoll einsetzen – und nicht, um mir damit einen Vorteil zu verschaffen. Wenn mir bewusst ist, dass ich reich bin, weil viele andere arm sind, dann werde ich verantwortungsvoller mit meinem Geld umgehen.

IV
Wer sein Leben aus Gottes Hand nimmt, ist nicht vor allem Übel gefeit, wird nicht ohne Leid, ohne Schmerzen durchs Leben gehen – vielleicht wird es ihm sogar schlechter gehen als manchem, der lieber seiner Kraft, seinem Geld oder seinem Wissen vertraut als einem Gott, den man nicht sehen und nicht anfassen kann.
Wer sich aber von Gott gehalten und getragen weiß, der ist wirklich frei. Und der darf sich auch mit gutem Gewissen an dem freuen, was Gott ihm an Gaben gegeben hat. Der darf erhobenen Hauptes durchs Leben gehen, seine Erfolge feiern und auf sein Tun stolz sein. Denn das Entscheidende, das allein für unser Leben Wichtige hat Gott schon längst getan. Gott hat zu jedem Menschen und seinem Leben sein Ja gesagt, wie er es auch zu uns allen gesagt hat. Und mit diesem Ja hat Gott uns alles geschenkt, was man sich wünschen kann: Das Leben, Gnade, Recht und Gerechtigkeit.
Von diesen reichlichen Geschenken, aus dieser überschwäng- lichen Liebe Gottes leben wir. Wir haben einen Schatz, den wir unser Leben lang nicht aufbrauchen können. Die Gaben, die Gott uns verliehen hat, sollen uns erfreuen, wenn wir sie anwenden, damit es hell wird unter uns. Und das Wissen und die Erkenntnis schließlich, dass wir das alles von Gott haben, soll uns barmherzig machen – barmherzig gegenüber allen Neidern, allen Strebern und Aufschneidern. Barmherzig gegenüber allen Menschen, die Trost, Liebe und Beistand brauchen.
Denn einer sieht unser Tun, und er ist stolz darauf – so stolz, wie es nur ein Vater oder eine Mutter sein können. Gott sieht unsere kleinste Tat, unsere geringste Leistung, und er macht sie ganz groß, so dass wir uns seiner rühmen können jeden Tag.

Amen.