Ansprache zum Abiturgottesdienst des Gymnasiums Gaussschule am 5. Juli 2012 um 18.00 Uhr in der Klosterkirche Riddagshausen über
Exodus 23,20: "Siehe, ich sende einen Engel vor dir her, der dich behüte auf dem Wege und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe" und 1.Petrus 1,5-7: "Wenn ihr Gott fest vertraut, wird er euch durch seine Macht bewahren, sodass ihr die volle Rettung erlangt, die am Ende der Zeit offenbar wird. Deshalb seid ihr voll Freude, auch wenn ihr jetzt – wenn es sein soll – für kurze Zeit leiden müsst und auf die verschiedensten Proben gestellt werdet. Das geschieht nur, damit euer Glaube sich bewähren kann, als festes Vertrauen auf das, was Gott euch geschenkt und noch versprochen hat."
Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
liebe Gemeinde,
jetzt beginnt der Ernst des Lebens.
Das hören Sie sicher nicht zum ersten Mal.
Für gewöhnlich wird man mit diesem Satz schon bei der Einschulung begrüßt.
Wenn man als ABC-Schütze mit der großen Schultüte im Klassenraum steht,
kann man sich nichts darunter vorstellen.
Noch versteht man nicht, was das bedeutet:
die Zeit der unbeschwerten Kindheit sei vorbei.
Nun werde es ernst. Nun müsse man sich anstrengen.
Aber allmählich erkennt man:
Lernen, anfangs eine spielerische, fröhliche Angelegenheit,
ist zur anstrengenden Dauerbeschäftigung geworden,
die einem auch zuhause keine Ruhe lässt.
Das Leben findet im strengen Rhythmus von
Schule, Hausaufgaben, Klausurvorbereitung statt.
Es geht um Leistung. Um gute Leistungen.
Wenn möglich um Bestleistungen.
Es geht darum, sich zu behaupten, den Lehrern aufzufallen,
sich auszuzeichnen womöglich.
Die Schule, das Leben sind kein Spaß mehr.
Sie sind Ernst geworden.
Sie wollen, müssen ernst genommen werden,
wenn man gute Startbedingungen für's Studium haben,
wenn man etwas aus sich machen, etwas erreichen will.
Nun haben Sie das alles erst einmal hinter sich gelassen.
Hinter Ihnen liegt eine Zeit großer Anstrengungen,
liegen Prüfungen und manchmal die bange Frage,
ob es reichte - zur angestrebten Note
oder überhaupt zum Bestehen der Prüfung.
Hinter Ihnen liegen Stunden des Paukens und Lernens,
Nächte, die Sie durchgearbeitet haben
- und Nächte, die Sie durchgefeiert haben, trotzdem.
Und dann die Reue und Selbstvorwürfe am nächsten Tag
wegen der verlorenen Zeit.
Jetzt haben Sie es hinter sich, dass Sie
"kurze Zeit leiden mussten
und auf die verschiedensten Proben gestellt wurden",
wie es im Predigttext heißt.
Jetzt genießen Sie das Ausschlafen und die Freizeit,
den Sommer, das Zusammensein mit Freunden,
einen Urlaub oder eine Reise als Belohnung Ihrer Mühen.
II
"Ein Schritt auf meinem Weg"haben Sie diesen Abiturgottesdienst überschrieben.
Mit dem Abitur sind Sie einen großen, einen wichtigen Schritt gegangen.
Dieser Gottesdienst in der Klosterkirche markiert einen Meilenstein auf Ihrem Lebensweg,
der Sie viel Kraft und Arbeit gekostet hat und auf den Sie stolz sein können.
So groß und bedeutend der Schritt des Abiturs heute ist -
wenn Sie später auf Ihr Leben zurückblicken,
wird er einer von vielen Schritten sein.
Das Abitur, das Ihnen heute so viel bedeutet,
wird allmählich verblassen und kleiner werden,
weil ihm viele andere Ereignisse, viele andere Schritte folgen
auf einem Weg, von dem Sie noch gar nicht wissen,
wohin er Sie führen wird.
Manche sehen schon den nächsten Schritt vor sich,
haben ihn bereits geplant und kennen genau die Wegstrecke,
die sie erwartet.
Andere sind noch unschlüssig,
wissen noch nicht so genau, wo es hingehen soll,
oder sind sich unsicher, welchen Weg sie einschlagen sollen.
Was auch immer die nächsten Schritte sein werden:
Sie werden sie allein gehen.
Die Schulzeit haben die meisten von Ihnen im Schoß der Familie verbracht. Das war für alle Seiten ganz schön anstrengend, manchmal haben Sie oder Ihre Eltern sich gewünscht, ganz weit weg zu sein. Und zugleich waren Ihr Zuhause, Ihre Eltern und Geschwister für Sie da, waren eine verlässliche Basis, die Ihnen Halt und Rückhalt gab für die Prüfungen, die Sie bestehen mussten.
Die nächsten Schritte auf Ihrem Lebensweg werden Sie von zuhause weg führen. Sie werden weiterhin mit Ihrem Zuhause, Ihrer Familie verbunden bleiben, aber der Abstand wird sich vergrößern.
Das ist aufregend, das hat den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Aber manchmal ist es auch beängstigend, wenn man auf sich allein gestellt ist und allein Entscheidungen treffen muss. Manchmal ist es auch richtig hart, allein zu sein, Prüfungen ohne die bequeme und hilfreiche Basis des Zuhauses, ohne den direkten Rückhalt von Eltern und Geschwistern ablegen und bestehen zu müssen.
III
Das Leben hält noch einige Prüfungen für Sie bereit.Nur wenige sind so groß und aufwändig wie das Abitur.
Aber das heißt nicht, dass die anderen Prüfungen leichter wären,
vor allem nicht leichter zu ertragen.
Ein Unfall, eine Krankheit kann eine schwere Prüfung sein.
Das Ende einer Freundschaft, einer Beziehung.
Der Tod eines Menschen, den man sehr gern hatte.
Eine Entscheidung, die sich als falsch herausstellt.
So gesehen, war das Abitur erst der Anfang einer nicht enden wollenden Kette von Aufgaben und Prüfungen, die das Leben für Sie bereit hält, und die es zu bestehen gilt.
Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied dieser Prüfungen des Lebens zum Abitur:
Das Abitur hat einen Sinn und ein Ziel.
Man kann darüber streiten, ob es der richtige Weg ist,
die Eignung eines Menschen zum Studium festzustellen,
und vielleicht wird es einmal von einer besseren,
adäquateren Form abgelöst.
Aber das Ziel des Abiturs ist es,
Ihnen die Möglichkeit zum Studium zu geben.
Die Prüfungen, die einem das Leben auferlegt,
haben dagegen keinen Sinn.
Es ist sinnlos, dass Menschen leiden müssen
- aus welchem Grund auch immer.
Es ist ungerecht, wenn jemand krank wird,
wenn ein lieber Mensch stirbt.
IV
Und noch etwas ist wichtig:Gott prüft nicht.
Gott legt uns Menschen keine Prüfungen auf,
um unseren Glauben zu testen oder unser Vertrauen zu ihm.
Es liegt kein höherer Wille hinter den Schicksalsschlägen,
die wir erleiden müssen - kein göttlicher Wille, der zu groß ist,
als dass wir kleinen Menschen ihn erkennen könnten.
Und es gibt keinen Masterplan für unser Leben.
Welche Schritte wir gehen, wie wir uns entscheiden werden,
ist nicht vorherbestimmt - dann wären wir nur Marionetten.
Was wir aus unserem Leben machen
und wohin uns unser Lebensweg führen wird
ist unsere eigene, freie Entscheidung.
Deshalb ist sie so schwer,
die Entscheidung über den nächsten Schritt.
Aber es heißt doch in dem Text aus dem 2. Buch Mose,
den Sie für diesen Gottesdienst ausgesucht haben:
"Siehe, ich sende einen Engel vor dir her,
der dich behüte auf dem Wege
und dich bringe an den Ort, den ich bestimmt habe".
Ist da nicht von Vorbestimmung die Rede?
Hat Gott nicht einen Plan für unser Leben?
Ich glaube schon, dass Gott einen Plan für uns hat.
Ich glaube, dass Gott Gutes für uns und unser Leben will,
ich glaube er möchte, dass wir glücklich sind.
Und er hat uns auch gezeigt, wie wir es anstellen können,
ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.
Es ist ganz einfach - zu einfach,
und deshalb so höllisch schwer.
Es liegt beschlossen in diesem einen Wort,
über das Lord Voldemort sich bei Harry Potter so lustig macht,
das er nicht versteht und zugleich fürchtet:
es ist die Liebe.
Es ist dieser eine Satz:
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
V
Abitur, nicht nur die Lateiner unter Ihnen wissen es, bedeutet: weggehen.Mit dem Abitur haben Sie zugleich den ersten Schritt aus Ihrem Elternhaus gemacht. Sie haben die Schule und die Schulzeit hinter sich gelassen und damit endgültig Ihre Kindheit.
Wohin wird Sie Ihr Weg führen?
Zu welchem Ziel sind Sie unterwegs?
Es klingt wie eine abgedroschene Phrase, aber:
der Weg ist das Ziel.
Denn ganz gleich, welchen Weg Sie einschlagen werden
und zu welchem Ziel Sie unterwegs sind:
entscheidend ist nicht, was Sie erreichen,
sondern was für ein Mensch Sie werden
und wie Sie sich Ihren Mitmenschen gegenüber verhalten.
Am Ende werden nicht die Titel und Erfolge,
das Einkommen und der Besitz zählen,
sondern die Liebe, die Sie gaben und empfingen,
die Menschen, die Sie Freunde nennen können.
Gott wird Sie auf Ihrem Weg begleiten.
Sein Segen wird Ihnen Kraft geben,
wenn Sie die Prüfungen zu bestehen haben,
die Ihnen das Leben auferlegt.
Sein Segen wird Ihnen den Mut geben für den nächsten Schritt
- auch für notwendige Schritte auf andere Menschen zu,
für das Eingeständnis von Schuld und für Worte der Vergebung.
Und sein Segen wird Ihnen die Hoffnung geben,
dass Ihr Leben, ganz gleich, welchen Verlauf es nehmen wird,
zu einem guten und glücklichen Ziel führen wird.
Gott segne Sie auf Ihrem Weg.
Amen.