Freitag, 27. Juli 2012

Frei sein als Gottes Eigentum


Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis, 29. Juli 2012, über 1.Korinther 6,9-14.18-20:

Muss ich euch daran erinnern, dass die, die Unrecht tun, keinen Anteil am Reich Gottes bekommen werden, dem Erbe, das Gott für uns bereithält? Macht euch nichts vor: Keiner, der mit Prostituierten verkehrt oder sich selbst prostituiert, Götzen anbetet, die Ehe bricht, homosexuelle Beziehungen eingeht, stiehlt, geldgierig ist, trinkt, Verleumdungen verbreitet oder andere beraubt, wird an Gottes Reich teilhaben.
Auch ihr gehörtet zu denen, die so leben und sich so verhalten – zumindest einige von euch. Aber das ist Vergangenheit. Der Schmutz eurer Verfehlungen ist von euch abgewaschen, ihr gehört jetzt zu Gottes heiligem Volk, ihr seid von aller Schuld freigesprochen, und zwar durch den Namen von Jesus Christus, dem Herrn, und durch den Geist unseres Gottes.
»Alles ist mir erlaubt! « Wer so redet, dem antworte ich: Aber nicht alles, was mir erlaubt ist, ist auch gut für mich und für andere . – »Alles ist mir erlaubt! « Aber es darf nicht dahin kommen, dass ich mich von irgendetwas beherrschen lasse.
Ihr sagt: »Das Essen ist für den Magen da und der Magen für das Essen, und dem einen wie dem anderen wird Gott ein Ende bereiten. « Einverstanden, aber das heißt noch lange nicht, dass wir mit unserem Körper machen können, was wir wollen. Der Körper ist nicht für die Unmoral da, sondern für den Herrn, und der Herr ist für den Körper da und hat das Recht, über ihn zu verfügen. Und genauso, wie Gott den Herrn von den Toten auferweckt hat, wird er durch seine Macht auch uns vom Tod auferwecken und unseren Körper wieder lebendig machen.
Lasst euch unter keinen Umständen zu sexueller Unmoral verleiten! Was immer ein Mensch für Sünden begehen mag – bei keiner Sünde versündigt er sich so unmittelbar an seinem eigenen Körper wie bei sexueller Unmoral. Habt ihr denn vergessen, dass euer Körper ein Tempel des Heiligen Geistes ist? Der Geist, den Gott euch gegeben hat, wohnt in euch, und ihr gehört nicht mehr euch selbst. Gott hat euch als sein Eigentum erworben; denkt an den Preis, den er dafür gezahlt hat! Darum geht mit eurem Körper so um, dass es Gott Ehre macht!
(NGÜ)

Liebe Gemeinde,

ist Paulus ein Taliban?
Ist er ein religiöser Fanatiker,
wie sie gerade an vielen Orten der Welt
rigoros gegen in ihren Augen unmoralisches
und religiös verwerfliches Verhalten vorgehen?
In Afghanistan haben sie Buddhastatuen gesprengt;
in Timbuktu zerstören sie Gräber islamischer Heiliger;
Frauen müssen Kopftuch tragen
oder ihre Gestalt sogar unter einer Burka verstecken.
Frauen, die das nicht tun
und Paare, die sich öffentlich küssen,
verhalten sich nach Ansicht dieser religiösen Eiferer
im höchsten Maße sexuell unmoralisch
und müssen mit harter Bestrafung rechnen.

I
Ist Paulus ein Taliban?
Es könnte so scheinen.
Man könnte Paulus für einen Moralapostel halten.
Wen er nicht alles für sein Fehlverhalten tadelt:
jeden, der "mit Prostituierten verkehrt oder sich selbst prostituiert, 
Götzen anbetet, die Ehe bricht, homosexuelle Beziehungen eingeht, 
stiehlt, geldgierig ist, trinkt, Verleumdungen verbreitet oder andere beraubt".
Eine bunte Mischung ist das.
Paulus benennt hier alle Arten moralisch zweifelhaften Verhaltens.
Dazu gehören Dinge,
die heute längst nicht mehr als unmoralisch gelten
und das auch nicht sind,
wie homosexuelle Beziehungen.
Und dazu gehören auch Dinge,
die viele heute nicht mehr so verbissen sehen wie weiland Paulus:
der Seitensprung, Alkoholkonsum,
Börsenspekulation oder einen Ladendiebstahl.

Was und wie Paulus hier kritisiert,
ist für heutige Ohren nicht leicht zu ertragen.
Zu viel Schlimmes wurde mit den Worten des Paulus angerichtet.
Von dem Befehl: "Hände über die Bettdecke!"
bis hin zur Ausgrenzung und Verurteilung von gleichgeschlechtlich
liebenden und lebenden Menschen,
die bis heute auch in der Kirche noch zu finden ist.
Paulus ist ein Kind seiner Zeit,
und teilt viele ihrer Maßstäbe.
Obwohl er die Freiheit eines Christenmenschen
für sich und andere entdeckt hat,
bekommt er es doch mit der Angst zu tun,
als er sieht, dass die Korinther ihn beim Wort nehmen.

Aber schreiben wir Paulus nicht gleich ab,
legen wir seine Einwände nicht gleich in die Mottenkiste.
Mag sein, dass unter der altbackenen Oberfläche
doch noch eine schöne Entdeckung zu machen ist.
Kratzen wir ein bisschen an der Oberfläche.
Dann sehen wir:
Paulus legt zwar den Finger auf in seinen Augen moralisch fragwürdiges Verhalten,
und zeigt mit dem Finger auf die Korinther:
"Auch ihr gehörtet zu denen, die so leben und sich so verhalten – zumindest einige von euch."
Aber dann schränkt er auch schon ein:
"das ist Vergangenheit".
Das falsche Verhalten ist abgewaschen.
Die Schuld ist vergeben.
Sie steht nicht mehr zwischen den Korinthern und Gott
und verhindert, dass sie an Gottes Reich teilhaben.

Man könnte jetzt spitzfindig sein und fragen,
ob die Korinther ihr Verhalten,
das Paulus kritisiert, tatsächlich aufgegeben haben -
oder ob es dadurch, dass sie von ihrer Schuld freigesprochen wurden,
einfach nur nicht mehr "zählt".
Darauf könnte jedenfalls hindeuten,
dass die Korinther behaupten:
"Alles ist erlaubt!".
Und Paulus ihnen nicht widerspricht,
sondern ihnen sogar bestätigt:
Ja, alles ist erlaubt. Aber - - -
aber nicht alles "frommt", übersetzt Martin Luther.
"Nicht alles, was mir erlaubt ist, ist auch gut für mich und für andere."

Diese Einschränkung der Freiheit eines Christenmenschen,
die ist das eigentlich Spannende an der Argumentation des Paulus.

II
Der Satz, auf den es ankommt, steht ziemlich genau in der Mitte:
"Der Körper ist nicht für die Unmoral da, sondern für den Herrn, 
und der Herr ist für den Körper da 
und hat das Recht, über ihn zu verfügen."
Paulus wertet den Körper nicht ab.
Es geht ihm nur um die "sexuelle Unmoral",
und hier müssen wir zunächst sehen, was er damit meint.
Alles unmoralische Verhalten,
das Paulus zu Beginn aufzählt,
hat gemeinsam, dass Menschen ihren Körper verkaufen;
dass sie sich zu Objekten machen - oder gemacht werden -,
die andere Menschen nach Lust und Laune gebrauchen können.
Alles, was damit zusammenhängt, heißt im Griechischen
"porneía".
Es ist hier etwas hilflos mit "sexueller Unmoral" wiedergegeben.
Gemeint ist aber das, was auch im Begriff "Porno" steckt:
Dass Menschen für Geld missbraucht werden.
Deshalb tauchen interessanterweise auch Diebstahl, Raub,
Alkoholismus und Geldgier in Paulus' Liste auf:
Auch hier werden Menschen für Geld missbraucht -
indem man ihnen um des Geldes willen Schaden zufügt.
Denn Alkohol- oder Drogenmissbrauch sind in erster Linie
ein gutes Geschäft für die, die Alkohol oder Drogen verkaufen.
Und durch die Spekulationen einiger weniger an der Börse
haben viele Menschen alles verloren, was sie hatten.

III
Paulus wehrt sich dagegen,
dass Menschen sich verkaufen.
Für Paulus ist jeder Mensch heilig.
Der erste Paragraph unseres Grundgesetzes
hat hier seine Wurzeln:
"Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Sie ist deshalb unantastbar,
weil jeder Mensch ein Kind Gottes ist,
weil wir Gott gehören
mit Leib und Seele, Haut und Haar.

Wenn Menschen meinen, andere Menschen kaufen zu können,
oder wenn Menschen sich selbst verkaufen,
geben sie nicht nur ihre Würde preis.
Sie leugnen damit auch, dass sie Gott gehören.
- Aber ist es nicht so?
Ist es nicht so, dass wir uns selbst gehören,
dass jede und jeder mit seinem oder ihrem Leben
tun und lassen kann, was sie oder er will?
Ist das nicht unsere große Freiheit?

Dass wir frei über unser Leben und unsern Köper bestimmen,
dass wir uns selbst gehören,
ist leider nur eine Illusion.
In unserer Gesellschaft, in der alles zur Ware werden kann,
in der alles käuflich ist,
werden nicht nur Dinge nach ihrem Wert beurteilt.
Auch Menschen.
Der Wert eines Menschen wird bemessen
an seinem wirtschaftlichen Leistungsvermögen
oder an seinen Kosten für die Kranken- und Rentenkassen;
nach dem Wert seiner Organe,
seiner Arbeit, seines Wissens.
In unserer Gesellschaft ist jeder Mensch käuflich;
es ist nur eine Frage des Preises.
Wir gehören schon lange nicht mehr uns selbst.
Durch die hohe Staatsverschuldung gehören
unser Haus, unsere Arbeitskraft und unsere Spareinlagen
längst den Banken.

IV
"Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", sagt Jesus
(Matthäus 6,24).
Damit benennt er das Dilemma, in dem wir uns befinden:
Wenn alles Ware, alles käuflich ist,
ist nichts mehr vom wirtschaftlichen Denken ausgenommen.
Es gibt keinen Freiraum mehr,
wo man einfach die oder der sein kann, die oder der man ist.
Immer geht es um Leistung, um Gewinn oder Verlust.
Immer geht es ums Geld,
darum, wer das bezahlen soll, und wer das bestellt hat.

"Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", sagt Jesus
und zeigt uns damit einen Ausweg aus der persönlichen Schuldenkrise.
Wenn wir nämlich ernst damit machen,
dass wir Gott gehören,
entziehen wir uns der Macht und dem Einfluss,
den das Geld über uns hat.
Wir entkommen nicht der Staatsverschuldung
und auch nicht unserem Wirtschaftssystem.
Aber wir müssen nicht mehr mitmachen.
Wir müssen uns nicht verkaufen.
Wir haben unsere Würde nämlich nicht durch Geld oder Besitz,
sondern von Gott.
Nicht durch unsere Leistung, unser Einkommen,
sondern weil Gott uns so annimmt und liebt, wie wir sind.

V
"Der Körper ist nicht für die Unmoral da, sondern für den Herrn, 
und der Herr ist für den Körper da 
und hat das Recht, über ihn zu verfügen."
Das wirklich Spannende an der Argumentation des Paulus ist,
dass er uns deutlich machen will:
Unser Körper gehört nicht uns, sondern Gott.
Aber gerade deshalb, und nur deshalb
können wir in aller Freiheit über uns und unseren Körper verfügen.
Gott hat ihn dem Kreislauf der Vermarktung entzogen
und uns zur kostenlosen Nutzung überlassen.

Das ist wahrscheinlich schwer vorstellbar.
Vielleicht wird es einfacher, wenn man sich daran erinnert,
wie es war, als Kind im Elternhaus zu leben:
Da gehörte einem nichts - das Haus gehörte den Eltern,
alle Möbel, alles Geschirr, Kleidung, Essen, Auto, Fahrrad.
Und trotzdem konnte man über alles verfügen.
Die Eltern fuhren einen mit dem Auto, wohin man wollte.
Haus und Garten konnte man nutzen, wann und wie man Lust hatte.
Die Liebe der Eltern gilt ihren Kindern so, wie sie sind.
Zuhause sind sie vom Leistungsdruck,
von der Wirtschaftlichkeitsberechnung,
vom Kosten-Nutzen-Denken befreit.
Zuhause, das ist ein Freiraum,
in dem man sich tatsächlich noch selbst gehört
und sich seiner Freiheit innerhalb der Geborgenheit der Familie
- wenn sie denn eine heile Familie ist -
erfreuen darf.

"Keiner von uns lebt sich selber", schreibt Paulus,
"und keiner von uns stirbt sich selber.
Leben wir, so leben wir dem Herrn
und sterben wir, so sterben wir dem Herrn." (Römer 14,7-8)
Wir gehören Gott, mit Haut und Haar.
Das macht uns nicht zu Sklaven,
das macht uns allererst frei.
Denn es befreit uns von der Sorge um uns und unser Leben.
Gott sorgt dafür, dass unser Leben gelingt.
Gott sorgt dafür, dass wir "richtig" sind und gut,
dass wir schön sein, unser Leben und unseren Körper genießen können
unabhängig von dem, was andere schön finden,
ob sie uns unser Glück gönnen
oder mit unserer Art zu leben einverstanden sind.

Die Freiheit eines Christenmenschen liegt,
so widersprüchlich es klingen mag, darin,
dass wir mit Haut und Haar Gott gehören.
Wenn wir das begreifen,
kann uns nichts und niemand mehr zu einem Objekt degradieren.
Wenn wir das begreifen,
sind wir frei von allen Moralaposteln und Taliban,
die uns ihre Werte und Maßstäbe aufzwingen wollen.
Wenn wir das begreifen,
werden wir Achtung vor allem Leben empfinden
und niemanden zum Objekt
unserer Wünsche und Begierden machen,
weil wir wissen, dass der andere uns niemals gehören kann.
Er gehört ja bereits Gott und ist genauso frei wie wir.