Samstag, 21. Juli 2012

Wertewandel


Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 22. Juli 2012, über Philipper 2,1-4:

Wenn ihr der Meinung seid, es bedeute etwas,
dass man in Christus ermutigt,
dass man durch Liebe getröstet wird;
dass man im Geist verbunden ist,
dass es Herzlichkeit und Barmherzigkeit gibt:
dann macht meine Freude dadurch vollkommen,
indem ihr dasselbe vorhabt, die selbe Liebe habt,
einträchtig seid, das Eine im Sinn habt: den Vorsatz,
einander weder an Selbstsucht
noch an Geltungsbedürfnis zu übertreffen,
sondern an Demut,
indem jeder nicht auf das eigene Wohl achtet,
sondern vor allem auf das Wohlergehen der anderen.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Gemeinde,

als ich als Student zur Untermiete wohnte,
erzählte mir meine Vermieterin mit leuchtenden Augen,
wie sie früher mit den Nachbarn abends vor der Hautür gesessen habe;
wie sie damals miteinander gesungen oder erzählt hätten,
und wie traurig es sei, dass es das nun nicht mehr gäbe.

Auf meiner ersten Pfarrstelle hörte ich,
wie viel Leben es in dem Stadtteil gegeben habe,
als alle ihre Häuser bauten,
junge Familien dort lebten und praktisch jeden Tag etwas los war.
Die Kinder spielten miteinander auf der Straße;
Straßenfeste oder Partys im Gemeindehaus waren immer gut besucht.
Inzwischen sind die Kinder erwachsen geworden und ausgezogen,
der Stadtteil ist zur Schlafsiedlung geworden,
die Straßen sind gespenstisch leer.

Hier erzählen die Alten wehmütig
von den tollen Feiern, die es früher gegeben,
und was man damals alles angestellt hätte.
Wie viele Leute zu den Gemeindefesten gekommen
und wie toll die Stimmung gewesen wäre.
Die Alten werden immer weniger,
und die Jungen können nicht mehr so feiern wie sie
oder wollen es nicht.

Überall dasselbe Bild.
In den Vereinen, bei der Freiwilligen Feuerwehr,
bei den Parteien, in der Kirche:
überall gibt es Nachwuchsprobleme.
Kaum einer will noch mitmachen.
Keiner will sich mehr engagieren.

II
Über die Ursache herrscht Ratlosigkeit.
Ist das Fernsehen schuld,
dass die Leute abends lieber auf dem Sofa sitzen,
als vor die Haustür zu gehen,
in die Kneipe, oder in einen Verein?
Ist es der berufliche Stress,
der so groß ist, dass man sich zuhause erholen muss
und keine Kraft mehr hat für ehrenamtliches Engagement?
Oder ist es die Vereinzelung, die Individualisierung,
die Menschen zu Inseln werden lässt,
dass sie sich selbst genug sind,
dass sie keinen Austausch, keinen Kontakt mit anderen mehr brauchen?

Vielleicht spielt das alles eine Rolle,
und vielleicht gibt es noch mehr
und noch ganz andere Begründungen dafür,
dass Gemeinschaft und Geselligkeit,
Einsatz für andere oder für ein gemeinsames Projekt
nicht mehr gefragt sind.

Vielleicht muss man das Problem von hinten aufzäumen
und mit dem heutigen Predigttext danach fragen,
was es braucht, damit man sich für Gemeinschaft interessiert,
und Lust bekommt,
sich für andere oder für eine gemeinsame Sache einzusetzen.

III
Am Anfang steht die Frage, was einem etwas bedeutet.
Jeder Mensch könnte eine lange Liste von Dingen aufstellen,
die ihr oder ihm wichtig sind, ihr oder ihm etwas bedeuten.
"Freiheit" würde auf dieser Liste wohl ganz oben stehen.
"Ruhe" - und zwar sowohl die Abwesenheit von Lärm,
als auch die Abwesenheit von Anfragen und Anforderungen,
das in Ruhe gelassen Werden.
"Privatsphäre" ist sicher auch vielen wichtig,
"Urlaub" oder "Freizeit" stünden ganz oben.

Wie ist es mit "Ermutigung durch den Glauben",
"Trost durch die Liebe", "Verbundenheit im Geiste",
mit "Herzlichkeit" und "Barmherzigkeit"?
Wenn sie uns überhaupt etwas bedeuten,
wenn sie uns beim Erstellen unserer Liste
überhaupt eingefallen wären,
dann hätten sie sicher keinen Platz ganz oben bekommen.
Dabei sind sie etwas,
das jeder Mensch braucht und sucht:
Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl brauchen wir,
sogar ganz dringend.
Wir können nur dann einigermaßen glücklich sein,
wenn wir sie bekommen.
Aber sie sind uns nichts wert. Oder nicht viel.

IV
Irgendetwas hat sich da verändert.
Und wenn, dann hat sich diese Veränderung schleichend vollzogen,
von allen unbemerkt.
Es ist fast so wie mit den Grauen Herren bei Momo:
Sie rechnen den sorglos und gemütlich dahinlebenden Bürgern vor,
dass sie effizienter werden, ihre Zeit besser nutzten müssten.
Und nach und nach fangen alle an, ihr Leben umzustellen.
Sie haben plötzlich keine Zeit mehr,
vor allem keine Zeit mehr füreinander.

Kann es sein, dass auch wir Opfer Grauer Herren geworden sind?
Dass der Leistungsdruck, der schon im Kindergarten beginnt,
die immer größere Effizienz,
die einen Arbeitsplatz nach dem nächsten überflüssig macht,
und die gleichzeitig von uns einen immer größeren Einsatz
an Zeit und Kraft verlangt, unsere Werte verändert hat?

Ich habe als Kind noch unbeschwert gespielt,
ohne Gedanken um die Zukunft.
Statt Hausaufgaben zu machen,
habe ich lieber meine Zeit mit meinen Freunden verbracht.
Das gab zwar manchmal Ärger mit den Lehrern,
war aber nicht weiter schlimm.
Heute sitzten die Kinder nach der Schule
den ganzen Nachmittag am Schreibtisch
und verabreden sich nicht,
weil ihre Mitschüler auch alle am Schreibtisch sitzen.
Selbst, wenn sie wollten: Es ist niemand da,
mit dem sie Zeit verbringen könnten.

Und vielleicht ist das auch der Grund,
warum wir so wenig Zeit mit anderen verbringen:
weil wir gar keine Zeit mehr für Freunde haben
nach einem langen Arbeitstag
und nach all der Arbeit, die für die Familie erledigt werden muss,
vom Wäschewaschen und Putzen bis zur Steuererklärung.

V
Jeder Mensch braucht und sucht
Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl.
Manchmal findet man sie auch noch.
Zuerst in der Familie.
Die Familie muss all das wieder gut machen und ersetzen,
was die Gesellschaft nicht mehr leistet.
Hier wird nachgeholt und erklärt,
was in der Schule nicht verstanden wurde.
Hier wird getröstet und ermutigt.

Natürlich, werden Sie denken,
dazu ist eine Familie doch da!
Das stimmt sicher. Eine Familie ist auch dazu da.
Aber es belastet und überlastet eine Familie,
wenn alles von ihr abhängt.
Denn dann darf es keinen Streit geben,
dann müssen alle funktionieren,
niemand darf sich ausklinken,
niemand darf einmal nur an sich denken.

Die Familie ist zum Lückenbüßer geworden
und zum Alleinanbieter alles dessen,
was wir dringend zum Leben brauchen,
was wir aber gering schätzen,
weil wir es in der Familie umsonst bekommen.
Die Frage ist, wie lange eine Familie diese Belastung aushält.
Die Frage ist, wie lange wir die Belastung aushalten,
für Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl zu sorgen,
wenn wir es doch eigentlich selbst brauchen könnten.

VI
Was es also braucht,
damit man sich für Gemeinde, für Gemeinschaft interessiert
und Lust dazu bekommt, sich für andere einzusetzen?
Es braucht eine Veränderung der Werte.
Das, was wir dringend brauchen,
aber so gering schätzen,
das muss in unserer Liste nach oben wandern
und den Urlaub, die Ruhe, die Freizeit und die Privatsphäre
von ihren ersten Plätzen verdrängen.
Wir müssen erkennen,
wie wichtig Ermutigung, Trost, Eintracht,
freundliche Zuwendung und Mitgefühl
für uns und unser Leben sind.

Wer das für sich erkannt hat,
wird einsehen, dass auch andere dieses Bedürfnis haben,
und wird seine Mitmenschen anders ansehen.
Er wird nicht zuerst auf das eigene Wohl achten,
sondern vor allem auf das Wohlergehen der anderen.
Dadurch passiert etwas Unglaubliches:
Wenn man zuerst an seine Mitmenschen denkt
und nicht zuerst an sich,
dann erlebt man eine viel größere Zuwendung
als jemals zuvor.
Es entsteht ein Schneeballeffekt:
die Mitmenschen interssieren sich ja im Gegenzug
auch zuerst für mich,
viele Menschen wenden sich mir zu, nehmen mich wahr,
freuen sich über meine Erfolge und teilen meinen Kummer.

VII
Ein kleiner Schritt, den Paulus "Demut" nennt
und der allein darin besteht,
dass man davon ausgeht,
dass die Mitmenschen dasselbe nötig haben wie man selbst
und sich darüber freuen würden,
wenn man es ihnen geben würde
- dieser kleine Schritt kann eine riesige Veränderung auslösen.
Er kann die Inseln, die wir Individuen geworden sind,
zu einem großen Kontinent verbinden,
der allen, die darauf leben,
eine viel größere Weite und Freiheit schenkt,
als sie je zuvor besessen haben.
Dieser Kontinent heißt "Gemeinde"
oder auch "Jesus Christus".
Lassen Sie uns gemeinsam diesen neuen Kontinent entdecken!
Amen.