Samstag, 18. Februar 2012

Schuldgeständnis - Predigt über Amos 5,21-24


Predigt am Sonntag Estomihi, 19.2.2012, über Amos 5,21-24:

Ich bin euren Feiertagen gram und verachte sie
und mag eure Versammlungen nicht riechen.
Und wenn ihr mir auch Brandopfer und Speisopfer opfert,
so habe ich kein Gefallen daran
und mag auch eure fetten Dankopfer nicht ansehen.
Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder,
denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!
Es ströme aber das Recht wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.


Liebe Gemeinde,

ganz schön starker Tobak, diese Worte des Propheten Amos!
Arrogant wettert er von seiner Kanzel gegen das,
was Menschen zu Gottes Ehre veranstalten
im guten Glauben, dass sie Gott damit einen Dienst erweisen.
Amos schmäht im Namen Gottes
das Begehen von Feiertagen
und das Zusammenkommen zum Gottesdienst,
macht die Opfer schlecht, die man Gott so bringt,
und verunglimpft das Singen im Gottesdienst als "Geplärr".

Nun ist das alles lange her.
Amos hat im 8. Jahrhundert vor Christus gelebt und gepredigt,
in der Eisenzeit, als bei uns im Land die Kelten hausten.
Das ist wirklich schon eine Ewigkeit her.
Wir hören diesen uralten Text heute,
aber er kommt uns - sieht man mal vom Opfern ab -
gar nicht so alt und weit weg vor.
Das liegt nicht daran,
dass wir etwa gerade nicht schön gesungen hätten.
Sondern daran, dass das, worum es Amos geht,
ziemlich aktuell ist.
Man könnte es geradezu als Kommentar zu den jüngsten politischen Ereignissen hören und verstehen.
Aber es ist mehr als das.
Amos beschreibt ein Grundmuster menschlichen Verhaltens,
das sich seit der Eisenzeit nicht verändert hat,
aller Entwicklung, allem Fortschritt zum Trotz.
Es geht um unseren Umgang mit Recht und Gerechtigkeit,
bzw. um den Umgang mit ihrem Gegenteil,
mit Unrecht und Ungerechtigkeit.
Vor allem mit Unrecht, das wir begingen.

I
In der Kirche wurde dieses Thema über Jahrhunderte unter den Begriffen "Schuld" und "Sünde" behandelt.
Diese beiden Begriffe, besonders die "Sünde",
sind heute aus der Mode gekommen.
Man muss das nicht bedauern.
Man muss nicht den Zeiten nachtrauern,
als es zum Christsein gehörte, sich schuldig zu fühlen
und sich ständig vor Augen zu halten:
Ich bin eine Sünderin, ich bin ein Sünder.

Gut, dass die Zeiten vorbei sind,
als Christen am leicht gebeugten Gang zu erkennen waren;
als sie es kaum wagten, das Kreuz durchzudrücken
und anderen geradewegs ins Gesicht zu sehen,
weil sie sich so abgrundtief schlecht, verderbt und schuldig fühlten.

Es ist auch kein Malheur,
dass die Beichte kaum noch stattfindet,
bei der vor allem Jugendliche sich krampfhaft überlegen mussten,
was sie eingestehen konnten.
Sie waren sich keiner Schuld bewusst,
aber das durfte ja nicht sein.

Doch wie das so ist, wenn Dinge aus der Mode kommen:
Es hat immer zwei Seiten.
Der Verlust des dauerhaft schlechten Gewissens
und die Gewinnung des aufrechten Ganges
waren und sind eine Befreiung.

Es ist aber zugleich aus der Mode gekommen,
zu tatsächlicher Schuld zu stehen,
Verantwortung für einen Fehler zu übernehmen,
den man gemacht hat,
und die Konsequenzen zu tragen.
Obwohl es Schuld und Sünde nicht mehr gibt,
möchte kaum jemand an etwas schuld sein.
Ob da ein Zusammenhang besteht?

II
"Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen",
hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein gesagt
(Trctatus Logico-Philosophicus, 7. Abschnitt).
Und wovon man nicht sprechen will, so müsste man ergänzen,
das muss man verschweigen.

Schuld ist etwas, das man gerne verschweigt.

Das klingt wie eine Binsenweisheit:
Schuld ist etwas, das man gerne verschweigt.
Ja, klar! Wer wird denn schon so blöd sein und eingestehen,
dass er, dass sie an etwas schuld ist!

Aber sollte uns das nicht stutzig machen?
Schließlich ist Schuld eine Tatsache.
Und trotzdem versuchen wir,
die Tatsache unserer Schuld zu verschweigen, zu leugnen
oder wenigstens zu relativieren, abzuschwächen.

Ein Beispiel:
Ich habe eine Tasse heruntergeworfen, sie ist zerbrochen.
Ich bin schuld, dass diese Tasse kaputt ist.
Daran gibt es nichts zu deuteln.
Und trotzdem werde ich versuchen,
sie zu verschweigen und, wenn das nicht geht,
mich herauszureden, meine Schuld zu leugnen:

Es ist aus Versehen passiert, war ja keine Absicht
(das wäre ja auch noch schöner!).

Oder: Die Tasse hatte sowieso schon einen Sprung.
Wenn sie den nicht gehabt hätte,
wäre sie vielleicht heil geblieben, und es wäre gar nichts passiert.

Oder, noch besser: Du hast mich erschreckt.
Ich bin vor Schreck zusammengezuckt,
und dadurch ist die Tasse heruntergefallen.
Hättest du mich nicht erschreckt, wäre sie jetzt noch heil.
Eigentlich bist du schuld, dass die Tasse kaputt ist.

Wir machen uns unglaublich viel Mühe damit,
davon abzulenken, dass wir an etwas schuld sind.
Warum eigentlich?
Warum ist es so schwer, Schuld einzugestehen,
dass wir lieber alle Hebel in Bewegung setzen,
um unsere Schuld zu vertuschen,
als diesen einen Satz zu sagen: Ich war's?
Was könnte denn Schlimmes passieren,
wenn man Schuld gesteht?

III
Ich glaube, es ist die Angst vor den Konsequenzen.
Wer Schuld eingesteht, der begibt sich in eine Position,
in der er von einem anderen abhängig wird:
abhängig von dem, an dem er schuldig geworden ist.
Wenn ich dir eingestehe, dass ich die Tasse zerbrochen habe,
muss ich sie dir ersetzen.
Und wenn es deine Lieblingstasse war,
muss ich aushalten, dass du enttäuscht bist. Traurig.
Oder vielleicht sogar böse auf mich.
Vielleicht darf ich nie wieder eine Tasse von dir benutzen.
Oder vielleicht kündigst du mir sogar die Freundschaft auf!
(Naja, wohl nicht wegen einer zerbrochenen Tasse).
Solche Gedanken gehen einem im Kopf herum,
wenn man einem anderen gegenüber schuldig geworden ist.
Für "Tasse" kann man ein beliebiges Anderes einsetzen:
Ein Fenster. Ein Auto.
Aber auch: Das Vertrauen. Die Beziehung.

Es ist die Angst vor den Konsequenzen,
wegen derer wir alles versuchen,
unsere Schuld zu vertuschen oder wegzudiskutieren.
Wir wollen sie nicht auf uns nehmen,
die Konsequenzen, die wir tragen müssten,
wenn wir unsere Schuld eingestehen.
Denn dann gibt es kein Zurück mehr.
Dann sind wir dem anderen ausgeliefert.
Und der hält sich womöglich schadlos an uns,
fordert von uns eine Wiedergutmachung,
die wir uns gar nicht leisten können.

Aber noch mehr passiert, wenn wir Schuld eingestehen:
Wir verlieren unsere weiße Weste.
Wir verlieren an Ansehen, an Macht.
Vielleicht verlieren wir sogar unseren guten Ruf.
Die Konsequenzen aus dem Eingeständnis einer Schuld
könnten so groß sein,
dass wir sie nicht in Kauf nehmen wollen;
so groß, dass wir sie nicht tragen können.

Sie sehen: Es gibt gute Gründe,
Schuld zu leugnen oder zu relativieren,
und man ist gut beraten, auf keinen Fall zuzugeben,
dass man an etwas schuld ist.

IV
Wenn ich es gut mit Ihnen meinte,
müsste ich Ihnen eigentlich raten,
niemals irgendeine Schuld einzugestehen,
es sei denn, es gibt keine Möglichkeit, sie zu leugnen.
Aber auch dann, so müsste ich Ihnen dringend nahelegen,
sollten Sie alles tun, um diese Schuld zu relativeren,
abzuschwächen, auf andere abzuwälzen.

Aber ich kann Ihnen das nicht raten.
Und zwar nicht deshalb, weil es moralisch verwerflich wäre.
Das ist es zwar. Aber darum geht es Amos nicht.
Darum geht es dem Glauben nicht.
Es geht im Glauben nicht um moralisch richtiges Verhalten.
Sondern es geht um Recht und Gerechtigkeit.
Es ist schlicht und einfach ungerecht,
nicht zuzugeben, wenn man an etwas schuld ist.
Es ist ungerecht, weil es nicht die Wahrheit ist.
Und es fügt dem anderen zum Schaden
auch noch eine Verletzung zu:
die, ungerecht behandelt zu werden.
Diese Verletzung ist viel schlimmer
und wiegt viel schwerer als das,
was durch meine Schuld kaputt gegangen ist.

Ungerechtigkeit wirkt wie ein Gift.
Sie zerstört Gemeinschaft, sie zerstört eine Gesellschaft.
Und das Schlimme ist: Man gewöhnt sich ganz leicht daran.
So leicht wie an das Nikotin oder den Alkohol,
die ja auch Gifte sind.
Wer einmal gemerkt hat, wie einfach es ist,
Schuld abzuwälzen auf andere oder auf "die Umstände",
der tut das immer wieder, und jedes Mal wird es leichter.
Und schließlich wird es normal, Schuld nicht zuzugeben.
Versicherungsbetrug? Ein Kavaliersdelikt!
Steuerhinterziehung? Macht doch jeder!
Vorteilsnahme? Wer wird denn so kleinlich sein!

V
Ich kann Ihnen nicht raten, Schuld einzugestehen.
Denn ich weiß nicht, ob Sie die Konsequenzen tragen können,
und ob Sie sie tragen wollen.
Es gehört Mut dazu. Und Vertrauen.
Vielleicht kann nur der Schuld gestehen,
dem selbst einmal Schuld vergeben wurde.
Aber das ist ein Teufelskreis!, werden Sie sagen:
Wenn nur jemand Schuld gesteht, dem sie vergeben wurde,
dann gibt es niemanden, der Schuld gestehen kann,
weil man ja einmal den Anfang machen muss,
ohne dass man vorher Vergebung erfahren hat.

Gott sei Dank ist es kein Teufelskreis.
Denn Gott macht uns das Geschenk der Vergebung.
Gott vergibt uns, was wir bereuen.
Er macht es nicht ungeschehen.
Aber er macht uns deswegen nicht zunichte.
Es gibt keine Schuld,
mit der wir Gott nicht unter die Augen treten könnten.
Selbst wenn Menschen uns nicht vergeben können oder wollen,
Gott vergibt uns.
Ohne Bedingungen.
Ohne Strafe. Ohne Sühneleistungen.

Weil Gott uns vergeben hat,
darum kann man es wagen,
auch den Mitmenschen gegenüber Schuld einzugestehen
und die Konsequenzen zu tragen.
Dadurch wächst Vertrauen:
Dein Vertrauen, dass ich die Wahrheit sage,
und dass ich mich in deine Hände begebe.
Und mein Vertrauen, dass du mich nicht vernichtest,
wenn ich dir meine Schuld gestehe,
und meine Abhängigkeit nicht ausnutzt.

Ich kann Ihnen nicht raten, Schuld einzugestehen.
Aber ich möchte Ihnen Mut machen dazu.
Ich möchte Ihnen Mut machen,
das Geschenk der Vergebung anzunehmen,
das man erhält, wenn man die Wahrheit sagt
und seine Schuld bekennt.
Und ich möchte Sie dazu ermutigen,
anderen dieses Geschenk der Vergebung zu machen.

Wenn wir das wagen,
dann wird das Recht strömen wie Wasser
und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.
Amen.