Sonntag, 8. Juli 2012

Völkerbund und Abrahams Kinder


Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 8. Juli 2012, über Gen 12,1-4a.


Liebe Gemeinde,

unter Geschwistern gibt es manchmal Streit. Das ist völlig normal. Streit gehört dazu, wenn Geschwister zusammenleben - so lange er die Ausnahme bleibt und nicht zur Regel wird.

Die Menschen und Völker leben als Geschwister miteinander auf dieser Erde. Aber dass man andere Menschen, mit denen man nicht verwandt ist, und andere Völker und Nationen, die ganz anders sind als die eigene, als Geschwister ansieht, ist keineswegs selbstverständlich. Noch weniger selbstverständlich ist es, dass Völker ihre Streitigkeiten geschwisterlich lösen und beilegen.

I
Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde der Völkerbund gegründet. Die Erfahrung eines Krieges, der nahezu die ganze Welt in einen Abgrund von Tod und Zerstörung gerissen hatte, weckte den Willen, dass so ein Krieg nie wieder ausbrechen dürfe. Es müsse doch möglich sein, dass die Völker auf friedlichem Wege zu einer Einigung und zu einem Ausgleich ihrer Interessen kommen können.

Blickt man auf die lange Geschichte der Menschheit zurück, dann ist es erschütternd, dass erst in der jüngsten Zeit, vor noch nicht einmal einhundert Jahren, die Idee aufkam, dass man Konflikte zwischen den Völkern auch durch Verhandlungen lösen könnte, statt sich gleich die Köpfe einzuschlagen.
Der Gedanke, dass die Völker in Frieden miteinander leben könnten und sich nicht ständig bekriegen müssten, ist nicht sehr viel älter: 1795, also vor gut 200 Jahren, wurde er zum ersten Mal vom Philosophen Immanuel Kant in seinem Buch "Zum ewigen Frieden" ausgesprochen.

Der Völkerbund hat sein Ziel nicht erreichen, er hat den zweiten, noch schrecklicheren Weltkrieg nicht verhindern können. Nach diesem Zweiten Weltkrieg löste er sich auf. An seine Stelle trat die UNO, die seither versucht, zwischen den Völkern zu vermitteln. Auch sie hat Kriege nicht verhindern können, obwohl sie selbst Friedenstruppen entsendet. Aber die Blauhelmsoldaten sahen den Kampfhandlungen meist tatenlos zu. Diese Unfähigkeit zum Eingreifen hatte schreckliche Folgen, wie die Massaker von Srebrenicza und Ruanda.

Offenbar ist es alles andere als selbstverständlich, dass Völker ihre Konflikte ohne Gewalt beilegen. Und es scheint, dass selbst der Gedanke, es einmal ohne Krieg zu versuchen, nicht allzu naheliegend ist. Dabei ist nicht erst Immanuel Kant auf die Idee gekommen, dass es friedlich zugehen könnte und müsste zwischen den Nationen. Bereits die Bibel denkt sich verschiedene Völker als Geschwister, die zu einer Familie gehören. Und schon das erste Buch der Bibel malt sich ein segensreiches Miteinander dieser Völker aus.
So heißt es im Predigttext für den heutigen Sonntag:

"Gott sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie Gott zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm."

II
Der Predigttext spricht vom Segen, der von Abram und seinen Nachkommen aus- und von ihm auf alle Völker der Erde übergeht. Ggleich am Anfang der Bibel wird ein segensreiches Miteinander aller Menschen vorgestellt. "In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden" - dieser Satz ruft Vorstellungen von Wachstum, Glück, Entwicklung und Entfaltung hervor - all das, was man mit "Segen" verbinden kann. Was immer wieder Anlass für Kriege war - der Streit um Handelswege, um Bodenschätze, um Wasser, um Einfluss -, das wird durch den Segen Abrams gerecht auf alle Nationen der Welt verteilt.

Dieser Segen Abrams geht von Gott aus - von Gott, der die Menschen schuf und dann über ihre Bosheit verzweifelte. Und der trotzdem nach der Sintflut versprach: "Siehe, ich richte mit euch einen Bund auf und mit euren Nachkommen. Meinen Bogen habe ich in die Wolken gesetzt; der soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und der Erde." (Gen 9,8-17) Das ist der allererste "Völkerbund": der Bund Gottes, den er mit allen Menschen auf der Erde schließt, bedingungslos. Gott nimmt alle Menschen an, ganz gleich, wer sie sind, ob sie an ihn glauben oder nicht.

Und nun geht Gott noch einen Schritt weiter: Nachdem er den "Völkerbund" mit Noah geschlossen hat, in dem er verspricht, alle Menschen anzunehmen, so, wie sie sind, verspricht er ihnen durch Abram den Segen - Wachstum, Glück, Entwicklung und Entfaltung: "in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden".
Wer ist dieser Abram, und wie soll man sich vorstellen, dass in ihm alle Völker gesegnet werden?

III
Vielleicht sind Sie stutzig geworden, dass im Predigttext von "Abram" die Rede ist. Heißt er nicht "Abraham"? Tatsächlich ändert Gott selbst den Namen von Abram zu Abraham, was "Vater vieler Völker" heißt (Gen 17,5). Abrams neuer Name wird Programm - das Programm des Völkerbundes und -segens, das sich schon in unserem Predigttext ankündigt.

Abraham ist der Großvater Jakobs, der später ebenfalls einen neuen Namen bekommt: Er wird zu Israel, und seine zwölf Söhne zu den Stammvätern der zwölf Stämme Israels. Abraham ist aber auch der Vater Ismaels, auf den sich der Prophet Mohammed und damit die Muslime zurückführen. Und schließlich ist Abraham auch für die Christen ein Stammvater, was den Glauben angeht. Judentum, Christentum und Islam berufen sich auf Abraham als ihrem Stammvater. Insofern ist Abraham wirklich der Vater vieler Völker geworden.

Aber diese drei Religionen haben immer wieder auch Anlass zu Kriegen gegeben - und geben ihn bis heute. Wenn Glaubensdinge auch nur als Vorwand für den Krieg dienen und die wahren Ursachen verschleiern und vertuschen sollen, so sind doch des Glaubens wegen über Jahrhunderte Kriege geführt worden. Gerade die Religionen, die sich auf Abraham berufen, haben es nicht geschafft, ihre Unterschiede und Streitigkeiten auf friedlichem Wege beizulegen. Sie haben sich bekämpft bis aufs Messer - und sind doch Geschwister und können ohne die anderen beiden Geschwister nicht sein.

IV
"In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden". Abraham wird zum Segen für alle Völker. Aber seine Kinder - die Religionen, die sich auf ihn beriefen, allen voran Christen und Muslime - waren alles andere als segensreich für die Welt. Sie brachten Krieg und Blutvergießen über andere Völker. Und sie verfolgten und ermordeten ihre eigenen Schwestern und Brüder, die Menschen jüdischen Glaubens.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde nicht nur die UNO gegründet, sondern auch der Staat Israel. Seine Gründung war umstritten, besonders in der arabischen Welt. Aber sie war zugleich ein Zeichen der Hoffnung, dass nach den Jahrhunderten der Verfolgung und Ächtung von Menschen jüdischen Glaubens endlich ein Staat existierte, in dem Juden zuhause sein könnten und nicht ausgegrenzt und stigmatisiert werden würden.

Der Staat Israel hat sich zu einem normalen Staat unter anderen Staaten entwickelt. Er ist nicht besser und nicht schlechter als die anderen. Seine Politiker machen Fehler wie andere auch, nur werden sie beim Staat Israel stärker beachtet, so, als müsse Israel ein Musterländle sein. Aber es ist nicht der Staat Israel, der die Verheißung an Abraham wahrmacht, es sind Abrahams Kinder, die Menschen jüdischen, christlichen oder muslimischen Glaubens.

Und dennoch entscheidet sich an unserem Verhältnis zum Staat Israel, ob wir unsere Abrahamskindschaft ernst nehmen oder mit Füßen treten. Als Abrahams Kinder sind wir unseren jüdischen Geschwistern zu Solidarität, Respekt und Liebe verpflichtet - ebenso wie unseren muslimischen Geschwistern gegenüber. Wenn es uns Abrahamskindern gelänge, diese Solidarität, diesen Respekt, diese Liebe gegenseitig aufzubringen und zu leben - dann wären wir dem Traum einer friedlichen Gemeinschaft der Völker einen riesigen Schritt näher gekommen. Dann wären durch uns tatsächlich alle Menschen und Völker auf dieser Erde gesegnet.

V
Frieden, so heißt es, beginnt im Kleinen: Im Miteinander unter den Menschen. Im Verzicht auf gewaltsame Lösung von Konflikten zuhause, in der Schule, am Arbeitsplatz. Gewalt geht dabei nicht nur von der zum Schlag erhobenen Hand aus; es gibt auch subtile Formen der Gewalt, die nicht weniger weh tun als ein Schlag mit der Faust.
Wo es uns gelingt, auf diese Gewalt zu verzichten, sie zu verhindern, da sind wir dem friedlichen Zusammenleben einen Schritt näher gekommen.

Frieden wird auch da entstehen, wo wir erkennen, dass unsere jüdischen und muslimischen Mitbürger unsere Geschwister sind - Abrahams Kinder, so wie wir. Wenn wir lernen, sie als Geschwister zu sehen und anzunehmen und uns ihnen gegenüber wie Schwestern und Brüder verhalten, denn wird sich Gottes Verheißung an Abraham tatsächlich erfüllen: Dann werden in ihm alle Völker der Erde gesegnet werden. Dann wird der Traum vom ewigen Frieden, den Immanuel Kant vor über 200 Jahren träumte, vielleicht wahr.